"1971 war die beste und die schrecklichste Zeit. Eine traurige Zeit, weil einer der schlimmsten Genozide des zwanzigsten Jahrhunderts in unserem friedlichen Land stattfand. Die pakistanische Armee und ihre lokalen Kollaborateure – die Razakars und Al Badr – haben drei Millionen Menschen getötet. Aber es war auch eine glorreiche Zeit: Indem die Menschen in diesem Land eine skrupellose professionelle Armee besiegt haben, erkämpften sie sich ihre Unabhängigkeit."
Ein Video über die Geschichte Bangladeshs aus dem "Liberation War Museum", dem "Museum des Befreiungskrieges" in der Hauptstadt Dhaka. Eine idyllische alte Villa unter großen Bäumen mitten im Zentrum der 15-Millionen-Metropole, in der die Schrecken dieses fast vergessenen Völkermordes in Form von Fotos, Dokumenten und Gegenständen wieder lebendig werden. Einer der Gründer, der Verleger und Publizist Mofidul Hoque, beschreibt seine Ziele:
"Eines unserer wichtigsten Ziele ist es, die junge Generation zu erreichen. Wir arbeiten intensiv mit den Schülern und versuchen, die Geschichte in einer authentisch dokumentierten Weise darzustellen. Wer die Tour durchs Museum macht, kann seine eigenen Schlüsse ziehen. Die früheren Machthaber haben der jungen Generation die Geschichte vorenthalten, sie haben sie verfälscht und die Lehrbücher umgeschrieben. Sie haben versucht, den Genozid zu verschleiern. So wurde die Ermordung der Intellektuellen in den Textbüchern ausgelassen. Der Befreiungskampf wurde als ein Konflikt zwischen Indien und Pakistan dargestellt, und die Grausamkeiten des pakistanischen Militärs wurden verharmlost."
Als die Engländer 1947 ihre alte Kolonie Britisch-Indien in die Unabhängigkeit entließen, schufen sie zwei Staaten mit unterschiedlichen Religionen: Indien mit einer mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung in der Mitte und westlich und östlich davon die beiden fast 2000 Kilometer voneinander entfernten Teile West- und Ostpakistan mit muslimischer Mehrheit. Der östliche bengalische Teil musste die im Westen gebräuchliche Sprache Urdu als Staatssprache übernehmen, obwohl er eine größere Bevölkerung aufwies als der andere Teil. Ostpakistan wurde von Westpakistan wie eine Kolonie behandelt.
Die ihrer Kultur sehr bewussten Bengalen revoltierten schon in den 50er-Jahren gegen die Fremdherrschaft der westpakistanischen Regierung und errangen 1970 mit der Awami-Liga die absolute Mehrheit im gesamtpakistanischen Parlament. Nun hätte ihr Führer Sheikh Mujibur Rahman eigentlich Präsident werden müssen. Dies kam jedoch für den Militärdiktator Yahya Khan und die westpakistanische Opposition nicht in Frage. Unter dem Vorwand von Verhandlungen planten sie insgeheim einen Vernichtungskrieg gegen die Awami-Liga, die bengalische Elite und die Hindu-Minderheit, um ein für alle Mal ihre Vorherrschaft zu sichern. "Killing the Kafirs" – "Die Ermordung der Ungläubigen" sollte das geheime Leitmotiv der Soldaten werden. Die Bengalen hingegen fühlten sich um ihren Wahlsieg betrogen und protestierten. Die Hauptstadt stand unter Hochspannung. Auf einer Massenveranstaltung am 7. März 1971 erklärte der Vorsitzende der Awami-Liga Sheikh Mujib:
"Da wir schon soviel Blut vergossen haben, werden wir noch mehr Blut vergießen. Wir werden die Menschen dieses Landes befreien. Wir kämpfen jetzt für unsere Befreiung. Wir kämpfen jetzt für unsere Unabhängigkeit. Joy Bangla! Sieg für Bengalen!"
Universität Dhaka, Februar 1972: Zwei Monate nachdem die indische Armee gemeinsam mit den bengalischen Guerillakämpfern die pakistanischen Soldaten und ihre Kollaborateure in einem Blitzkrieg besiegt hatte. Aus Ostpakistan war die Volksrepublik Bangladesh geworden. Ein junger Mann, vielleicht 19 Jahre alt, beschreibt mit vor Zorn bebender Stimme, wie mitten in der Nacht zum 25. März 1971 allein in der Iqbal Hall 200 Studenten im Schlaf erschossen wurden. Mit Panzern waren die pakistanischen Soldaten auf den Campus vorgerückt und hatten Hunderte von Studenten und einige Professoren umgebracht. Sie wurden in einem rasch ausgehobenen Massengrab verscharrt. Bei Fahrten durch das kriegszerstörte Land sah man menschliche Schädel, Hüftknochen und Kleiderfetzen in den Straßengräben liegen, nachdem das Wasser, das diese menschlichen Überreste bedeckt hatte, verdunstet war. Inzwischen sind viele solcher "killing fields" entdeckt worden. Überall im Land wurden Denkmäler für die Helden des Befreiungskampfes errichtet. Aber die Angehörigen der zivilen Opfer warten bis heute auf Gerechtigkeit.
Im März dieses Jahres hat die Regierung von Bangladesh ein Tribunal einberufen, das die bengalischen Schuldigen am Genozid, an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, den Kriegs- und anderen völkerrechtswidrigen Verbrechen, wie es im Gesetz heißt, zur Rechenschaft ziehen soll. Zwei Monate davor wurden einige der Mörder des 1975 erschossenen ersten Präsidenten Bangladeshs, Sheikh Mujibur Rahman, mit dem Tode durch den Strang bestraft. Die Polizei war wegen möglicher Attentate in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden, es blieb jedoch ruhig. Auch heute droht die Oppositionspartei BNP, die dem politischen Lager der Täter nahesteht, mit heftigen Protesten. Denn die jetzige Premierministerin Sheikh Hasina ist die Tochter von Sheikh Mujib. Sie hat die Parlamentswahlen im Dezember 2008 mit dem Versprechen, ein Kriegsverbrechertribunal einzuberufen, mit absoluter Mehrheit gewonnen. Die ersten fünf Angeklagten des Tribunals sind führende Mitglieder der islamistischen Partei Jamaat-e-Islami, die bis vor Kurzem zusammen mit der BNP an der Regierung war. Man sagt dieser religiösen Partei Verbindungen zum Al-Kaida-Netzwerk nach.
Eigentlich neigen Bengalen nicht zur Gewalt. Sie haben seit Jahrhunderten als Muslime, Hindus, Buddhisten und Christen friedlich zusammengelebt. Man erlebt sie eher als heißblütige politische Disputanten, als Liebhaber romantischer Gedichte oder als gute, bisweilen korrupte Geschäftsleute, denn als fanatische Muslime. Aber ohne Zweifel haben die Erfahrung eines Völkermordes dieses Ausmaßes und die bis heute andauernde Straflosigkeit der Täter das politische Klima dieses Landes und die Psyche der Bevölkerung beeinflusst. Mofidul Hoque vom Museum für den Befreiungskampf, erklärt, warum es 39 Jahre gedauert hat, bis die Verantwortlichen für den Völkermord zur Rechenschaft gezogen werden:
"Einer der Gründe war, dass die pakistanischen Kriegsgefangenen, von denen 200 wegen Genozid angeklagt waren, im Rahmen eines regionalen Abkommens an Pakistan überstellt wurden, verbunden mit dem stillschweigenden Versprechen von Pakistan, sie wegen Völkermordes anzuklagen. Aber dieser Prozess hat nie stattgefunden. Für die Kollaborateure vor Ort wurde ein Kollaborateur-Gesetz verabschiedet. Viele von ihnen wurden wegen geringer Verbrechen oder Familien- und Dorffehden angeklagt. Als der Umgang mit diesem Gesetz für die Regierung zu schwierig geworden war, erließ Sheikh Mujib eine Amnestie, die jedoch nicht für schwerwiegende Verbrechen wie Mord, Brandschatzung und Raub galt. Danach wurde 1973 der "International Crimes (Tribunal) Act" erlassen, nach dem Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden müssen. Aber Bangladesh konnte diesen Prozess nicht führen, weil Sheikh Mujib zusammen mit seiner Familie 1975 ermordet wurde. Nun kamen diejenigen an die Macht, die mit den Pakistanern kollaboriert hatten, und führten ein diktatorisches Regime ein. Deshalb wurde uns für so viele Jahre die Gerechtigkeit vorenthalten."
Die Zahl der Toten, die in der Zeit von März bis Dezember 1971 umgekommen sind, schwankt zwischen einer Million und drei Millionen Menschen. 200.000 Frauen wurden vergewaltigt. Genaue Zahlen existieren nicht. Aber in jeder Familie des 150-Millionen-Volkes gibt es Opfer aus dieser Zeit. Außerdem wurden zehn Millionen Menschen – mehrheitlich Hindus – über die Grenze nach Indien vertrieben. Viele Tausende Dorfbewohner mussten zudem innerhalb des Landes fliehen, sie wurden ausgeraubt und ihre Häuser angezündet.
Die Aufarbeitung von Verbrechen dieses Ausmaßes wird sie nicht von Siegermächten wie im Fall der Nürnberger Prozesse erzwungen, braucht in der Regel Zeit. Die neuen Machthaber nach der Ermordung von Sheikh Mujib haben ihre Angst vor Rache und ihre Schuldgefühle gegenüber den Opfern mit religiösen Argumenten verbrämt: Man habe doch nur die Einheit Pakistans als islamischer Staat erhalten wollen. Mofidul Hoque:
"Sie haben die Verfassung geändert und eines der vier Prinzipien, den Säkularismus, ersetzt durch den Glauben an den Allmächtigen Allah. Und sie haben den religiösen Parteien, die vorher verboten waren, erlaubt, am politischen Prozess teilzunehmen. Überall haben sie die fundamentalistischen Kräfte unterstützt, die gegen die Grundprinzipien der Entstehung von Bangladesh, nämlich Demokratie, Säkularismus und Nationalismus waren."
Die Welt half tatkräftig beim Wiederaufbau von Bangladesh: Das Land erhielt mehr Entwicklungs- und humanitäre Hilfe als irgendein anderes Land. Aber niemand forderte Rechenschaft von den Tätern. Mofidul Hoque:
"Die Vereinten Nationen unternahmen absolut nichts was den Genozid betrifft. Das änderte sich erst nach dem Ende des Kalten Krieges in den frühen 90er-Jahren, als der jugoslawische Genozid im Herzen von Europa und der Genozid in Ruanda stattfanden und Kriegsverbrechertribunale eingesetzt wurden. Um über einen Völkermord zu verhandeln, bedarf es eines internationalen Konsenses, aber die UN waren geteilt in einen sozialistischen und einen westlichen Block. Inzwischen beobachten wir jedoch einen Wandel sowohl auf der internationalen als auch auf der nationalen Ebene. Nach der Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofs im Jahr 1998 wurde das Rom-Statut angenommen. Und jetzt werden kein Land und keine Gruppe, die einen Genozid begehen, mehr ungeschoren davonkommen. Diese Völkermordprozesse, insbesondere der Prozess in Kambodscha, haben unser Volk inspiriert."
Rückblende: November 1971 - erste Begegnung ausländischer Journalisten mit der Tragödie: Ein Flüchtlingslager auf einem ausgetrockneten Salzsee bei Kalkutta. Eine Million Menschen kampieren unter sengender Sonne, einige haben Schutz gesucht in Betonröhren, andere bereits ein Zelt ergattert. Latrinen gibt es zu wenige, es stinkt zum Himmel. Dantes Inferno muss ähnlich ausgesehen haben. Eine indische Ärztin und ein katholischer Priester versuchen, das Elend zumindest ein wenig zu lindern. Besucher des Flüchtlingslagers sind schockiert, betroffen und hilflos angesichts der ausgestreckten Arme halbverhungerter Kinder und der Blicke ausgemergelter alter Frauen, mit denen sie konfrontiert werden.
Die indische Regierung und viele freiwillige Helfer haben die meisten Flüchtlinge vorerst retten können. Aber kurz nach der Kapitulation der pakistanischen Armee wurden sie mit einem Lebensmittelpaket versehen zurückgeschickt auf den langen Fußmarsch in ihr zerstörtes Land, den die Schwächsten nicht überlebten. Dort fanden die Familien die Überreste ihrer abgebrannten Hütten vor, das Vieh war verendet, ihre Habseligkeiten geplündert und in vielen Fällen waren Angehörige nicht mehr am Leben. Aber immerhin lebten sie nun in einem unabhängigen Staat. Viele ihrer Söhne und Töchter hatten als Guerillakämpfer an der Befreiung mitgewirkt. Video "History of Bangladesh":
"Tausende Jugendliche in den Dörfern schlossen sich den Freiheitskämpfern an. Nachdem sie ein kurzes Training absolviert hatten, begannen erfolgreiche Operationen. Einige Gebiete innerhalb des Landes konnten befreit werden."
Nächtliche Gewehrschüsse sind auch noch nach dem Krieg zu hören. Überaus stolze junge Männer schildern ausländischen Journalisten ihre Kriegserlebnisse. Sie zeigen die Folterkammern innerhalb der pakistanischen Garnisonen mit den Blutspuren an Wänden und Fußböden. Ein Jüngling mit einer sanften Stimme beschreibt in allen Einzelheiten, wie nach dem Sieg gefangene Kollaborateure hingerichtet wurden. Was war wohl mit den Frauen geschehen, die in den Garnisonen als Sex-Sklavinnen gehalten wurden: Halbwüchsige Mädchen, die von pakistanischen Soldaten und ihren bengalischen Helfershelfern auf der Straße oder aus ihren Häusern abgeführt und zur Vergewaltigung in die Garnisonen verschleppt wurden?
Um es den weiblichen Opfern zu erleichtern, über ihre Erfahrungen zu reden, fordern Anwältinnen, an den anstehenden Ermittlungen des Tribunals beteiligt zu werden. Es gäbe genügend hochqualifizierte Juristinnen. Aber die Regierung hat ihre Nominierungsvorschläge bisher nicht berücksichtigt. Das siebenköpfige Anklageteam ist ausschließlich männlich besetzt.
Heute ist Bangladesh mit dem geschundenen aber befreiten Land von 1971 kaum mehr zu vergleichen. Zu jener Zeit hatten es viele im Westen schon beinahe abgeschrieben. Inzwischen ist der Prozentsatz der Menschen unterhalb der Armutsgrenze von damals 70 Prozent auf jetzt 40 Prozent gesunken, die Wirtschaft wächst um jährlich etwa sechs Prozent. Die Regierungschefin erhielt gerade am Rande der UN-Vollversammlung in New York eine Auszeichnung dafür, dass Bangladesh die Kindersterblichkeit seit 1990 um zwei Drittel verringert hat. Die Millenniumsziele der Vereinten Nationen, insbesondere die Halbierung der Hungernden bis 2015, wird das Land voraussichtlich erreichen. Auch der Augenschein gibt den Statistikern Recht: Man sieht heute kein Kind mehr mit aufgeblähtem Hungerbauch, und fast alle Kinder einschließlich der Mädchen gehen zur Schule. Der Ökonomieprofessor Abul Barkat kommt jedoch aufgrund von Feldforschungen zu einem anderen Ergebnis:
"Sehen Sie, die Prozentzahlen sind nicht so wichtig, bei der Armut kommt es vielmehr auf die Individuen an. Prozentual können es vor 30 Jahren 70 Prozent gewesen sein. 70 Prozent von damals 70 Millionen Einwohnern waren 49 Millionen, aber jetzt bedeuten 40 Prozent von heute 150 Millionen Einwohnern 60 Millionen arme Menschen. Deshalb bin ich mehr an den absoluten Zahlen als an Prozentsätzen interessiert. Außerdem hat Armut viele Facetten: schlechte Gesundheit und mangelnde Bildung, Korruption und fehlende Sicherheit. Was ist mit einer Familie mit zwei gebildeten aber arbeitslosen Mitgliedern? Und wie wirkt sich geistige Armut aus? Während laut offizieller Statistik die Armut abnimmt, nimmt der religiöse Fundamentalismus zu. Ich habe dazu geforscht: Der Grund für religiösen Fundamentalismus ist die Armut."
Nachdem Abul Barkat an der Universität von Dhaka einen öffentlichen Vortrag darüber gehalten hatte, wie die Islamisten mit einem Netz von Unternehmen, Schulen und Hilfsorganisationen eine eigene "Ökonomie in der Ökonomie" aufgebaut haben, die doppelt so schnell wächst wie die offizielle, erhielten er und seine Familie mehrfach Todesdrohungen per Telefon. Abul Barkat:
"20 Prozent ihrer Mittel werden für Politik ausgegeben. Und es gibt eine enge Beziehung zwischen ihnen und dem militanten Fundamentalismus. Aufgrund ihrer Effizienz und ihrer ideologischen Motivation versuchen sie, die Religion dazu zu benutzen, um die Macht im Staat zu übernehmen."
Ist die Gefahr einer Islamisierung des Landes wirklich so groß? Die erfahrene Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Sultana Kamal:
"Die Islamisierung nimmt zu. Unglücklicherweise wurde das von den vorigen Regierungen unterstützt. Eine Regierung ist ein Bündnis mit der Jamaat-e-Islami eingegangen, die eindeutig das Ziel verfolgt, Bangladesh zu islamisieren. Die meisten unserer Institutionen wurden nach diesem Modell umgestaltet. Aber andererseits bin ich fest davon überzeugt, dass die Menschen in Bangladesh nichts akzeptieren werden, was exzessiv oder extrem ist, insbesondere im religiösen Bereich, weil die Menschen hier an eine liberale Religion glauben.
Das Oberste Gericht hat die Verfassungsänderungen nach der Ermordung von Sheikh Mujibur Rahman, die den Säkularismus beseitigt und Militärputsche legalisiert hatten, inzwischen für ungültig erklärt. Die Ermittler des Kriegsverbrechertribunals sind einem der Hauptschuldigen des Genozids, dem ehemaligen Führer der Jamaat-e-Islami, Ghulam Azam, dicht auf den Fersen. Sie haben Massengräber und Gefängnisse in verschiedenen Landesteilen besichtigt und viele Zeugen befragt. Die Anklage steht kurz bevor. Die Behörden des Landes sind angewiesen, keine der auf einer Liste mutmaßlicher Kriegsverbrecher aufgeführten Personen außer Landes reisen zu lassen.
Ein Video über die Geschichte Bangladeshs aus dem "Liberation War Museum", dem "Museum des Befreiungskrieges" in der Hauptstadt Dhaka. Eine idyllische alte Villa unter großen Bäumen mitten im Zentrum der 15-Millionen-Metropole, in der die Schrecken dieses fast vergessenen Völkermordes in Form von Fotos, Dokumenten und Gegenständen wieder lebendig werden. Einer der Gründer, der Verleger und Publizist Mofidul Hoque, beschreibt seine Ziele:
"Eines unserer wichtigsten Ziele ist es, die junge Generation zu erreichen. Wir arbeiten intensiv mit den Schülern und versuchen, die Geschichte in einer authentisch dokumentierten Weise darzustellen. Wer die Tour durchs Museum macht, kann seine eigenen Schlüsse ziehen. Die früheren Machthaber haben der jungen Generation die Geschichte vorenthalten, sie haben sie verfälscht und die Lehrbücher umgeschrieben. Sie haben versucht, den Genozid zu verschleiern. So wurde die Ermordung der Intellektuellen in den Textbüchern ausgelassen. Der Befreiungskampf wurde als ein Konflikt zwischen Indien und Pakistan dargestellt, und die Grausamkeiten des pakistanischen Militärs wurden verharmlost."
Als die Engländer 1947 ihre alte Kolonie Britisch-Indien in die Unabhängigkeit entließen, schufen sie zwei Staaten mit unterschiedlichen Religionen: Indien mit einer mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung in der Mitte und westlich und östlich davon die beiden fast 2000 Kilometer voneinander entfernten Teile West- und Ostpakistan mit muslimischer Mehrheit. Der östliche bengalische Teil musste die im Westen gebräuchliche Sprache Urdu als Staatssprache übernehmen, obwohl er eine größere Bevölkerung aufwies als der andere Teil. Ostpakistan wurde von Westpakistan wie eine Kolonie behandelt.
Die ihrer Kultur sehr bewussten Bengalen revoltierten schon in den 50er-Jahren gegen die Fremdherrschaft der westpakistanischen Regierung und errangen 1970 mit der Awami-Liga die absolute Mehrheit im gesamtpakistanischen Parlament. Nun hätte ihr Führer Sheikh Mujibur Rahman eigentlich Präsident werden müssen. Dies kam jedoch für den Militärdiktator Yahya Khan und die westpakistanische Opposition nicht in Frage. Unter dem Vorwand von Verhandlungen planten sie insgeheim einen Vernichtungskrieg gegen die Awami-Liga, die bengalische Elite und die Hindu-Minderheit, um ein für alle Mal ihre Vorherrschaft zu sichern. "Killing the Kafirs" – "Die Ermordung der Ungläubigen" sollte das geheime Leitmotiv der Soldaten werden. Die Bengalen hingegen fühlten sich um ihren Wahlsieg betrogen und protestierten. Die Hauptstadt stand unter Hochspannung. Auf einer Massenveranstaltung am 7. März 1971 erklärte der Vorsitzende der Awami-Liga Sheikh Mujib:
"Da wir schon soviel Blut vergossen haben, werden wir noch mehr Blut vergießen. Wir werden die Menschen dieses Landes befreien. Wir kämpfen jetzt für unsere Befreiung. Wir kämpfen jetzt für unsere Unabhängigkeit. Joy Bangla! Sieg für Bengalen!"
Universität Dhaka, Februar 1972: Zwei Monate nachdem die indische Armee gemeinsam mit den bengalischen Guerillakämpfern die pakistanischen Soldaten und ihre Kollaborateure in einem Blitzkrieg besiegt hatte. Aus Ostpakistan war die Volksrepublik Bangladesh geworden. Ein junger Mann, vielleicht 19 Jahre alt, beschreibt mit vor Zorn bebender Stimme, wie mitten in der Nacht zum 25. März 1971 allein in der Iqbal Hall 200 Studenten im Schlaf erschossen wurden. Mit Panzern waren die pakistanischen Soldaten auf den Campus vorgerückt und hatten Hunderte von Studenten und einige Professoren umgebracht. Sie wurden in einem rasch ausgehobenen Massengrab verscharrt. Bei Fahrten durch das kriegszerstörte Land sah man menschliche Schädel, Hüftknochen und Kleiderfetzen in den Straßengräben liegen, nachdem das Wasser, das diese menschlichen Überreste bedeckt hatte, verdunstet war. Inzwischen sind viele solcher "killing fields" entdeckt worden. Überall im Land wurden Denkmäler für die Helden des Befreiungskampfes errichtet. Aber die Angehörigen der zivilen Opfer warten bis heute auf Gerechtigkeit.
Im März dieses Jahres hat die Regierung von Bangladesh ein Tribunal einberufen, das die bengalischen Schuldigen am Genozid, an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, den Kriegs- und anderen völkerrechtswidrigen Verbrechen, wie es im Gesetz heißt, zur Rechenschaft ziehen soll. Zwei Monate davor wurden einige der Mörder des 1975 erschossenen ersten Präsidenten Bangladeshs, Sheikh Mujibur Rahman, mit dem Tode durch den Strang bestraft. Die Polizei war wegen möglicher Attentate in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden, es blieb jedoch ruhig. Auch heute droht die Oppositionspartei BNP, die dem politischen Lager der Täter nahesteht, mit heftigen Protesten. Denn die jetzige Premierministerin Sheikh Hasina ist die Tochter von Sheikh Mujib. Sie hat die Parlamentswahlen im Dezember 2008 mit dem Versprechen, ein Kriegsverbrechertribunal einzuberufen, mit absoluter Mehrheit gewonnen. Die ersten fünf Angeklagten des Tribunals sind führende Mitglieder der islamistischen Partei Jamaat-e-Islami, die bis vor Kurzem zusammen mit der BNP an der Regierung war. Man sagt dieser religiösen Partei Verbindungen zum Al-Kaida-Netzwerk nach.
Eigentlich neigen Bengalen nicht zur Gewalt. Sie haben seit Jahrhunderten als Muslime, Hindus, Buddhisten und Christen friedlich zusammengelebt. Man erlebt sie eher als heißblütige politische Disputanten, als Liebhaber romantischer Gedichte oder als gute, bisweilen korrupte Geschäftsleute, denn als fanatische Muslime. Aber ohne Zweifel haben die Erfahrung eines Völkermordes dieses Ausmaßes und die bis heute andauernde Straflosigkeit der Täter das politische Klima dieses Landes und die Psyche der Bevölkerung beeinflusst. Mofidul Hoque vom Museum für den Befreiungskampf, erklärt, warum es 39 Jahre gedauert hat, bis die Verantwortlichen für den Völkermord zur Rechenschaft gezogen werden:
"Einer der Gründe war, dass die pakistanischen Kriegsgefangenen, von denen 200 wegen Genozid angeklagt waren, im Rahmen eines regionalen Abkommens an Pakistan überstellt wurden, verbunden mit dem stillschweigenden Versprechen von Pakistan, sie wegen Völkermordes anzuklagen. Aber dieser Prozess hat nie stattgefunden. Für die Kollaborateure vor Ort wurde ein Kollaborateur-Gesetz verabschiedet. Viele von ihnen wurden wegen geringer Verbrechen oder Familien- und Dorffehden angeklagt. Als der Umgang mit diesem Gesetz für die Regierung zu schwierig geworden war, erließ Sheikh Mujib eine Amnestie, die jedoch nicht für schwerwiegende Verbrechen wie Mord, Brandschatzung und Raub galt. Danach wurde 1973 der "International Crimes (Tribunal) Act" erlassen, nach dem Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden müssen. Aber Bangladesh konnte diesen Prozess nicht führen, weil Sheikh Mujib zusammen mit seiner Familie 1975 ermordet wurde. Nun kamen diejenigen an die Macht, die mit den Pakistanern kollaboriert hatten, und führten ein diktatorisches Regime ein. Deshalb wurde uns für so viele Jahre die Gerechtigkeit vorenthalten."
Die Zahl der Toten, die in der Zeit von März bis Dezember 1971 umgekommen sind, schwankt zwischen einer Million und drei Millionen Menschen. 200.000 Frauen wurden vergewaltigt. Genaue Zahlen existieren nicht. Aber in jeder Familie des 150-Millionen-Volkes gibt es Opfer aus dieser Zeit. Außerdem wurden zehn Millionen Menschen – mehrheitlich Hindus – über die Grenze nach Indien vertrieben. Viele Tausende Dorfbewohner mussten zudem innerhalb des Landes fliehen, sie wurden ausgeraubt und ihre Häuser angezündet.
Die Aufarbeitung von Verbrechen dieses Ausmaßes wird sie nicht von Siegermächten wie im Fall der Nürnberger Prozesse erzwungen, braucht in der Regel Zeit. Die neuen Machthaber nach der Ermordung von Sheikh Mujib haben ihre Angst vor Rache und ihre Schuldgefühle gegenüber den Opfern mit religiösen Argumenten verbrämt: Man habe doch nur die Einheit Pakistans als islamischer Staat erhalten wollen. Mofidul Hoque:
"Sie haben die Verfassung geändert und eines der vier Prinzipien, den Säkularismus, ersetzt durch den Glauben an den Allmächtigen Allah. Und sie haben den religiösen Parteien, die vorher verboten waren, erlaubt, am politischen Prozess teilzunehmen. Überall haben sie die fundamentalistischen Kräfte unterstützt, die gegen die Grundprinzipien der Entstehung von Bangladesh, nämlich Demokratie, Säkularismus und Nationalismus waren."
Die Welt half tatkräftig beim Wiederaufbau von Bangladesh: Das Land erhielt mehr Entwicklungs- und humanitäre Hilfe als irgendein anderes Land. Aber niemand forderte Rechenschaft von den Tätern. Mofidul Hoque:
"Die Vereinten Nationen unternahmen absolut nichts was den Genozid betrifft. Das änderte sich erst nach dem Ende des Kalten Krieges in den frühen 90er-Jahren, als der jugoslawische Genozid im Herzen von Europa und der Genozid in Ruanda stattfanden und Kriegsverbrechertribunale eingesetzt wurden. Um über einen Völkermord zu verhandeln, bedarf es eines internationalen Konsenses, aber die UN waren geteilt in einen sozialistischen und einen westlichen Block. Inzwischen beobachten wir jedoch einen Wandel sowohl auf der internationalen als auch auf der nationalen Ebene. Nach der Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofs im Jahr 1998 wurde das Rom-Statut angenommen. Und jetzt werden kein Land und keine Gruppe, die einen Genozid begehen, mehr ungeschoren davonkommen. Diese Völkermordprozesse, insbesondere der Prozess in Kambodscha, haben unser Volk inspiriert."
Rückblende: November 1971 - erste Begegnung ausländischer Journalisten mit der Tragödie: Ein Flüchtlingslager auf einem ausgetrockneten Salzsee bei Kalkutta. Eine Million Menschen kampieren unter sengender Sonne, einige haben Schutz gesucht in Betonröhren, andere bereits ein Zelt ergattert. Latrinen gibt es zu wenige, es stinkt zum Himmel. Dantes Inferno muss ähnlich ausgesehen haben. Eine indische Ärztin und ein katholischer Priester versuchen, das Elend zumindest ein wenig zu lindern. Besucher des Flüchtlingslagers sind schockiert, betroffen und hilflos angesichts der ausgestreckten Arme halbverhungerter Kinder und der Blicke ausgemergelter alter Frauen, mit denen sie konfrontiert werden.
Die indische Regierung und viele freiwillige Helfer haben die meisten Flüchtlinge vorerst retten können. Aber kurz nach der Kapitulation der pakistanischen Armee wurden sie mit einem Lebensmittelpaket versehen zurückgeschickt auf den langen Fußmarsch in ihr zerstörtes Land, den die Schwächsten nicht überlebten. Dort fanden die Familien die Überreste ihrer abgebrannten Hütten vor, das Vieh war verendet, ihre Habseligkeiten geplündert und in vielen Fällen waren Angehörige nicht mehr am Leben. Aber immerhin lebten sie nun in einem unabhängigen Staat. Viele ihrer Söhne und Töchter hatten als Guerillakämpfer an der Befreiung mitgewirkt. Video "History of Bangladesh":
"Tausende Jugendliche in den Dörfern schlossen sich den Freiheitskämpfern an. Nachdem sie ein kurzes Training absolviert hatten, begannen erfolgreiche Operationen. Einige Gebiete innerhalb des Landes konnten befreit werden."
Nächtliche Gewehrschüsse sind auch noch nach dem Krieg zu hören. Überaus stolze junge Männer schildern ausländischen Journalisten ihre Kriegserlebnisse. Sie zeigen die Folterkammern innerhalb der pakistanischen Garnisonen mit den Blutspuren an Wänden und Fußböden. Ein Jüngling mit einer sanften Stimme beschreibt in allen Einzelheiten, wie nach dem Sieg gefangene Kollaborateure hingerichtet wurden. Was war wohl mit den Frauen geschehen, die in den Garnisonen als Sex-Sklavinnen gehalten wurden: Halbwüchsige Mädchen, die von pakistanischen Soldaten und ihren bengalischen Helfershelfern auf der Straße oder aus ihren Häusern abgeführt und zur Vergewaltigung in die Garnisonen verschleppt wurden?
Um es den weiblichen Opfern zu erleichtern, über ihre Erfahrungen zu reden, fordern Anwältinnen, an den anstehenden Ermittlungen des Tribunals beteiligt zu werden. Es gäbe genügend hochqualifizierte Juristinnen. Aber die Regierung hat ihre Nominierungsvorschläge bisher nicht berücksichtigt. Das siebenköpfige Anklageteam ist ausschließlich männlich besetzt.
Heute ist Bangladesh mit dem geschundenen aber befreiten Land von 1971 kaum mehr zu vergleichen. Zu jener Zeit hatten es viele im Westen schon beinahe abgeschrieben. Inzwischen ist der Prozentsatz der Menschen unterhalb der Armutsgrenze von damals 70 Prozent auf jetzt 40 Prozent gesunken, die Wirtschaft wächst um jährlich etwa sechs Prozent. Die Regierungschefin erhielt gerade am Rande der UN-Vollversammlung in New York eine Auszeichnung dafür, dass Bangladesh die Kindersterblichkeit seit 1990 um zwei Drittel verringert hat. Die Millenniumsziele der Vereinten Nationen, insbesondere die Halbierung der Hungernden bis 2015, wird das Land voraussichtlich erreichen. Auch der Augenschein gibt den Statistikern Recht: Man sieht heute kein Kind mehr mit aufgeblähtem Hungerbauch, und fast alle Kinder einschließlich der Mädchen gehen zur Schule. Der Ökonomieprofessor Abul Barkat kommt jedoch aufgrund von Feldforschungen zu einem anderen Ergebnis:
"Sehen Sie, die Prozentzahlen sind nicht so wichtig, bei der Armut kommt es vielmehr auf die Individuen an. Prozentual können es vor 30 Jahren 70 Prozent gewesen sein. 70 Prozent von damals 70 Millionen Einwohnern waren 49 Millionen, aber jetzt bedeuten 40 Prozent von heute 150 Millionen Einwohnern 60 Millionen arme Menschen. Deshalb bin ich mehr an den absoluten Zahlen als an Prozentsätzen interessiert. Außerdem hat Armut viele Facetten: schlechte Gesundheit und mangelnde Bildung, Korruption und fehlende Sicherheit. Was ist mit einer Familie mit zwei gebildeten aber arbeitslosen Mitgliedern? Und wie wirkt sich geistige Armut aus? Während laut offizieller Statistik die Armut abnimmt, nimmt der religiöse Fundamentalismus zu. Ich habe dazu geforscht: Der Grund für religiösen Fundamentalismus ist die Armut."
Nachdem Abul Barkat an der Universität von Dhaka einen öffentlichen Vortrag darüber gehalten hatte, wie die Islamisten mit einem Netz von Unternehmen, Schulen und Hilfsorganisationen eine eigene "Ökonomie in der Ökonomie" aufgebaut haben, die doppelt so schnell wächst wie die offizielle, erhielten er und seine Familie mehrfach Todesdrohungen per Telefon. Abul Barkat:
"20 Prozent ihrer Mittel werden für Politik ausgegeben. Und es gibt eine enge Beziehung zwischen ihnen und dem militanten Fundamentalismus. Aufgrund ihrer Effizienz und ihrer ideologischen Motivation versuchen sie, die Religion dazu zu benutzen, um die Macht im Staat zu übernehmen."
Ist die Gefahr einer Islamisierung des Landes wirklich so groß? Die erfahrene Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Sultana Kamal:
"Die Islamisierung nimmt zu. Unglücklicherweise wurde das von den vorigen Regierungen unterstützt. Eine Regierung ist ein Bündnis mit der Jamaat-e-Islami eingegangen, die eindeutig das Ziel verfolgt, Bangladesh zu islamisieren. Die meisten unserer Institutionen wurden nach diesem Modell umgestaltet. Aber andererseits bin ich fest davon überzeugt, dass die Menschen in Bangladesh nichts akzeptieren werden, was exzessiv oder extrem ist, insbesondere im religiösen Bereich, weil die Menschen hier an eine liberale Religion glauben.
Das Oberste Gericht hat die Verfassungsänderungen nach der Ermordung von Sheikh Mujibur Rahman, die den Säkularismus beseitigt und Militärputsche legalisiert hatten, inzwischen für ungültig erklärt. Die Ermittler des Kriegsverbrechertribunals sind einem der Hauptschuldigen des Genozids, dem ehemaligen Führer der Jamaat-e-Islami, Ghulam Azam, dicht auf den Fersen. Sie haben Massengräber und Gefängnisse in verschiedenen Landesteilen besichtigt und viele Zeugen befragt. Die Anklage steht kurz bevor. Die Behörden des Landes sind angewiesen, keine der auf einer Liste mutmaßlicher Kriegsverbrecher aufgeführten Personen außer Landes reisen zu lassen.