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Einblicke in dunkle Ecken

25 Jahre und mehr als 50.000 Stunden in der Praxis: Der Psycho-Analytiker Stephen Grosz hat aus seinem Berufsleben ein Buch gemacht - und erzählt Geschichten über das Unbewusste. Für Rezensentin Anja Hirsch war es eine spannende Lektüre, die sie an short stories erinnert hat.

Von Anja Hirsch | 12.11.2013
    Wer je das Vorurteil hegte, Psychoanalytiker formten die weiße Wand, gegen die man stetig anarbeitet, und zwar ziemlich alleine, nämlich ohne Blickkontakt auf der Couch, wird diese Sicht revidieren dürfen. Die orthodoxe Richtung, nach welcher vor allem Technik zählt, scheint ja ohnehin im Fach nicht mehr so populär. Man hat inzwischen von der kürzer angelegten Gesprächstherapie abgeschaut, dass es auch bei der über mehrere Jahre und mehrere Stunden pro Woche praktizierten Analyse neben der intakten therapeutischen Beziehung vor allem um Authentizität geht: Der Analytiker als Mensch. Dass er sein Handwerk kann, versteht sich von selbst.

    Auch den aus Amerika gebürtigen Stephen Grosz, der im kalifornischen Berkeley und an der britischen Oxford University studierte, aber schon seit 25 Jahren in London praktiziert, wird man sich nach der Lektüre seines ersten Buches vor allem als zugewandten, empathischen, klugen Lebensbegleiter vorstellen dürfen. Keiner, der unendlich schweigt. Dafür einer, der gerne lehrreiche Geschichten erzählt.

    Das "storytelling", wie es auf Englisch heißt, hat nicht nur eine lange Tradition. Es ist auch geeignet, Konflikte und ihre Ursachen möglichst klar, einfach und spannend zur Sprache zu bringen. Zum Beispiel die Geschichte eines jungen Mannes, der sich im Schrank der Bezirkskirche versteckte, um seinem Leben mit Medikamenten und gezielten Messerschnitten in Hals, Brust und Arme ein Ende zu bereiten:

    Peter war groß und schlaksig, ließ aber, wie so manche Depressive, die Schultern hängen und hielt den Kopf gesenkt. Er benahm sich zudem entsprechend, redete stockend und mied häufigen Blickkontakt. Lag er erst einmal auf der Couch, bewegte er sich kaum mehr.

    Die Kirchenputzfrau hatte ihn gefunden, die Krankenhauspsychiaterin hatte Peter überwiesen. Regelmäßig erscheint er bei Stephen Grosz zur Therapie, und nach mehreren Monaten wird er aus dem Krankenhaus entlassen, in ein eigenes Leben, mit Verlobter und Arbeit. Im geschützten therapeutischen Raum aber scheint er immer öfter zu verschwinden, an andere Orte, über die er sich auch auf Nachfrage ausschweigt. Dann erreicht Stephen Grosz, damals noch Berufsanfänger, die Nachricht vom Selbstmord Peters. Grosz ist schockiert und hat einige schwere Nächte, bevor er sich Hilfe sucht bei einem Supervisor, der ein Buch über Selbstmord geschrieben hat und ihn mäßig beruhigt - vielleicht habe die Analyse den Selbstmord immerhin aufgeschoben. Aber die Geschichte geht weiter:

    Sechs Monate später fand ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter vor. Ich hörte die unverkennbaren Geräusche einer öffentlichen Telefonzelle - Tuten, Münzklicken - und dann Peters Stimme: "Ich bin's. Ich bin nicht tot. Wäre es Ihnen recht, wenn ich zu Ihnen komme und wir miteinander reden? Ich bin unter meiner alten Nummer zu erreichen."

    Es gehört zur Form solcher stark verdichteten Fallgeschichten, dass sie die Tro-ckenphasen einer Therapie ausgesparen. Keine 100 leeren Seiten, in denen man zwar Patient und Therapeut gemeinsam arbeiten hört, auf welchen aber wenig Erzählbares geschieht. Das ist für den Spannungsbogen dieser Episoden von großem Vorteil. Und so mag man im Spiegel dieser 31 Miniaturen hin und wieder die eigene Seelenbeschaffenheit vergleichend befragen und oft aufatmen: Nein, so bin ich nicht. Oder sich bei Verwandtschaften ertappen. Für den weniger empathischen Leser eignet sich die Lektüre immer noch als Rätsel, dessen Entschlüsselung nie lange auf sich warten lässt.

    Nach mehreren Gesprächen einigten wir uns darauf, die Analyse fortzusetzen. Letztlich erwiesen sich Peters Verschwinden und seine Rückkehr sogar als hilfreich, da es etwas klärte, war wir zuvor nicht begriffen hatten: Sein Drang, zu schockieren.

    Stephen Grosz erzählt in gewisser Weise Erlösungsgeschichten. Er tritt aber nie als Retter auf, eher als Begleiter, der lenkt und ordnet, der die Spur hält, wenn der Patient aus Scham oder Schmerz die Lust verliert. Von dieser Arbeit erzählen seine parabelhaften Detektivgeschichten. Nicht immer gehen sie gut aus, in diesem Falle aber doch, nachdem der Schlüssel gefunden ist: Hineingeboren in eine unglückliche Ehe viel zu junger Eltern, die ihre Aggression auch am Baby entluden, schien jede Form von Beziehung für Peter fürchtenswert. Und so kommt es auch im Erwachsenenalter immer wieder dazu, dass er Freundschaften abbricht, sobald sie zu intim werden - zum Beispiel, indem er andere vor den Kopf stößt oder schockiert.

    Peters Verhalten machte deutlich, dass er es sich nicht erlauben konnte, schwach zu sein. Für ihn war Abhängigkeit gefährlich. Allerdings fühlte sich Peter auch immer wieder gezwungen, gegen sich selbst vorzugehen. Als er sich in der Kirche angriff, inszenierte er ebendiese Geschichte.

    "Schmerz als Geschenk", "Über Geheimnisse", "Warum Eltern ihre Kinder beneiden" - hinter solchen Überschriften öffnen sich Schicksale. Unbedingt lesenswert aber wird dieses Buch durch die Haltung, die Stephen Grosz vermittelt. Psychoanalyse, sagt er in einem Interview, sei der Versuch, gemeinsam das Nicht-Wissen zu erkunden. Die Geschichten sind ja noch da, irgendwo begraben.

    Die Autorin Karen Blixen schrieb einmal: "Alles Leid lässt sich ertragen, wenn man es in eine Geschichte verpackt oder eine Geschichte darüber erzählt." Was aber, wenn ein Mensch keine Geschichte über sein Leid erzählen kann? Was, wenn die Geschichte ihn erzählt?

    Dann kann es einem so ergehen wie Peter mit seinem selbstzerstörerischen Verhalten.

    Erst mit der Zeit begriff ich, dass Peters Verhalten die Sprache war, die er benutzte, um mit mir zu reden. Peter erzählte seine Geschichte, indem er mich fühlen ließ, was es hieß, er selbst zu sein, indem er mir die Wut, die Verwirrung und den Schock vermittelte, die er als Kind gespürt haben muss.

    Die Philosophin Simone Weil beschreibt, wie zwei Gefangene in benachbarten Zellen über einen langen Zeitraum hinweg lernen, miteinander zu reden, indem sie an die Wand klopfen. Die Wand trennt sie und ist doch auch ihr Kommunikationsmittel. Stephen Grosz' Buch, formuliert er mit diesem einprägsamen Bild, handelt von eben dieser Mauer. Es geht ums Zuhören, aber auch um die Stille, die Lücken dazwischen.

    Allerdings ist das, was ich hier beschreibe, kein magisches Geschehen. Es ist Teil unse-res alltäglichen Lebens - wir klopfen, wir lauschen.

    Stephen Grosz macht es einem leicht, an diesem Prozess auch als Leser Anteil zu nehmen. Er schreibt mit empathischer Neugier auf eine Erkenntnis zu, die er teilen möchte. Und er verschweigt dabei nicht die eigenen Ängste und Hilflosigkeit, sondern nutzt sie, wie jeder gute Therapeut, als Wegweiser durchs Unbewusste. Passt es, zieht er auch mal unkonventionell die Literatur zu Rate, Geschichten wie Herman Melvilles "Bartleby". Denn die titelgebende "Frau, die nicht lieben wollte", sagt den berühmtesten Satz der Literaturgeschichte zu ihrem Freund, als der mit ihr verreisen will und ihr die Nähe unerträglich wird: "Ich möchte lieber nicht." Viel schöner auf englisch: "I`d prefer not to".

    Die literarische Figur Bartleby, der unwillige Schreiber einer Anwaltskanzlei auf der Wall Street, sagt genau das, wenn er arbeiten soll, mit sturer Regelmäßigkeit seinem Chef. Der will ihm sogar helfen, aber je mehr Hilfe der Anwalt anbietet, desto verschlossener wird sein Angestellter Bartleby, der sich schließlich im Gefängnis zu Tode hungert. Viel ist über diese Geschichte Herman Melvilles geschrieben worden. Der Psychoanalytiker Stephen Grosz versteht sie als Porträt des unablässigen Kampfes im Zentrum unserer Innenwelt.

    In jedem von uns stecken ein Anwalt und ein Bartleby. Wir haben alle in uns eine fröhliche Stimme, die sagt: "Fangen wir an, jetzt sofort", aber auch die entgegengesetzte, negative Stimme, die erwidert: "Ich möchte lieber nicht". Hält uns die Negativität in ihrem Griff, verlieren wir das Verlangen nach menschlicher Bindung. Wir werden zu Bartleby und machen jene, die uns nahestehen, zu Anwälten.

    Als Grosz' Buch kürzlich auf Englisch erschien, unter dem Titel "The Examined Life. How We Lose and Find Ourselves", hat besonders ein Kapitel für Aufsehen erregt. Er vertritt darin, durch Studien gestützt, eine unter Eltern wie Erziehern eher unpopuläre These. Mit überschwenglichem Lob, so Grosz, solle man bei Kindern vorsichtig sein. Sagen Eltern zu ihren Kindern "Du bist der Beste", hebe das in Wirklichkeit das Selbstwertgefühl der Eltern. Die Kinder verführe es eher zum Aufhören. Warum ein besseres Bild malen, wenn "das beste" schon gemalt ist?

    Und wenn sie doch weitermalen, dann nicht aus Selbstzweck, um des Malens willen, sondern um Lob zu erhalten. Auf die Dauer funktioniere Beziehung so nur über Lob. Viel wichtiger aber sei doch die Zuwendung, die Präsenz der Erwachsenen. Sie sollten sich lieber für den Gegenstand interessieren, nachfragen, beim Kind bleiben. Gerade das vermeidet man gerne - vielleicht eben auch durch Lob, das den Kontakt zum Kind eher verschließt als dass es ihn öffnet und verstärkt.

    Anwesend zu sein, ob nun bei Kindern, bei Freunden oder bei sich selbst, ist immer anstrengend. Aber ist uns diese Anwesenheit, diese Aufmerksamkeit - das Gefühl, dass sich jemand die Mühe macht, an uns zu denken - nicht lieber als jedes Lob?

    In Stephen Grosz' Buch über das Unbewusste ist dieses Kapitel, das oft missverstanden wurde - er richtet sich vor allem gegen leeres Lob - ein Beispiel für die Fähigkeit des Autors, etwas klar und einfach auf den Punkt zu bringen. Er meidet Fachvokabular. Lieber erfindet er selbst ein sofort einleuchtendes Wort, etwa "psychologisches Lepra" für die Beschreibung der Krankheit eines Mannes, der Schmerz nicht fühlt. Die Übersetzung aus dem Englischen durch Bernhard Robben hätte zwar insgesamt etwas freier sein dürfen, nicht so nah an den englischen Wendungen, die Robben manchmal fast wörtlich überträgt.

    Aber das ist nur ein kleiner Abstrich. Insgesamt lassen sich die 31 Kapitel lesen wie short stories, klar umrissen, mit einer Pointe, jederzeit spannend. Dass die Praxis ein dramen-tauglicher Ort ist, haben vor Stephen Grosz ja schon andere gezeigt, man denke an den californischen Psychiater Irvin D. Yalom, der mit seinen Romanen großen Erfolg hat, oder die im Fernsehen ausgestrahlte Serie "In Treatment" mit Gabriel Byrne. Wann hat man je gesehen, dass solche Formate mit fast nur einem Schauplatz auskommen? Stephen Grosz wird aber vor allem da interessant, wo er gerade nicht spektakuläre Fälle aufrollt wie den anfangs erwähnten Mann, der mit Messerschnitten blutend im Kirchenschrank aufgefunden wird.

    Graham C. war langweilig. Das war ihm eines Abends von seiner Freundin gesagt wor-den, die in der Stadt als Betriebswirtin arbeitete. Auf einer ihrer Dinnerparties hatte sie ihn immer wieder dabei beobachtet, wie er alle Menschen langweilte, mit denen er sich unterhielt. "Merkst du denn gar nicht, wenn die Leute abschalten?", hatte sie gefragt und sich dann von ihm getrennt.

    So lässt Stephen Grosz ein Kapitel "über Langweiler" beginnen. Die Langeweile ist für den Analytiker bekanntlich ein nützliches Instrument. Und auch, wenn sie ihn bisweilen selbst während mancher Stunden ergreift, kann er über deren Funktion mutmaßen: Stellt sich der Patient damit tot? Will er unbequeme Themen meiden? Ist die Langeweile ein Instrument gegen emotionale Aufwallung?

    Jedes Stichwort ist Grosz Anlass, das Spielfeld zu umreißen, das im Therapieraum, auf der Straße, auch in Grosz' privatem Leben eine dunkle Ecke ausleuchten hilft. Man erhält Einblicke in die Werkstatt des Analytikers, dem durchaus auch mal ein Patient auf der Couch einschlafen kann. Oder unterschiedliche Definitionen von Stille, denn Grosz muss, wie seine Kollegen, feine Sinne besitzen für dieses chimärenartige Monstrum des Unbewussten, das er gemeinsam mit seinen Klienten freizulegen gedenkt:

    Es gibt eine Stille, die ist ungeduldig, jene Stille, wenn der Patient - die Arme ver-schränkt, die Augen offen - sich zu sprechen weigert. Es gibt eine unbehagliche Stille, wie sie zum Beispiel aufkommt, wenn etwas Intimes oder Sexuelles offenbart wird.

    Und es gibt gegen diese verschiedenen Arten von Stille zum Glück die Sprache, die vorsichtig das Leben formuliert. Immer wieder neu erzählt Stephen Grosz von diesem Wunder, von der Möglichkeit, etwas zu ändern, und sei es nur die Einstellung zum Konflikt. Verstanden ja - aber vielleicht nicht heilbar. Auch das kann eine Einsicht sein, mit welcher beide Seiten nach einer Analyse leben müssen; so in der Geschichte über einen Mann, der nicht als Paar leben kann.

    Hier machen sich dann aber doch die Grenzen der langen Psychoanalyse bemerkbar. Gegenüber prozessorientierten, kürzer angelegten Therapieangeboten wie Gesprächs- oder Verhaltenstherapie wird die Psychoanalyse ja nach wie vor auch kritisch beäugt. Das ist aber nicht Gegenstand dieses Buches. "Die Frau, die nicht lieben wollte" ist vor allem ein sehr menschliches Buch über das Leben, jedermann und jeder Frau in die Hand zu empfehlen. Ein schneller Ratgeber ist es nicht. Aber möglicherweise ein Impulsgeber und vor allem ein großes Lesevergnügen.

    Stephen Grosz: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013. 235 Seiten, 19,99 €.