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"Eine glatte Ohrfeige für die deutsche Politik"

Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, hat sich erfreut über das Urteil des Bundessozialgerichts zu den Hartz-IV-Sätzen für Kinder geäußert. Vorausgegangen war die Entscheidung des Gerichts, dass der Regelsatz für Kinder dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden müsse. Hilgers drängte nun auf eine möglichst kurze Frist für die Regierung, den Regelsatz anzuheben.

Heinz Hilgers im Gespräch mit Friedbert Meurer | 27.01.2009
    Friedberg Meurer: 211 Euro stehen nach der letzten Erhöhung einem Kind unter 14 Jahren in Deutschland als Regelsatz zu, wenn die Familie von Arbeitslosengeld II lebt. Das ist dann deutlich weniger als bei einem Erwachsenen, nämlich nur 60 Prozent des Erwachsenensatzes. Das Bundessozialgericht in Kassel hat heute den Weg dafür frei gemacht, dass der Regelsatz für Kinder dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden muss - mit einem doch recht klaren Fingerzeig, dass die niedrigeren Sätze nicht begründet seien. Heinz Hilgers ist der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, bei uns im Deutschlandfunk jetzt am Telefon. Guten Tag, Herr Hilgers.

    Heinz Hilgers: Guten Tag!

    Meurer: Wie gut finden Sie die Entscheidung des Bundessozialgerichtes?

    Hilgers: Ich bin froh, dass die endlich gefallen ist. Es ist eine glatte Ohrfeige für die deutsche Politik, nicht nur für eine aktuelle Regierung, sondern für alle Regierungen seit fast 20 Jahren, denn wir, der Deutsche Kinderschutzbund, aber auch die Wohlfahrtsverbände von Caritas bis DPWV fordern seit vielen Jahren einen eigenständigen Kinderregelsatz, der sich tatsächlich an den Bedürfnissen unserer Kinder orientiert.

    Meurer: Ein eigenständiger Regelsatz, also nicht abgeleitet durch eine Prozentzahl von den Erwachsenen. Zu welchem Ergebnis kommen Sie denn statt 211 Euro?

    Hilgers: Wenn man einmalige Beihilfen wieder einführt für Schuhe, für Bekleidung, für die Kosten der Bildung, dann kämen wir zu einem Regelsatz für unter Sechsjährige von 254 Euro, von Sechs- bis unter 14-Jährige von 297 Euro und von 14- bis 18-Jährige von 321 Euro. Bleibt man bei der Pauschalierung, was wir für falsch halten, weil wir wollen, dass auch in schwierigen Fällen immer die Leistung voll beim Kind ankommt - deswegen die einmaligen Beihilfen -, dann würde das sogar 276 beziehungsweise 332 oder 358 Euro sein.

    Meurer: Ganz kurz, weil das mit der Pauschalierung interessant ist. Dieses Geld, was in den Regelsatz einberechnet wird, wird dann von etlichen Eltern doch nicht für Schuhe oder für Unterrichtsmaterial ausgegeben.

    Hilgers: Die meisten Eltern verwenden das sehr richtig. Gerade bei den Eltern von Hartz-IV-Kindern und auch von Asylbewerbern oder auch bei Eltern, die SGB 12 beziehen, sind viele dabei, die sparen sich den letzten Cent vom Mund ab, damit es ihren Kindern mal besser geht. Die darf man nicht pauschal diffamieren. Aber es gibt auch einige, die sind antriebsarm geworden, die sind vielleicht selbst alkoholkrank oder sonst psychisch erkrankt oder sind einfach nicht in der Lage, das mehr zu steuern. Da geht sicherlich manches daneben und da sind einmalige Beihilfen eine gute Möglichkeit für die Jugendhilfe und auch für die entsprechenden zuständigen Ämter, nachzusteuern.

    Meurer: Nun wird argumentiert, Kinder sollen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Was zählt für Sie zum gesellschaftlichen Leben?

    Hilgers: Das wichtigste, um was es geht, ist erst mal Bildung. Das ist skandalös, in dem Erwachsenenregelsatz ist nichts für Bildung drin, nichts für Schule drin. Die gehen ja auch meistens nicht mehr in die Schule. Und wenn man 60 Prozent von nichts nimmt, hat man Kosten der Bildung gar nicht berücksichtigt. Die Kosten der Bildung sind gestiegen. Und wenn ich jetzt noch den außerschulischen Unterricht hinzunehme, im Sport, zum Beispiel der Sportverein, oder die Musikschule, warum soll ein Kind von einem Hartz-IV-Empfänger nicht die Chance haben, an einer außerschulischen musischen Bildung teilzunehmen. Genau diese Bereiche, da machen wir den größten Fehler, weil sehen Sie, der vorsorgende Sozialstaat zeichnet sich dann aus, wenn er Hilfe zur Selbsthilfe leistet. Und Bildung und eine gute Gesundheitsvorsorge sind die beiden wichtigsten Säulen der Hilfe zur Selbsthilfe für Kinder, denn nur wenn das beides stimmt, werden sie ein selbst bestimmtes und selbst finanziertes Leben in der Zukunft führen können.

    Meurer: Glauben Sie, dass Kinder mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen werden, wenn ihre Eltern 30 Euro mehr für sie bekommen?

    Hilgers: Nein. Das alleine ist kein Grund. Wir müssen immer finanzielle Hilfe durch eine gute persönliche Hilfe ergänzen. Nur die Kombination von persönlichen und finanziellen Hilfen führt passgenau dazu, dass Hilfe zur Selbsthilfe geleistet wird und dass Kinder sich emanzipieren können und dass wir das erreichen können, dass sie später nicht wieder automatisch Leistungsempfänger werden, sondern vielleicht sogar Leistungsträger der Gesellschaft.

    Meurer: Wie optimistisch sind Sie denn, denn noch ist ja keine Entscheidung gefallen, dass das Bundesverfassungsgericht dafür sorgen wird, dass die Regelsätze für Kinder angehoben werden?

    Hilgers: Das Bundessozialgericht hat sehr schlüssig argumentiert. Es hat auch die Argumente anerkannt, die die Wohlfahrtsverbände seit Jahren vortragen. Deswegen glaube ich, dass auch das Bundesverfassungsgericht sich der Argumentation anschließen wird. Jetzt kommt es darauf an, das Verfassungsgericht davon zu überzeugen, dass die Bundesregierung jetzt lange genug herumgeeiert hat, über die verschiedensten parteipolitischen Zusammensetzungen seit Jahrzehnten hinweg. Ich möchte jetzt darauf drängen, dass das Bundesverfassungsgericht der Regierung eine möglichst kurze Frist setzt, damit es zum eigenständigen Kinderregelsatz kommt. Das ist nicht nur gut für die Kinder von Hartz-IV-Empfängern; das ist auch gut für alle Kinder in Deutschland, denn aus dem Grundsatz, dass das Existenzminimum eines Menschen nicht besteuert werden darf, folgt natürlich, dass das automatisch Folgen hat für Kinderfreibetrag und Kindergeld.

    Meurer: Wir werden sehen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Danke schön! - Das war Heinz Hilgers, der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes.