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Gine Cornelia Pedersen: „Null“
Eine Heranwachsende kämpft um ihr Leben

Auf bedrängende Weise erzählt die Norwegerin Gine Cornelia Pedersen in ihrem Debütroman „Null“ von einem jungen Mädchen, das versucht, einen Platz in der Welt zu finden. Und das eigene Ich. Nach wenigen Seiten schon stürzt die Jugendliche in eine Psychose.

Von Jörg Plath | 25.11.2021
Im norwegischen Original erschien Gine Cornelia Pedersens Debütroman bereits im Jahr 2013.
Im norwegischen Original erschien Gine Cornelia Pedersens Debütroman bereits im Jahr 2013. (Borg Hakon)
Ein Staccato von kurzen Sätzen. Keiner hat einen Punkt, es geht ja gleich weiter – mit dem nächsten kurzen Satz. Jeder kommt mit Volldampf und Absolutheitsanspruch daher, und fast immer spricht die Erzählerin über sich selbst.
"Ich bin zehn Jahre alt
Ich absorbiere alles
Ich habe keine Filter"
Diese Durchlässigkeit ist natürlich ein Problem für das junge Mädchen – und zugleich das geschickt gehandhabte erzählerische Verfahren Gine Cornelia Pedersens in ihrem Debütroman „Null“. Die Norwegerin zielt auf intime Nähe und den direkten Einblick in das Erleben einer Heranwachsenden, die mit 16 Jahren bei der geschiedenen Mutter auszieht, das Gymnasium besucht, Freunde hat und sie wegstößt, sie verliert und sich auch.
"Ich will keine Hilfe
Ich bin gern am Boden
Ich ertrinke in meinem Egoismus
Das ist wundervoll"
Die junge Frau wird ausgegrenzt, zieht nach Oslo, wird wieder ausgegrenzt und zieht zurück, sie wird aggressiv gegen andere und gegen sich – und schließlich in eine psychiatrische Klinik eingeliefert.
"Es ist Sommer in der Klapse
Ich rauche zwei Schachteln pro Tag und trinke pro Stunde eine Kanne Kaffee
Die Patienten sitzen im Garten, jeder mit seiner Tasse und seiner Packung Kippen
Ich schwitze und zittere
Wir reden über Elektroschocks und Zwangsisolierung"

Gewalt gegen den Geliebten

Nicht einmal 30 locker bedruckte Seiten benötigt Gine Cornelia Pedersen für den Sturz in den psychotischen Wahnsinn. Pedersen ist Schauspielerin, und ihr Debütroman, 2013 mit einem norwegischen Debütandenpreis ausgezeichnet, gleicht einem Theatermonolog. Ihre junge Erzählerin hört Stimmen im Kopf und kann sich nicht wehren. Sie möchte etwas sagen, doch ihr Mund bleibt verschlossen. Sie liebt und will den Geliebten gewaltsam von sich stoßen.
"Ich bin wie erstarrt
Ich spüre den Drang, ihm ins Gesicht zu schlagen, ihn mit dem Kopf gegen die Tür zu stoßen
Ihm zu sagen, dass ich ihn hasse und dass er sich verfickt noch mal verpissen soll, bevor ich ihn umbringe
Gleichzeitig will ich ihn trösten, ihn umarmen, ihm sagen, dass er großartig ist und cool und dass ich ihn mehr liebe als alles andere auf dieser Welt
Ich will auf ihn aufpassen
Ihm übers Haar streichen und sagen, dass ich alles tun werde, damit wir zusammen sein können
Ich bin zu nichts davon in der Lage"
Die junge Frau setzt die Medikamente ab, die ihre Gefühle und Gedanken auf Null herunterdimmen, und verlässt die psychiatrische Klinik. Brücken zu anderen Menschen, die es sonst nicht zu geben scheint, bauen allein Sex und Drogen. Sie schenken ihr einen Rausch, in dem sie der Auflösung durch den Widerstreit in ihr für Momente entkommt: Die Stimmen schweigen.

Reise zum Tod

Gerade, als die rüde Erzählweise einer Geschundenen, in sich Eingesperrten zu langweilen droht, weil nur die fortwährende Steigerung der Drastik sie beglaubigt, weil es keine zweite Ebene, keine Relativierung, keine Reflexion in diesem Ich-Gefängnis gibt, hebt das Buch ab: Die junge Frau reist nach Peru, um dem Tod zu begegnen – und hoffentlich dem engelartigen, schützenden Wesen, das ihr Freund auf einer ähnlichen Reise kennenlernte. Sex und Drogen sorgen auch in Peru für Kontakt zu anderen Menschen, doch alles läuft aus dem Ruder, und Pedersen zieht erzählerisch die Zügel an. Die Sätze werden noch knapper, die Auslassungen größer. Der Rausch ist zunächst wie erhofft Zuflucht und Brücke, dann wird er selbstzerstörerisch.
"Schwedische Jungs treffen
Schwedische Jungs lachen
Ich lustig
Viele Male Kokain
Sex im Hotel
Alle zusammen
Ferien
Kokain in Muschi schmieren
Party
Einer nach dem anderen
In Spiegel schauen
Nicht wissen wer
Spiegel zerschlagen
Hi Ha
Nichts hört auf
Blut von Hand
Blut lecken
Blut auf Jungs schmieren
Witzig
Lachen
Kokain
Nochmal in Muschi
Bisschen weh
Trocken
Hart
Kotzen Festgebunden
Kokain in Mund und Nase
Kokain auf Schwanz
Schwanz in Muschi und Mund
Schwanz in Arsch
Nicht gut
Bluten
Schlottern
Viel Kokain
Kokain
Schwarz"
Es kommt noch heftiger – und natürlich bleibt unklar, ob die Erlebnisse, auch die folgende Begegnung mit dem Tod, Realität oder Halluzination sind. Doch erstaunt stellt die junge Frau fest, dass der Wahnsinn in ihr „logisch“ wird: Sie kann die Stimmen unterscheiden als „das Innere und das Wütende“. Der Monolog aus der begrenzten Erzählperspektive, deren Möglichkeiten Gine Cornelia Pedersen geschickt ausreizt durch Aussparungen und eine sehr gegenwärtige Drastik, kommt an sein Ende.

Die Stimmen außerhalb des Kopfes

„Null“ ist kein Bildungsroman, vielleicht jedoch so etwas wie ein Selbst-Bildungsroman nicht nur, aber vor allem für heranwachsende Leser. Pedersen erzählt nämlich vom ältesten Sujet des Romans: dem Entstehen eines Ich. Bei ihr entsteht es vor allem aus sich selbst. Wenn es aber ein Ich gibt, gibt es auch ein Du und ein Ihr. Das Ich spricht dann nicht mehr nur zu sich, es spricht auch zu anderen. Am Ende betritt die junge Frau als Schauspielerin die Bühne und ist bereit, viele Stimmen zu sprechen.
Gine Cornelia Pedersen: „Null“
Aus dem Norwegischen von Andreas Donat
Luftschacht Verlag, Wien 2021
186 Seiten, 20 Euro.