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Eine Chance für Polen - eine Chance für Europa

Durak: Die Verträge sind unterschrieben, und nun gilt es, sie einzuhalten. Nach der Unterzeichnung des Beitrittsvertrages zwischen den alten und vielleicht bald neuen EU-Mitgliedsstaaten durch die Regierungschefs gestern in Athen haben die Völker nun das letzte Wort. Einige haben schon abgestimmt. Andere Referenden folgen. Im Juni haben die Polen ihre Chance. Aber diese Abstimmung scheint noch recht offen. Heute will das polnische Parlament den genauen Termin für das Referendum, das entsprechende Gesetz beschließen. Was aber kommt dann? Werden sich die Polen für die EU entscheiden oder nicht? Welche Gründe haben sie für das eine wie für das andere? Am Telefon begrüße ich den ehemaligen polnischen Außenminister, Wladislaw Bartoszewski. Schönen guten Morgen!

    Bartoszewski: Guten Morgen!

    Durak: Wie würden sich denn die Polen entscheiden, wenn das Referendum heute oder morgen stattfinden würde?

    Bartoszewski: Ich glaube, die Mehrheit der Teilnehmer würde sich so wie die Ungarn entscheiden, nicht unbedingt mit einer so großen Akzeptanz von 80 Prozent, aber für 60 Prozent sehe ich eine reelle Chance. Aber es geht um die Beteiligung an diesem Referendum. Es droht nämlich, ähnlich wie bei Ungarn, eine relativ große Nichtbeteiligung an der Entscheidung. Die Polen und Ungarn sind relativ ähnliche Völker. Das kann die Sache verkomplizieren. In unserem Fall muss danach das Parlament entscheiden, falls die Wahlbeteiligung weniger als 50 Prozent beträgt. Das Parlament wird sich sicher positiv entscheiden, aber dieser Vorgang wird die Sache verzögern. Außerdem sind verschiedene Parlamentsspiele und demagogische Auswüchse möglich, weil im Moment in Polen eine Minderheitsregierung herrscht. Entscheidungen durch Minderheitsregierungen sind immer kompliziert, auch im Parlament. In diesem Sinne haben wir gewisse Sorgen. Es ist aber keine Tragödie. Es wird politisch entschieden.

    Durak: Warum werden sich die Polen am Ende doch für die EU entscheiden?

    Bartoszewski: Ich glaube das, weil die Polen ziemlich geschichtsbewusst sind. Die Mehrheit der Polen weiß, dass wir die Einheit Europas heute brauchen, aber nicht für Herren wie Chirac oder Schröder. Wir wollen diese Zukunft Europas mit unserer Beteiligung für unsere Kinder und Enkelkinder. Wir wollen jetzt eine derartige Beteiligung, aber nicht nur für uns, sondern auch für unsere Nachbarn und Freunde in Europa. Denn wir sehen in dieser Erweiterung eine Chance für uns, aber auch eine Chance für Europa. Von zehn Ländern, die jetzt zugestimmt haben, ist Polen mit 38 Millionen Bürgern größer als neun andere zusammen. Nicht nur für Polen ist eine Beteiligung an Europa wichtig. Das ist auch für Europa wichtig, denn es hat Bedeutung in Bezug auf die Absatzmärkte, die Investitionen und dem freien Verkehr. Wir wollen, und das verstehen besonders die mittleren und jüngeren Generationen, die weitere Zukunft zusammen mit den sich schon in der Union befindenden europäischen Ländern aufbauen.

    Durak: Ist das auch eine Chance für Polen, eine starke Kraft gegen Russland hinter sich zu wissen?

    Bartoszewski: Das würde ich nicht so sehen. Wir leben nicht gegen jemanden. Wir leben für gewisse Werte. Unsere Beziehungen zu der russischen Förderation ist in vielerlei Hinsicht gut. Unsere wirtschaftliche Beziehungen mit Russland sind gut. Unsere politischen Beziehungen mit Russland sind auch ausgewogen und gut. Ich war vor einigen Wochen, Ende Januar, als ehemaliger Außenminister in Moskau. Das geschah auf persönliche Einladung meines alten Kollegen Iwanow. Ich bin der Meinung, dass Russland auf die Öffnung in Richtung Westen Wert legt. Die Öffnung Richtung Westen in Russland bedeutet erstens die Öffnung in Richtung des westlichen Nachbarns, Polen. Polen kann man nicht so einfach von den anderen Ländern trennen. Ich glaube, die Akzeptanz des EU-Beitritts ist die Vervollständigung und Ergänzung des ganzen historischen Prozesses ab 1989. Diese ganze Westorientierung der neuen souveränen polnischen Republik ab Ende 1989 ist in der alten polnischen Tradition, die nicht mit Stalin geboren oder gestorben ist, verwurzelt. Diese Tradition war eine ähnliche Tradition der Bindung mit westlichen Ländern, mit Rom, mit der Kirche des Westens und mit Amerika. Das sind alte in uns existierende Tendenzen.

    Durak: Nun ist ja aber die Chance da, diese Bindung zu vervollständigen. Welche Gründe haben denn die Zweifelnden, die Skeptiker oder gar die Ablehnenden im polnischen Volk, nicht in die EU zu wollen?

    Bartoszewski: Ja, das ist so wie überall. Die Populisten fragen sich, warum sich die Polen an die anderen anpassen sollen? Sie sagen: 'Wir sind doch jemand.' Wir sind in diesem Fall nicht anders als die österreichischen oder französischen Populisten. Wir haben überall ähnliche Parolen. Sie sagen: 'Unser Volk ist von Bedeutung. Wir sind klüger und besser als die anderen.' Das ist zum Lachen, aber so denken Tausende von Menschen. Einige denken bewusst so. Andere haben Ängste. Die Ängste zeigen sich meistens bei Menschen vom Lande und bei älteren Menschen, die über 60 Jahre alt sind.

    Durak: Wie kann man diese Menschen vom Gegenteil überzeugen?

    Bartoszewski: Man redet mit ihnen, man schreibt, man druckt. Man macht Versammlungen. Dazu muss man leider offen sagen, dass diese Bemühungen für die Leute sind, die am wenigsten ausgebildet sind. Das ist also für die Menschen, die keine mittlere Reife haben oder sogar nur die Volksschule absolviert haben. Für diese Leute sind die sachlichen, politische, traditionellen und intellektuellen Argumente keine sichere Ebene zum gemeinsamen Nachdenken und Reflektieren mit den anderen.

    Durak: Lassen Sie uns noch einen kurzen Blick in die Zukunft werfen. Wenn es denn so käme, dass das Parlament dann doch das letzte Wort hätte, würde das dann nicht später zu großen inneren Schwierigkeiten in Polen führen?

    Bartoszewski: Nein, das glaube ich nicht. Die Schwierigkeiten sind bei uns, so wie überall in Europa, teilweise sozialer Natur. Ich denke an die Arbeitslosigkeit. Teilweise sind sie wirtschaftlicher Natur. Ich denke an die Krise der Wirtschaftsentwicklung in den letzten Monaten. Aber das ist nicht nur bei uns der Fall. Außerdem gibt es gewisse psychologische Probleme, wie Frustrationen, Verbitterung darüber, dass die Regierung, die erst seit anderthalb Jahren eingesetzt und gewählt ist, momentan nicht so populär ist. In meinen Augen ist sie überhaupt nicht populär, aber das ist kein Geheimnis mehr. All diese Beweggründe und Beobachtungen können natürlich auch auf die Entwicklung des Staates und des Landes Wirkung haben. Wir hoffen, dass wir eine neue Regierung bekommen werden. Entscheidungen derart wie die EU-Entscheidungen sind doch gültig nicht für eine Regierung. Die Leute, die heute mit 18,19, 20 oder 21 Jahren voller Hoffnung die europäische Dimension bestätigen und optimistisch betrachten, werden sich sicherlich keine Sorgen machen, dass die eine Regierung fallen und eine andere Regierung kommen wird. Polen wird sich immer mehr in die Union integrieren.

    Durak: Vielen Dank, Herr Bartoszewski, für das Gespräch!

    Link: Interview als RealAudio