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Tatiana Salem Levy: „Vista Chinesa“
Ein Trauma, das nie vergeht

Eine junge Architektin wird beim Joggen überfallen und vergewaltigt. Viele Jahre später verschafft sie sich schreibend Klarheit darüber, was es heißt, mit einem Trauma zu leben. Tatiana Salem Levy drückt in "Vista Chinesa" mithilfe von Sprache aus, was nicht auszuhalten ist.

Von Carsten Hueck | 04.03.2022
Tatiana Salem Levy und ihr Roman "Vista Chinesa"
Tatiana Salem Levy und ihr Roman "Vista Chinesa" (Foto: (c) Julia Seloti, Buchcover: Secession Verlag)
Ein Schwarzweißfoto auf dem Umschlag des Buches und noch einmal innen nach dem Titel. Aufgenommen, als läge man auf dem Rücken und würde nach oben schauen. Baumwipfel, man sieht steil die Stämme aufragen, erkennt die Laubkronen vor hellem Hintergrund, den Himmel oder das Nichts. Das Foto leitet auch die beiden Kapitel des Romans von Tatiana Salem Levy ein, nun aber durchzogen von einem weißen Querbalken, als sei etwas aus dem Foto herausgeschnitten worden. Diese wohlüberlegte Gestaltung des ersten ins Deutsche übersetzten Romans Levys, einer der bekanntesten brasilianischen Gegenwartsautorinnen, steht im direkten Zusammenhang mit seinem Inhalt:
Es geht um die Rekonstruktion eines Bildes, um das Schrumpfen einer Perspektive auf einen Ausschnitt, den Verlust von Weite und Aussicht und Farbe. Um die klare, scharfe Reduktion auf einen Moment, der bleibt für ewig.
„Auf einmal weitete sich der Regenwald, ich erblickte eine Lichtung. Bevor ich irgendetwas denken konnte, schleuderte er mich auf den Boden, ich landetet auf dem Bauch und drehte mich reflexartig um, blickte nach oben, so viele dichtbelaubte Bäume, so viel Grün, so viel Braun, so viel Gelb, und vor mir er.“

Mit Worten fassen, was nicht auszuhalten ist

Was nun folgt und was auf den 124 Seiten überwiegend präsent ist, würde manch einen Verlag zu einer grellen Triggerwarnung veranlassen. Was in diesem Roman von einer Ich-Erzählerin beschrieben wird, ist ihre Vergewaltigung. Und der Versuch, danach ins Leben zurückzukehren, der bis zu einem gewissen Grad gelingt, aber auch scheitert. Die Vergewaltigung wird wieder und wieder erzählt, in immer neuer Form, und so hört sie den ganzen Roman über nicht auf.
Das ist das Großartige und das, was Literatur eben kann – mit Worten fassen, was nicht auszuhalten ist. Tatiana Salem Levy gibt denjenigen eine Stimme, die sonst stumm bleiben, die stottern oder zerbrechen, die reden wollen, aber niemand finden, der sie versteht. Die zweifeln, was überhaupt mitteilbar ist. In „Vista Chinesa“ wird eine schmerzhafte und zutiefst verstörende Geschichte konkret. Aber sie wird behutsam, mit großer Einfühlsamkeit, erzählt und macht die Leser zu Mitfühlenden.

Überfall beim Joggen

Ich-Erzählerin ist Julia, eine junge Architektin. Sie wohnt am Rand von Rio de Janeiro. Im Rahmen der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft ist sie mit einem Bauprojekt betraut und vor einem Termin im Rathaus will sie noch schnell joggen. Ihre Laufstrecke führt vorbei an Wasserfällen durch den Nationalpark Tijuca, hinauf zum Aussichtspunkt Vista Chinesa. Man sieht Rio, wie es sich bis zum Meer hinzieht, man sieht den Regenwald und die Christus Statue auf dem Berg Corcovado.
Alles geht plötzlich ganz schnell: ein Mann reißt Julia von dem asphaltierten Weg, hält ihr einen Revolver an den Kopf und zwingt sie, mit ihm immer tiefer ins Dickicht zu laufen. Dann dehnt sich die Zeit.
„Die zwischen den Bäumen verschwindende Sonne, die Drohungen, das Geräusch der Schritte im Regenwald, all das verschwamm und verlor seine Form, und ich sah nur noch diese Handschuhe. Der Rest sind verwischte Bilder. Später sehe ich noch andere Dinge. Sehe Teile, Fragmente dieses Augenblicks: eine Lichtung ein Gürtel ein Schlag mein Hals Blätter am Himmel ein Mund in Bewegung eine Zunge Schuhe eine nackte Brust ein Schlag ein Gürtel vom Himmel fallende Blätter noch ein Fausthieb das Bedürfnis mich zu übergeben die Details eines Gesichts ein sich verformendes Gesicht.“

Ein Trauma, das nicht vergeht

Julia überlebt die Vergewaltigung, der Täter entkommt. In Zuge der polizeilichen Ermittlungen wird die junge Frau immer wieder mit Fragen der Beamten und mit Verdächtigen konfrontiert. Sie ist unsicher, scheut sich jemanden zu belasten, der vielleicht in ihrem Fall unschuldig ist. Und eines Tages untersagt sie die Weiterführung der Ermittlungen. Sie will nicht mehr mit dem, was ihr passiert ist, konfrontiert werden. Sie will vergessen, sie will ihr Leben zurückhaben.
Jahre später, sie ist verheiratet und hat zwei Kinder, setzt sie sich an einen Tisch und schreibt ihren Kindern einen Brief, von dem sie hofft, dass diese ihn nie lesen mögen. Dieser Brief ist der Roman, das berührende Protokoll eines Traumas.
„Vista Chinesa“ ist ein schmales Buch, ein umwerfendes Stück Literatur und auch ein Gesellschaftsbild. Intimes wird hier öffentlich und das Persönliche politisch. Es geht der Autorin um mehr als eine Frau. Tatiana Salem Levy stellt die Frage auch nach dem Zustand einer Gesellschaft, in der im Jahr 2020 nach offiziellen Angaben in Brasilien täglich 126 Frauen vergewaltigt wurden.
Tatiana Salem Levy: „Vista Chinesa“
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis
Secession Verlag, Zürich.
127 Seiten, 22 Euro.