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Einblick in die Generation Praktikum

Autorin Anne Köhler hat in ihrem Leben eigentlich alles richtig gemacht: Abitur, Studium, Praktika. Aber so geht es immer weiter. Ein Gelegenheitsjob reiht sich an den nächsten. Ein amüsanter Einblick in den Wandel eines globalisierten Arbeitsmarktes.

Von Gisa Funck | 19.11.2010
    "Früher hat man immer gedacht, dass man in dem Moment erwachsen ist, wo man sich mit einem Beruf identifizieren kann. In dem Moment, wo man sagen kann: Ich bin Lehrer oder Zahnarzt oder Detektiv meinetwegen auch. Und in der heutigen Zeit ist das - glaube ich - immer seltener. Dann fängt man immer an, wenn man gefragt wird, was man macht, und sagt: "Ich bin ..." und dann weiß man nicht so recht, wie es weitergehen soll. Und ich denke, dass das Gefühl ganz viele haben, die hier in meinem Alter sind."

    Eigentlich hat Anne Köhler, Jahrgang 1978, alles richtig gemacht. Nach dem Abitur ist sie aus dem hessischen 250-Seelen-Dorf ihrer Kindheit nach Berlin gezogen. Hat ein Studium der Kulturwissenschaft abgeschlossen und diverse Praktika absolviert. Eigentlich gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere. Doch irgendwie ist Köhler wie so viele Nachwuchsakademiker ihrer Generation trotzdem nie so richtig angekommen auf dem krisengeschüttelten deutschen Arbeitsmarkt, der es auch studierten Berufsanfängern neuerdings schwer macht. Seit mehr als einem Jahrzehnt hängt die Wahlberlinerin nun schon in einer Warteschleife aus schlecht bezahlten und befristeten Gelegenheitsjobs fest. Darüber hat Köhler zuerst eine Online-Kolumne bei "jetzt.de" geschrieben und jetzt ein Buch veröffentlicht, das man als symptomatische Lebensbeichte jener oft beschworenen "Generation Praktikum" lesen kann, für die ein Uni-Abschluss heute längst keinen verlässlichen Schutz mehr vor dem sozialen Abstieg bietet. Oder, wie die Autorin gleich zu Anfang, in ihrer Einleitung erklärt:

    Was ich alles hätte werden können! Ja, was eigentlich? (...) Wann ist man mit dem Was-Werden fertig? Was bin ich überhaupt geworden? Meine berufliche Situation fühlt sich diffus an: dreißig sein, ein Diplom haben, selbstständig arbeiten, vieles können, aber nichts so richtig. Als was verstehe ich mich? Mir fehlt eine klare Definition.

    "Das ist ja immer so das, wovon man erstmal ausgeht, dass der Beruf das definiert, womit man seinen Lebensunterhalt verdient. Das gibt es halt bei mir nicht, das wechselt immer. Das ist mal das Eine, und das fängt dann das andere auf. Aber ich fühle mich sehr Berufs-los eigentlich. Oder: in vielen Sparten zuhause, aber immer nur auf Zeit."

    Anne Köhler hat schon viele verschiedene Jobs gemacht. Über fünfzehn verschiedene Aushilfstätigkeiten und Praktika listet sie in ihrem Erfahrungsbericht auf. Darunter nicht nur typische wie Kellnerin oder Küchenhilfe, sondern auch welche mit so wohlklingenden Namen wie Hostess, Eventmanagerin, wissenschaftliche Hilfskraft oder Foto-Assistentin. Da viele dieser Jobs feste Stellen ersetzen mussten, handeln Köhlers Geschichten erwartbar oft von Ausbeutung. Als Kellnerin musste sie zwölf Stunden lang ohne Pause Gäste in High-Heels bedienen. Als Lektorin einen englischen Gesundheitsratgeber ganz alleine übersetzen. Und als Küchenhilfe so viele Gurken im Akkord schnippeln, dass sie sich fast den Finger abschnitt. Solche Episoden hätten leicht zur Jammer-Chronik einer unterbezahlten Dauer-Praktikantin werden können, hätte die Autorin sie nicht glücklicherweise mit einer gehörigen Portion Galgenhumor gewürzt. Etwa dort, wo sie einmal von ihrer Zeit als Sortiererin bei der Post erzählt:

    Diese Stunden des Sortierens waren wohl die ungrüblerischten meines ganzen Lebens. Kein Gedanke konnte sich in andere Gefilde verirren. Mein Kopf ordnete drei Stunden lang Wörter den Zahlen zu - sonst nichts. (...) Eines Tages aber tickte es aus dem Päckchenberg ununterbrochen. Adresse, tick, Zahl, tick-tick, Fach, tick-tick-tick. Irgendwann hatte ich die Quelle des Tickens endlich ausgegraben: ein kleines quadratisches Paket. Ich (...) hob es in die Luft und fragte in den Raum:
    "Was soll ich damit machen?"
    "Na, sortieren", sagte die Chefin.
    "Aber es tickt."
    "Wenn du denkst, es tickt", meinte meine Chefin ungerührt, "mach es auf. Wenn nicht, lass es ticken."


    Köhlers Chronik aus den Niederungen des heutigen Berufsalltags spart sich zwar jede theoretische Reflexion. Sie ist aber schon deshalb lesenswert, weil sie amüsant und aus schnoddrig subjektiver Perspektive exakt jenen Wandel eines globalisierten Arbeitsmarktes nachzeichnet, den Soziologen wie Richard Sennett schon vor mehr als zehn Jahren düster prophezeiten: nämlich die so genannte Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, die immer öfter feste Stellen durch befristete ersetzt - und damit sowohl den Wert von Berufsqualifikationen als auch den Rechtsstatus von Arbeitnehmern zunehmend aushöhlt. Kein Wunder von daher, dass auch ungelernte Praktikanten heutzutage immer öfter sofort als Vollzeitkräfte rekrutiert werden. Anne Köhler:

    "Also, ich habe die Erfahrung gemacht, dass einfach viele Ausschreibungen sind so getarnte Ausschreibungen. Festanstellungen kann man kaum ergattern. Und dann werden viele Praktika und Volontariate ausgeschrieben, die aber eigentlich eher einen Aushilfsjob bezeichnen. Also, Praktikum und Volontariat sollte ja eigentlich beinhalten, dass man etwas lernt. Und deswegen auch ein bisschen weniger verdient, aber man hat irgendwie einen Nutzen davon. Und das ist ganz oft nicht mehr so. Das heißt, viele Stellen werden quasi so getarnt und besetzt - und dadurch gibt es natürlich immer weniger feste Stellen."

    Köhlers Büchlein ist unterhaltsam und anschaulich geschrieben. Und es zeigt einerseits, dass die Klage einer trotz guter Ausbildung benachteiligten Akademiker-Generation heutzutage durchaus berechtigt ist. Andererseits aber durchzieht das Büchlein doch auch ein kleiner Schönheitsfehler, beziehungsweise: ein grundlegendes Missverständnis, das man wohl ebenfalls als generationstypisch bewerten könnte. Denn wie so viele ihrer oft kreativ ambitionierten Altersgenossen verfolgt auch die Autorin neben ihrer ganzen Jobberei einen Lebenstraum, der streng genommen jede ernsthafte Stellenbewerbung von vornherein ad absurdum führt. Eigentlich nämlich will Köhler Künstlerin werden. Oder genauer gesagt: Schriftstellerin. Ein höchst anspruchsvolles Lebensziel, das natürlich nichts mehr mit einem gewöhnlichen Berufswunsch zu tun hat. Vom eigenen Beruf zu erwarten, dass man sich damit auch künstlerisch selbst verwirklichen kann, ist sicherlich in den allermeisten Fällen zu viel erwartet. Doch nichts Geringeres strebt Köhler - stellvertretend für viele Möchtegern-Bohemiens der Generation Praktikum, insbesondere in Berlin - an, ohne sich dabei doch umfassend die Risiken einer solchen Zielsetzung zu vergegenwärtigen. Denn Künstler oder Schriftsteller zu werden, war nun einmal schon immer eine ebenso glamourös-luxuriöse wie finanziell-heikle Mission. Und verlangte mehrheitlich seit jeher von angehenden Künstlern, dass sie sich nebenher Geld verdienen mussten: aller meistens mit ziemlich unglamourösen Nebenjobs.

    Anne Köhler: "Nichts werden macht auch viel Arbeit. Mein Leben in Nebenjobs", Mit Illustrationen von Katharina Bitzl, Dumont Verlag, 144 Seiten, 14,95 Euro.