Mittwoch, 15. Mai 2024

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Eine afrikanische Reise durch Raum und Zeit

In ihrem Roman "Die Hälfte der Sonne" erzählt Chimimanda Ngozi Adichie die Geschichte Biafras, die zugleich die Geschichte des Krieges ist. Doch ist der Roman kein Schlachtenepos, auch kein politischer Schlüsselroman, denn dieser Roman handelt fast ausschließlich von einer Familie, die gar keine richtige Familie ist.

Vorgestellt von Walter van Rossum | 29.04.2007
    Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Auch wenn man die genaue Zahl der Einwohner nicht kennt. Es dürften so zwischen 150 und 180 Millionen Menschen sein. Nigeria verdankt seinen Namen dem Einfall einer britischen Offiziersgattin. Und als am Ende des 19. Jahrhunderts dumpfe Generäle und Kolonialpolitiker am Sherrytisch die Konturen des Landes auf der Landkarte umrissen, da hatten sie unter dem Namen Nigeria ein Gebiet zusammengefasst, in dem etwa 250 verschiedene Völker lebten und fast ebenso viele Sprachen gesprochen wurden. Nicht einmal die Erfahrung einiger Jahrhunderte, in denen Nigeria das Hauptjagdgebiet des europäisch-amerikanischen Sklavenhandels war, konnte dem Gebilde namens Nigeria den Hauch einer Einheit geben als das Land 1960 in die so genannte Unabhängigkeit entlassen wurde. Wie die meisten afrikanischen Staaten hatte auch Nigeria kaum eine Chance ein selbständiger modernen Staat werden. Wie auch?

    Wer Jahrhunderte lang von modernen Weißen versklavt und unterdrückt wurde, ist noch lange nicht selbst modern und schon gar nicht unabhängig. Zwei Umstände erschwerten den ohnehin mühsamen Weg. Erstens entdeckte man Anfang der 60er Jahre im Südosten des Landes große Erdölvorkommen, was umgehend die großen Ölkonzerne auf den Plan rief, die bis heute erheblichen Anteil an den politischen und wirtschaftlichen Problemen Nigerias haben. Zweitens brachen fast gleichzeitig die ethnischen Spannungen im Lande auf. Speziell zwischen den drei größten Bevölkerungsgruppen, nämlich den Yoruba im Südwesten Nigerias, wo auch Lagos liegt, heute eine der größten und wahnsinnigsten Metropolen der Welt, eine Art ground zero der Globalisierung. Dann im Norden die weitgehend islamisierten Hausa, und schließlich die Igbo im Südosten des Landes, da wo auch das Erdöl fließt. Es ist die klassische Situation eines Landes, das keine Gelegenheit hatte, eine nationale Einheit auszubilden, und wo deshalb eine ethnische Gruppe sich durch die andere bedroht fühlt. Jedenfalls kam es Mitte der 60er Jahre im Norden des Landes zu Massakern an Angehörigen vor allem der Igbo. Und es sah nicht danach aus, als hätte die Zentralregierung in Lagos die Kraft und den Willen die Sicherheit der Igbo zu garantieren. Das führte dazu, dass das Volk der Igbo sich zum selbständigen Staat erklärte. Und dieser Staat hieß Biafra. Biafra existierte nur drei Jahre lang, wurde von kaum einen anderen Staat anerkannt und der Name wurde zur Chiffre einer furchtbaren Hungersnot, in den Jahren von 1968-1970, die Hunderttausende von Opfern forderte. Auf der Flagge der neuen Staates strahlte eine aufgehende Sonne. Und dieser halben Sonne verdankt der letzte Roman von Chimamanda Ngozie Adichie seinen Titel: Die Hälfte der Sonne. Adichie, Jahrgang 1977, hat diesen Krieg gar nicht erlebt.

    "Ich habe diesen Roman geschrieben, weil ich über Liebe und Krieg schreiben wollte, weil ich im Schatten von Biafra aufgewachsen bin, weil ich meine beiden Großväter im Krieg zwischen Nigeria und Biafra verloren habe, weil ich mich mit meiner Geschichte befassen will, um die Gegenwart zu begreifen, weil viele der Gründe, die zu dem Krieg geführt haben, bis heute in Nigeria nicht gelöst sind, weil mein Vater Tränen in den Augen hat, wenn er davon spricht, wie er seinen Vater verloren hat, weil meine Mutter immer noch nicht präzise darüber sprechen kann, wie sie ihren Vater in einem Flüchtlingscamp verloren hat, weil die grausamen Hinterlassenschaften des Kolonialismus mich wütend machen, ebenso wie das Denken der Egos und die Gleichgültigkeit der Menschen, die den sinnlosen Tod von Männern, Frauen und Kindern herbeiführten, mich wütend machen. Denn ich möchte niemals vergessen. Ich habe immer gewusst, dass ich einen Roman über Biafra schreiben würde."

    Die Geschichte beginnt Anfang der 60er Jahre und endet 1970 mit der Niederlage Biafras nach Jahren eines zermürbenden Krieges. Dieser Roman erzählt die Geschichte Biafras, die zugleich die Geschichte des Krieges ist, der um die Unabhängigkeit Biafras geführt wurde. Doch Die Hälfte der Sonne ist kein Schlachtenepos, auch kein politischer Schlüsselroman, dieser Roman handelt fast ausschließlich von einer Familie, die gar keine richtige Familie ist. Und die Geschichte beginnt so:

    "Der Master war ein wenig verrückt; er hatte zu viele Jahre damit verbracht, in Übersee Bücher zu lesen, sprach mit sich selbst, wenn er in seinem Arbeitszimmer war, grüßte nicht immer zurück und hatte zuviel Haare. Das sagte Ugwus Tante leise, als sie den Pfad entlanggingen. 'Aber er ist ein guter Mensch', fügte sie hinzu. 'Und solange du gut arbeitest, wirst du auch gut essen. Sogar Fleisch wirst du jeden Tag bekommen.' Sie blieb stehen, um auszuspucken; der Speichel löste sich schmatzend von ihren Lippen und landete im Gras. Ugwu konnte nicht glauben, dass irgendwer, nicht einmal der Master, bei dem er leben sollte, tatsächlich jeden Tag Fleisch aß. Dennoch widersprach er seiner Tante nicht, denn die Erwartung hatte ihn stumm gemacht, und er hatte genug damit zu tun, sich sein neues Leben fern des Dorfes vorzustellen. (...) Er wäre noch Stunden weiter gegangen, selbst wenn die Sonne noch heißer geschienen hätte. So etwas wie die Straßen, die auftauchten, nachdem sie an den Toren der Universität vorbeigekommen waren, hatte er noch nie gesehen, Straßen, die so glatt geteert waren, dass er große Lust hatte sich zu bücken und die Wange an sie zu legen. Niemals würde es ihm gelingen, seine Schwester Anulika die Bungalows zu beschreiben, die in der Farbe des Himmels gestrichen waren und wie höfliche, gutgekleidete Männer nebeneinander standen, und die Hecken, die sie voneinander trennten und oben so flach gestutzt waren, dass sie aussahen wie in Blätter gehüllte Tische."

    So lernen wir zunächst den kleinen Ugwu kennen, der sich auf dem Weg in ein neues Leben befindet. Begleitet von seiner Tante tritt er eine Stelle als Houseboy bei einem Professor der Mathematik in einer mittleren Universitätsstadt an. Der Professor heißt Odenigbo und er ist keineswegs nur in das Spiel der Zahlen versunken. Odenigbo ist Sozialist, glühender Verfechter eines selbstbewusst vereinten Afrikas. Wenn er auch nicht gerade durch Schönheit glänzt, dann durch Intelligenz und Herz, durch Tatkraft und Witz. Genau deshalb liebt Olanna ihn - die überaus attraktive junge Soziologin aus schwer begütertem Elternhaus. Sie zieht zu Odenigbo in die Provinz und gibt Kurse an der Universität.

    Und so leben die drei dahin in einer afrikanischen Idylle, von der man noch kaum je gelesen hat. Ugwu wird von den beiden Erwachsenen fast als Sohn behandelt. Man genießt die Wonnen der Liebe und im Kreis der Freunde ereifert man sich über die Zukunft Nigerias. Schwierigkeiten brechen meistens aus Ecken hervor, die man nicht auf der Rechnung hatte. Odenigbo schwängert ein Mädchen vom Lande. Seine Mutter hat sie ihm gewissermaßen ins Bett geschoben, Ugwu behauptet gar, sie hätte seinen Master verhext, denn Odenigbios Mutter lehnt Olanna, die schöne studierte Tochter aus reichem Haus, vehement ab. Und so nimmt mitten in Afrika ein bürgerlicher Skandal seinen Lauf, an dem nichts erstaunt, außer seine Bürgerlichkeit. Schließlich nehmen Olanna und Odenigbo die Frucht des Seitensprungs, ein Mädchen, bei sich auf. Doch wenn Chimamanda Adichie einigermaßen ausführlich von den kleinen und großen privaten Schwierigkeiten ihrer Helden erzählt, wenn sie ebenso ausführlich von den Freunden von Odenigbu und Olanna berichtet, dann um an die Existenz einer nigerianischen Mittelklasse zu erinnern, die seitdem nicht nur in Nigeria, sondern fast überall in Afrika bedeutungslos geworden ist. Mittelklasse heißt hier: Afrikaner, die mit den Prinzipien und den Tücken der Moderne durchaus vertraut sind, an die Aufklärung glauben und doch nach einem authentischen afrikanischen Weg in die Moderne suchen. Allerdings hat Adichie keinen Roman geschrieben, um dem weißen Mann das Dickicht der nigerianischen Gesellschaft zu veranschaulichen, sondern sie erinnert auch Nigerianer an eine Zeit, in der Nigeria jung war und eine andere Zukunft vor sich hatte.

    "Und doch dachte Olanna, wenn sie Odenigbo im Bett lag, ihre Beine verschlungen, dass sich ihr Leben anfühlte, als steckte sie mitten in einem weichen Federkissen, selbst an den Tagen, an denen Odenigbo sich stundenlang in seinem Arbeitszimmer einschloss. Jedesmal, wenn er den Vorschlag machte zu heiraten, lehnte sie ab. Sie waren zu glücklich, aber das Glück war zerbrechlich, und sie wollte diese Beziehung hüten wie ihren Augapfel; die Ehe, befürchtete sie, würde ihre Verbindung gewöhnlich werden lassen."

    Selbst in der kleinen Gruppe und überschaubaren Gruppe von Odenigbo, Olanna und Ugwu machen sich die enormen Gegensätze Nigerais bemerkbar. Durch die wunderbare Figur des kleinen Ugwu verstehen wir, was es für einen Jungen vom Land bedeuten mag, mit der Moderne konfrontiert zu werden - und sei sie noch freundlich verpackt wie im Hause von Odenigbo. Wer mit Geistern und Medizinmännern aufgewachsen ist, für den sind die Requisiten der europäischen Zivilisation zugleich gespenstisch wie faszinierend. Durch Olannas schwerreiche Familie in Lagos erfahren wir wie Politiker und Unternehmer ihren Pakt der Korruption schmieden, der bis heute alle Stürme der Zeitläufe überlebt hatte. Ein Kenner des Landes bemerkte neulich: "Korruption wäre ja noch ein Fortschritt", um die Zustände zu charakterisieren. Und es kommt auch ein weißer Mann vor in diesem Roman. Richard, ein anziehender, etwas schüchterner Engländer, ein junger Schriftsteller auf der Suche nach seinem Thema und der Form, er schwankt zwischen Roman und gelehrter Abhandlung. Richard entspricht nicht im geringsten der Rolle des brutalen weißen Kolonialisten, sondern er sucht in Nigeria Heilung von der langen Erkältung seiner Kindheit in England und er findet sie in seiner Liebe zu Kainene, der Zwillingsschwester von Olanna.

    Doch die schlimmsten Verwerfungen entstehen erst als die ethnischen Spannungen sich verschärfen. Eines Tages reist Olanna in den Norden des Landes um Verwandte zu besuchen und sie wird Zeugin der furchtbaren Massaker, die die Haussa an den Igbo verüben. Wie durch ein Wunder überlebt sie, und kann in einem Güterwagen entkommen.

    "Der Zug schlingerte, und Olanna fiel wieder gegen die Kalebasse; sie spürte die feste Oberfläche des Gefäßes. Langsam streckte sie die Hand aus, fuhr sanft über die eingeritzten Linien, die kreuz und quer die Kalebasse überzogen. Sie schloß die Augen, weil sie dann weniger brannten, und hielt sie stundenlang geschlossen, die Hände an die Kalebasse gelegt, bis jemand auf Igbo schrie: 'Any agafeela! Wir haben den Niger überquert! Wir sind zu Hause!' - Eine Flüssigkeit - Urin - breitete sich auf dem Boden des Zuges aus. Olanna spürte, wie sie kalt den Stoff ihres Kleides tränkte. Die Frau mit der Kalebasse stupste sie an und winkte dann ein paar anderen Leuten zu, die in der Nähe saßen. 'Bianu, komm', sagte sie. 'Schau mal rein.' Sie öffnete die Kalebasse. 'Schau nur rein', sagte sie wieder. Olanna blickte in den Krug. Sie sah den Kopf eines kleinen Mädchens mit aschegrauer Haut und geflochtenem Haar. Die Augen waren weggerollt, der Mund stand offen. Sie starrte ihn eine Weile an, dann blickte sie weg. Jemand schrie. Die Frau legte den Deckel wieder auf die Kalebasse. 'Weißt du', sagte sie, 'wie lange ich gebraucht habe, um ihr all die Zöpfchen zu flechten? Sie hatte so dickes Haar.' - Der Zug war mit einem rostigen Kreischen zum Stehen gekommen. Olanna stieg aus und stand inmitten der wuselnden Menge: Eine Frau wurde ohnmächtig. Jungen schlugen mit der flachen Hand auf die Seite von Lastwagen und riefen rhythmisch: 'Owerri! Enugu! Nsukka!'. Olanna dachte an das geflochtene Haar, das in der Kalebasse ruhte. Sie stellte sich die Mutter vor, wie sie es flocht, wie ihre Finger es mit Pomade einölten und dann mit einem hölzernen Kamm Strähnen abteilten."

    Das ist die Vorgeschichte, die dazu führt, das Biafra sich zum unabhängigen Staat erklärt, und Nigeria sich an die Rückeroberung der abtrünnigen Region macht. Nein, auch wenn der Krieg voll entflammt, wird der Roman nicht zum Schlachtenepos. Nur für eine relativ kurze Spanne wird Ugwu zum Militärdienst verschleppt, und schließlich so schwer verwundet, dass er wieder nach Hause darf, doch die Zeit reichte, um ihn für sein Leben zu zeichnen. Sonst erleben wir einige Luftangriffe. Es war ein Krieg, in dem eine gut ausgerüstete nigerianische Armee gegen eine improvisierte Rebellentruppe vorging. Und der weiße Mann hat einmal mehr eines seiner atemberaubenden humanitären Kunststücke vollbracht: Einerseits Nigeria mit allen erdenklichen Waffen ausgestattet und andererseits mit Tränen in den Augen Hilfsgüter für die hungernden Kinder in Biafra gesammelt. Doch die große Politik spielt in diesem Roman nur die Rolle eines unvermeidlichen Hintergrundgeräusches. Es geht vielmehr um den Zusammenbruch der inneren Front, um ein jahrelanges Zurückweichen, um den Kampf gegen den Hunger. Denn die meisten Toten in diesem Krieg sind nicht Waffen zum Opfer gefallen, sondern elendiglich verhungert.

    "Sie wusste nicht, was das für ein Geruch war, aber es wurde immer stärker, und jetzt konnte sie ihn fast sehen, wie eine faulige braune Wolke. Ihr wurde schwindelig. Sie gingen in das erste Klassenzimmer. Etwa zwölf Menschen lagen auf Bambuspritschen, auf Matten, auf dem Boden. Keiner von ihnen machte sich die Mühe, die fetten Schmeißfliegen zu verscheuchen. Die einzige Bewegung, die Olanna wahrnahm, war die eines Kindes, das an der Tür saß und unentwegt seine Arme verschränkte und wieder löste. Die Knochen des kleinen Jungen traten deutlich hervor, und wenn er die Arme verschränkte, lagen sie ganz flach auf der Brust, was unmöglich gewesen wäre, wenn er auch nur etwas Fleisch auf den Rippen gehabt hätte. (...) 'Diese Frau ist tot. Wir müssen sie wegbringen', sagte Kainene. Die Frau lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, ein dünnes Baby klammerte sich an ihren Rücken. Kainene ging hinüber und hob das Kind hoch. Sie trat vor die Tür und rief: 'Pater! Pater! Noch jemand zu beerdigen!' und setzte sich dann draußen auf die Treppe, das Baby auf ihrem Schoß. 'Wie viele sterben pro Tag?' wollte Olanna wissen. Kainene schaute auf das Baby hinab. 'Seine Mutter kam aus irgendeinem Ort, der sehr früh erobert wurde. Sie waren in fünf verschiedenen Flüchtlingscamps, bevor sie hierherkamen.' 'Wie viele sterben pro Tag?' fragte Olanna wieder. Doch Kainene antwortete nicht. Endlich stieß das Baby ein kleines Wimmern hervor, und Kainene drückte ihm die mehlige Tablette in den offenen Mund. Olanna sah zu, wie Pater Marcel und ein anderer Mann die Frau an den Händen und Fußknöcheln packten und sie wegtrugen (...). 'Manchmal hasse ich sie', sagte Kainene. 'Die Vandalen?' 'Nein, die da.' Kainene zeigte in das Klassenzimmer zurück. 'Ich hasse sie dafür, dass sie sterben.' Kainene nahm das Baby mit hinein und gab es einer anderen Frau, einer Verwandten der Toten. Ihr knochiger Körper zitterte; weil ihre Augen trocken waren, brauchte Olanna einen Moment, bis sie merkte, dass die Frau weinte, das Baby an ihre flachen, ausgetrockneten Brüste gepresst."

    Chimamanda Ngozi Adichie ist erst 29 Jahre alt. Die Hälfte der Sonne ist ihr zweiter Roman. Für ihren ersten Roman Blauer Hibiskus erhielt sie mehrere internationale Preise. Adichie teilt das Schicksal vieler nigerianischer Autoren: sie lebt teilweise in den USA, wie Chinua Achebe, der Nobelpreisträger Wole Soyinka oder einer der jüngeren großartigen nigerianischen Schriftsteller Chris Abani. Ihre literarische Reputation konnte erst entstehen, weil sie in amerikanischen und britischen Verlagen veröffentlichen. In Nigeria gibt es heute so gut wie keinen eigenständigen literarischen Verlag mehr und im ganzen riesigen Land vielleicht 10 Buchhandlungen, die ein Europäer als solche erkennen könnte. Adichie promoviert zur Zeit an der amerikanischen Universität Yale. Es zieht sie aber immer mehr nach Nigeria zurück. Und um Die Hälfte der Sonne zu schreiben, brauchte sie den Himmel über Nsukka.

    "Nicht weil ich in den USA einen Roman über Nigeria geschrieben habe, habe ich Heimweh bekommen, sondern weil ich den Vereinigten Staaten gelebt habe. Da habe ich wieder angefangen Nigeria zu lieben, da habe ich meine Nigerianität wiederentdeckt und verstanden, wie tief ich in der Kultur der Igbo verwurzelt bin. Es ist einfach der Blick von außerhalb. Aus der Ferne versteht man ganz deutlich, wie viel hier kaputt gegangen ist, aber ich habe gemerkt, wie sehr ich das Land liebe. Ich liebe Nigeria, aber ich sehe auch, wie viel noch bewegt werden muss."

    Es ist eigentümlich. Man beginnt diesen Roman, man wird auf Anhieb in eine den meisten von uns doch außerordentlich entrückte Welt verschlagen und 635 Seiten lang mitgerissen. Man könnte sich sogar vorstellen, dass ein berühmter Frankfurter Literaturkritiker bei der Lektüre von Die Hälfte der Sonne nicht reflexhaft loskrähte: "Was interessiert mich Biafra?!" Auf schwer beschreibliche und doch deutlich erlebbare Weise gelingt es Chimamanda Adichie vor dem Hintergrund eines längst vergangenen regionalen Kriegs in Afrika von der ganzen Menschheit zu erzählen. Das könnte so klingen, als wollte man die Leser beruhigen: Dieser Roman einer Afrikaner, der von Afrika handelt, ist gar nicht so afrikanisch. Nein, dieser Roman einer Afrikanerin ist ganz und gar afrikanisch. 635 Seiten lang reisen wir durch Raum und Zeit - und begegnen uns ständig selbst. In einer Olanna oder einer Kainene, in einem Odenigbo, einem Ugwu oder einem Richard haben wir keine Exoten getroffen, sondern entfernte Verwandte, die uns angehen: Menschen, die unter ganz anderen Umständen an einem Projekt arbeiten, das uns vertraut erscheint: die Entfernung von den Ursprüngen - die condition moderne schlechthin. Wir überschreiten unsere soziale und kulturelle Herkunft und finden uns wieder in einem Abenteuer über das wir keine Kontrolle haben, ein Abenteuer, an dem man scheitern oder wachsen kann - oder beides.

    Am Ende ist der Krieg vorbei, er hinterlässt Tote und Verwundete, Traumatisierungen und Demütigungen. Und doch hinterlässt Chimamanda Adichies Roman nicht den Geschmack eines Menetekels, eines Schicksals, einer endgültigen Verdammung. Kein Zweifel, dieser Krieg hat nicht nur viele Menschen das Leben gekostet, er hat auch die Illusionen einer afrikanische Einheit ruiniert. Und doch schafft es Adichie ganz still aus diesem Trümmerfeld Rauchzeichen der Hoffnung emporsteigen zu lassen. Es entsteht der merkwürdige, fast paradoxe Eindruck, in Afrika könnte die Welt noch einmal neu erfunden werden. Vielleicht weil die Menschen nichts zu verlieren haben, vielleicht weil sie schon so lange gelernt haben, mit zivilisatorischen Brüchen zu improvisieren, vielleicht weil man dort immer noch darauf vertraut, dass auch noch die andere Hälfte der Sonne aufgehen wird.