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Ein Tagebuch der Krankheit

Der Sohn der 2004 gestorbenen amerikanischen Schriftstellerin Susan Sontag, David Rieff, beschreibt in seinem nun erschienen Buch die Zeit vor dem Tod seiner Mutter. Auch Schuldgefühle lässt er dabei nicht außen vor.

Von Martin Lüdke | 28.04.2009
    "Im Tal des Jammers breite deine Flügel aus." Ein Bild des Todes? Nein, im Gegenteil, die Reaktion einer lebenden jungen Frau auf ihre Sterblichkeit. Dieser Vers stammt aus den früheren Tagebüchern von Susan Sontag, die in diesen Tagen, von David Rieff, ihrem Sohn herausgegeben, in Amerika erstmals veröffentlicht worden sind.

    Vorausgeschickt hatte Rieff seine eigene Reaktion auf den Tod seiner Mutter. Ein Buch vom Sterben, von der Trauer und der Ratlosigkeit, das Dokument vom "Tod einer Untröstlichen".

    Im März 2004 wurde ihr das Todesurteil verkündet, unwiderruflich, ohne den geringsten Hoffnungsschimmer zu belassen. Zweimal zuvor war es Susan Sontag gelungen, allen Prognosen zum Trotz, dem Tod zu entgehen. "Statistisch gesehen", so ein Arzt, "hätte sie sterben müssen. Aber sie tat es nicht. Sie stand am hinteren Ende der Kurve."
    Jetzt gab es für sie keine Chance mehr.

    Nach Abschluss seiner Untersuchungen – Blutbild und Knochenmarksbiopsie – hatte der Arzt die Diagnose gestellt: Myelodysplastisches Syndrom, MDS. Das ist die schlimmste, unheilbare, ja mit Sicherheit tödliche Form des Blutkrebses.

    "MDS sei durch eine 'refraktäre Anämie' gekennzeichnet. Die Stammzellen, die das Knochenmark meiner Mutter produziere, entwickelten sich nicht mehr zu reifen Blutkörperchen, sondern nur noch zu 'Blasten', unreifen Blutkörperchen, die ihre normale Funktion nicht erfüllen könnten."

    Es gäbe zwar, erklärte der Arzt weiter, einige "Palliativmittel", mit denen sich in manchen Fällen die "Lebensqualität" verbessern lasse, zudem ein Medikament, das zu einer "zeitweiligen Remission" führen könne, nie länger als sechs Monate, und auch die Möglichkeit einer Knochenmarktransplantation, die allerdings mit fortschreitendem Alter immer geringeren Erfolg verspreche. Zum Zeitpunkt dieser Diagnose war Susan Sontag bereits 71 Jahre alt.

    "Was Sie mir da sagen, heißt also, sagte sie schließlich mit einer bissigen Bedächtigkeit, die mir auch in der Erinnerung noch den Atem verschlägt, dass man tatsächlich nichts tun kann. Nach einer Pause fügte sie hinzu: Dass ich nichts tun kann."
    Im gleichen Jahr noch, gute zwei Wochen vor ihrem 72. Geburtstag, am 28. Dezember 2004, starb Susan Sontag in einem New Yorker Krankenhaus, im Beisein ihres Sohnes und eines befreundeten (und behandelnden) Arztes. Sie hatte gekämpft, bis zum Ende.
    Nichts hatte geholfen, auch nicht die Knochenmarktransplantation. Wider besseres Wissen hatte sie nie aufgegeben. Nicht mehr um ihr Leben zu retten, kämpfte sie zum Schluss, sondern nur noch darum, es um jeden Preis zu verlängern, und sei wie einst Madame du Barry, die auf dem Schafott ihren Henker anflehte, nur um eine Minute herauszuschlagen. Deshalb behauptet ihr Sohn, ersichtlich zu Recht: "wir sterben so wie wir leben."
    In einem ihrer früheren Tagebücher, in der Zeit der Chemotherapie nach ihrer Brustkrebsoperation 1975, hatte Susan Sontag sich noch selbst ermahnt, "fröhlich zu sein, gefasst zu sein, ruhig zu sein". Ihr Tod, fügt jetzt der Sohn lapidar hinzu, "war nicht von dieser Art." Dazu zitiert er den bereits erwähnten Vers seiner Mutter, den er für "das Beste" hält, "was sich über die Sterblichkeit sagen lässt": "Im Tal des Jammers breite deine Flügel aus."

    Mit diesem Satz endet sein Buch. Es ist Bekenntnis und Protokoll zugleich, Zeugnis einer langen, gründlichen und auch schonungslosen Reflexion über das Geschehene, das heißt vor allem über das Unbegreifliche des Todes. Und es ist der Versuch, mit etwas fertig zu werden, was kein Ende kennt, etwas, das zu keinem Abschluss gebracht werden kann: das Nachdenken über den Tod, das auf jedes religiöse Trostpflästerchen verzichtet und ebenso auf allen esoterischen Firlefanz. Mit bitterer Ironie verbat sich Susan Sontag alle solche Trostversuche.

    David Rieff bekennt, gleich eingangs, dass sein Verhältnis zu seiner Mutter nie einfach gewesen sei. Wie gerne, meint er im Nachhinein, hätte er seine Mutter einmal in die Arme genommen. "Aber wir neigten beide nicht dazu, uns unsere Gefühle füreinander durch körperliche Berührungen zu zeigen." Auch in diesem Sinne wird sein Buch zu einem Dokument nachgetragener Liebe, und zugleich der Schuldgefühle und Selbstzweifel. War es richtig, fragt er sich immer wieder, die Mutter in ihrem hoffnungslosen Kampf noch zu unterstützen? Kann man, darf man den Tod, konsequent wie wohl nur Elias Canetti vor ihr, einfach leugnen? Welche Verpflichtungen nimmt ein Sohn auf sich?

    Susan Sontag hatte 1950, mit 17 Jahren, an der Universität von Chicago (als Studentin von Leo Strauss) den Soziologen Philip Rieff kennengelernt und gleich darauf geheiratet. 1952 wurde ihr einziger Sohn David geboren (,der später als politischer Schriftsteller und Journalist, unter anderem für die New York Times, eine eigene Karriere gemacht hat). Die Ehe hielt nicht lange. Später lebte Susan Sontag vor allem in lesbischen Beziehungen, viele Jahre mit der Fotografin Annie Leibovitz, der Rieff jetzt heftige Vorwürfe macht. Ihre "poppigen Bilder vom Tod einer Prominenten" hätten seine Mutter "posthum" noch "erniedrigt".
    David Rieff hat diese Mutter sicher ein Leben lang bewundert. Damit stand er nicht allein.

    Mit dreißig Jahren hatte sie ihren ersten Roman, "Der Wohltäter", veröffentlicht. Und direkt darauf die Essays ("Camp" und "Against Interpretation", 1964 und 1966), mit denen sie weltweit berühmt geworden ist. Sie galt in Amerika als die führende Stimme unter den Intellektuellen, vergleichbar dem, was Enzensberger hierzulande einmal bedeutet hat. Rieff beschreibt auch den Preis, den Susan Sontag für ihr Werk bezahlen musste: das versäumte Leben.

    Immer stand das Werk im Vordergrund. "Zukunft ist alles" – das hieß für sie, alles das, was noch zu schreiben war. Glück war für sie vor allem eine begriffliche Vorstellung.

    Auf der Krebsstation hatte Rieff lernen müssen, "dass Wirklichkeit und Hoffnungslosigkeit oft ein und dasselbe sind." Und bei all dem Nachdenken über Leben und Tod ist ihm klar geworden: "Die Bedeutungslosigkeit des Menschen ist mindestens ein genauso großes Rätsel wie seine Existenz." Diese Einsicht mag schwer zu akzeptieren sein, zu bestreiten ist sie nicht. Selbst vom Nachleben des Toten profitieren ja allenfalls die (Über-) Lebenden. Wer früher stirbt, ist länger tot, so lautete einst ein Sponti-Spruch. Aus diesem Paradox hat David Rieff eine bestechende Konsequenz gezogen. Zusammen mit seiner toten Mutter ist er noch einmal nach Paris geflogen. Er saß am Fenster. Sie lag im Gepäckraum. Auf dem Friedhof Montparnasse hat er sie beerdigen lassen, ganz in der Nähe von Simone de Beauvoir und Sartre, von Baudelaire und Beckett.
    Wenn David Rieff heute gelegentlich das Grab seiner Mutter besucht, weiß er zwar nicht mehr, was er dort noch soll. Doch er freut sich an den kleinen Steinen, die andere Besucher auf ihr Grab gelegt haben.

    David Rieff: Tod einer Untröstlichen. Die letzten Tage von Susan Sontag. A. d. Engl. v. Reinhard Kaiser. Hanser Verlag 2009, 160 S., 17,90 Euro