Dirk-Oliver Heckmann: Es ist ein Paradoxon des bundesdeutschen Wahlrechts. In bestimmten Fällen stellt eine Partei nach Bundestagswahlen weniger Abgeordnete im Parlament, je mehr sie Zweitstimmen erzielt. "Negatives Stimmgewicht" heißt dieser Effekt, der bei der Nachwahl zur Bundestagswahl im Jahr 2005 in einem Dresdener Wahlkreis offenbar wurde. Grund ist das komplizierte System von Überhangmandaten, die entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach der Zweitstimme zusteht. Den Wählern in Dresden war klar, dass eine hohe Zahl an Zweitstimmen für die CDU dazu führen würde, dass die Partei ein Überhangmandat wieder zurückgeben müsste. Viele gaben ihre Stimme deshalb offenbar der FDP. Das Bundesverfassungsgericht hatte heute über entsprechende Wahlrechtsbeschwerden zu entscheiden. Das Ergebnis: Das derzeitige Wahlrecht verstößt in Teilen gegen die Verfassung. Neu gewählt werden muss deshalb allerdings nicht. Am Telefon ist jetzt Professor Eckard Jesse. Er ist Politikwissenschaftler an der Technischen Universität Chemnitz. Guten Tag Herr Professor Jesse.
Eckard Jesse: Herr Heckmann, ich grüße Sie. Schönen guten Tag!
Heckmann: Das Wahlrecht in der Bundesrepublik ist also teilweise verfassungswidrig. Sind Sie überrascht?
Jesse: Nein, ich bin nicht überrascht. Ich gehöre zu denjenigen, die auf dieses negative Stimmgewicht mehrfach hingewiesen haben. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist logisch, ist überfällig. Im Jahr 1998 hatte man sich schon damit befasst und man hatte die Überhangmandate mit 4:4 gerade noch so abgesegnet.
Heckmann: Ist dieser Fall, der jetzt in Dresden aufgetaucht ist, ein Sonderfall, oder schlägt dieser Effekt regelmäßig durch, ohne dass der Wähler es überhaupt merkt?
Jesse: Es ist eher eine Ausnahme. Wir haben bis 1987 17 Überhangmandate gehabt. Die Zahl der Überhangmandate hat sich sehr gehäuft nach der deutschen Einheit. Das hing weniger mit der unterschiedlichen Stimmabgabe von Erst- und Zweitstimme zusammen, sondern hing zusammen mit den kleineren Wahlkreisen, mit der Tatsache, dass wir eine starke Drittpartei hatten wie Die Linke, und auch mit der niedrigen Wahlbeteiligung. Jedenfalls ist es eher eine Ausnahme.
In Dresden war es deshalb interessant, weil jeder wusste, wenn man den Kandidaten der CDU wählt, kann die CDU ein weiteres Überhangmandat hier kriegen, es dürfen nur nicht sehr viele Zweitstimmen für die CDU kommen, so dass potenzielle CDU-Wähler dann FDP gewählt haben. Auf diese Art und Weise erreichte die Union ein weiteres Überhangmandat. Sie hatte insgesamt vier. Bei einer anderen Konstellation hätte es so aussehen können, dass sie nur noch insgesamt ein Mandat mehr hatte als die SPD. Es hätte in der Tat sehr knapp werden können, denn die SPD hatte 34,2 Prozent, die CDU hatte 35,2 Prozent. Es sah vor Dresden aber so aus, dass die SPD neun Überhangmandate hatte und die CDU sechs. Dann bekam sie aber ein weiteres, so dass die Mehrheit von CDU/CSU gegen die SPD relativ klar war.
Heckmann: Aber wir haben das richtig verstanden, dass dieser Effekt eintreten kann, auch wenn es nicht um eine Nachwahl geht wie jetzt in Dresden?
Jesse: Ja. Der Effekt ist auch schon eingetreten. Diese Fälle gibt es auch. Das merken die Bürger dann nur nicht und es ist auch nicht so, dass das jetzt systematisch gesteuert wird. Manche Wählerinitiativen geben das zwar heraus, aber das wird von der Masse der Bürger nicht wahrgenommen. Es gibt aber diese Fälle. In Bremen hatten wir es schon mal, dass so etwas passiert ist, und das ist völlig unlogisch. Man wählt eine Partei und trägt dazu bei, dass sie ein Mandat weniger bekommt.
Heckmann: Wer hat denn in der Vergangenheit unter diesem Effekt gelitten, Herr Professor Jesse? Kann man sagen, dass es die kleinen Parteien sind?
Jesse: Nein, das kann man nicht sagen. Es ist so, dass die Überhangmandate ja nur große Parteien bekommen. Mal ist es die Union, mal ist es die SPD. Insgesamt kann man sagen: Die Überhangmandate haben den großen Parteien genützt. 1994 hätte die Union ohne Überhangmandate mit der FDP nur zwei Mandate Vorsprung gehabt gegenüber den anderen Parteien. So hatten sie acht Mandate. Umgekehrt hat die SPD im Jahr 2002 in der Form profitiert, dass die Mehrheit von SPD und Grünen deutlich stärker wurde, als es ohne Überhangmandate gewesen wäre, wobei die Ursachen für die Überhangmandate höchst unterschiedlicher Natur sind. Nicht immer ist das negative Stimmgewicht der Fall.
Heckmann: Jetzt ist es so, Herr Professor Jesse, dass bis 2011 das Wahlrecht geändert werden muss. Das heißt für die nächste Bundestagswahl wird noch das alte, das verfassungswidrige Wahlrecht angewendet?
Jesse: Ja. 2009 wird man noch nach dem alten Wahlrecht wählen und danach muss man sich ein neues Wahlrecht ausdenken. Das ist meines Erachtens aber ganz einfach. Man könnte es einfach dadurch machen, dass Überhangmandate nämlich dann nicht mehr auftreten, wenn die Direktmandate unmittelbar von den einer Partei insgesamt zustehenden Mandaten abgezogen würden - und zwar vor der Aufteilung der Mandate einer Partei auf die einzelnen Länder. Wir teilen nämlich jetzt erst auf: Wie viele Mandate bekommen die einzelnen Parteien in einem Land. Und dann sieht man: Wie viele Direktmandate fallen auf sie. Wenn eine Partei mehr Direktmandate als Landeslistenmandate hat, dann werden die Direktmandate nicht abgezogen. Wenn man es aber so macht wie ich es vorgeschlagen habe, können keine Überhangmandate mehr auftreten.
Heckmann: Aber wenn die Lösung so einfach ist, warum ist das nicht schon immer so gehandhabt worden?
Jesse: Erstens waren es Ausnahmefälle. Das hat nur ein paar Fachleute interessiert. Wahlrecht ist ein trockenes Thema. Da standen jetzt keine strategischen Interessen im Mittelpunkt. Nur durch die Nachwahl in Dresden im Jahre 2005 ist einer größeren Öffentlichkeit die Paradoxie der Überhangmandate deutlich geworden.
Heckmann: Und wenn die Lösung so einfach ist, um noch einmal auf diesen Punkt zu kommen, Herr Professor Jesse, warum kann das nicht schneller umgesetzt werden? Warum muss dann bis 2011 gewartet werden? Es gibt ja aus Berlin jetzt schon die ersten Signale, dass man sich dort Zeit lassen möchte.
Jesse: Ja. Das Bundesverfassungsgericht meint, dass der Bundestag das nicht so schnell hinkriegt. Ich hätte mir auch eine Lösung vorstellen können, dass man das schon bei der Bundestagswahl 2009 ermöglichen kann. Es wäre ja auch eine andere Variante möglich. Die Einführung von Ausgleichsmandaten wäre eine weitere Möglichkeit. Aber das hätte man durchaus auch schon 2009 vorsehen können. Meines Erachtens ist es eine längst überfällige Entscheidung und das Bundesverfassungsgericht korrigiert auf diese Art und Weise auch frühere eigene Entscheidungen.
Heckmann: Rechnen Sie kurz gesprochen noch mit einem größeren politischen Streit zwischen den Parteien?
Jesse: Nein, nein, nein. Unter keinen Umständen! Das ist einleuchtend. Es gibt auch hier keinen großen Dissens in der Wissenschaft und das will etwas heißen. Bei vielen Fragen lautet es "zwei Professoren, drei Meinungen", aber hier ist die Wissenschaft einig und die Politik trägt diese Auffassung des Gerichts mit.
Heckmann: Der Politikwissenschaftler Professor Eckard Jesse von der Technischen Universität Chemnitz. Danke Ihnen!
Eckard Jesse: Herr Heckmann, ich grüße Sie. Schönen guten Tag!
Heckmann: Das Wahlrecht in der Bundesrepublik ist also teilweise verfassungswidrig. Sind Sie überrascht?
Jesse: Nein, ich bin nicht überrascht. Ich gehöre zu denjenigen, die auf dieses negative Stimmgewicht mehrfach hingewiesen haben. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist logisch, ist überfällig. Im Jahr 1998 hatte man sich schon damit befasst und man hatte die Überhangmandate mit 4:4 gerade noch so abgesegnet.
Heckmann: Ist dieser Fall, der jetzt in Dresden aufgetaucht ist, ein Sonderfall, oder schlägt dieser Effekt regelmäßig durch, ohne dass der Wähler es überhaupt merkt?
Jesse: Es ist eher eine Ausnahme. Wir haben bis 1987 17 Überhangmandate gehabt. Die Zahl der Überhangmandate hat sich sehr gehäuft nach der deutschen Einheit. Das hing weniger mit der unterschiedlichen Stimmabgabe von Erst- und Zweitstimme zusammen, sondern hing zusammen mit den kleineren Wahlkreisen, mit der Tatsache, dass wir eine starke Drittpartei hatten wie Die Linke, und auch mit der niedrigen Wahlbeteiligung. Jedenfalls ist es eher eine Ausnahme.
In Dresden war es deshalb interessant, weil jeder wusste, wenn man den Kandidaten der CDU wählt, kann die CDU ein weiteres Überhangmandat hier kriegen, es dürfen nur nicht sehr viele Zweitstimmen für die CDU kommen, so dass potenzielle CDU-Wähler dann FDP gewählt haben. Auf diese Art und Weise erreichte die Union ein weiteres Überhangmandat. Sie hatte insgesamt vier. Bei einer anderen Konstellation hätte es so aussehen können, dass sie nur noch insgesamt ein Mandat mehr hatte als die SPD. Es hätte in der Tat sehr knapp werden können, denn die SPD hatte 34,2 Prozent, die CDU hatte 35,2 Prozent. Es sah vor Dresden aber so aus, dass die SPD neun Überhangmandate hatte und die CDU sechs. Dann bekam sie aber ein weiteres, so dass die Mehrheit von CDU/CSU gegen die SPD relativ klar war.
Heckmann: Aber wir haben das richtig verstanden, dass dieser Effekt eintreten kann, auch wenn es nicht um eine Nachwahl geht wie jetzt in Dresden?
Jesse: Ja. Der Effekt ist auch schon eingetreten. Diese Fälle gibt es auch. Das merken die Bürger dann nur nicht und es ist auch nicht so, dass das jetzt systematisch gesteuert wird. Manche Wählerinitiativen geben das zwar heraus, aber das wird von der Masse der Bürger nicht wahrgenommen. Es gibt aber diese Fälle. In Bremen hatten wir es schon mal, dass so etwas passiert ist, und das ist völlig unlogisch. Man wählt eine Partei und trägt dazu bei, dass sie ein Mandat weniger bekommt.
Heckmann: Wer hat denn in der Vergangenheit unter diesem Effekt gelitten, Herr Professor Jesse? Kann man sagen, dass es die kleinen Parteien sind?
Jesse: Nein, das kann man nicht sagen. Es ist so, dass die Überhangmandate ja nur große Parteien bekommen. Mal ist es die Union, mal ist es die SPD. Insgesamt kann man sagen: Die Überhangmandate haben den großen Parteien genützt. 1994 hätte die Union ohne Überhangmandate mit der FDP nur zwei Mandate Vorsprung gehabt gegenüber den anderen Parteien. So hatten sie acht Mandate. Umgekehrt hat die SPD im Jahr 2002 in der Form profitiert, dass die Mehrheit von SPD und Grünen deutlich stärker wurde, als es ohne Überhangmandate gewesen wäre, wobei die Ursachen für die Überhangmandate höchst unterschiedlicher Natur sind. Nicht immer ist das negative Stimmgewicht der Fall.
Heckmann: Jetzt ist es so, Herr Professor Jesse, dass bis 2011 das Wahlrecht geändert werden muss. Das heißt für die nächste Bundestagswahl wird noch das alte, das verfassungswidrige Wahlrecht angewendet?
Jesse: Ja. 2009 wird man noch nach dem alten Wahlrecht wählen und danach muss man sich ein neues Wahlrecht ausdenken. Das ist meines Erachtens aber ganz einfach. Man könnte es einfach dadurch machen, dass Überhangmandate nämlich dann nicht mehr auftreten, wenn die Direktmandate unmittelbar von den einer Partei insgesamt zustehenden Mandaten abgezogen würden - und zwar vor der Aufteilung der Mandate einer Partei auf die einzelnen Länder. Wir teilen nämlich jetzt erst auf: Wie viele Mandate bekommen die einzelnen Parteien in einem Land. Und dann sieht man: Wie viele Direktmandate fallen auf sie. Wenn eine Partei mehr Direktmandate als Landeslistenmandate hat, dann werden die Direktmandate nicht abgezogen. Wenn man es aber so macht wie ich es vorgeschlagen habe, können keine Überhangmandate mehr auftreten.
Heckmann: Aber wenn die Lösung so einfach ist, warum ist das nicht schon immer so gehandhabt worden?
Jesse: Erstens waren es Ausnahmefälle. Das hat nur ein paar Fachleute interessiert. Wahlrecht ist ein trockenes Thema. Da standen jetzt keine strategischen Interessen im Mittelpunkt. Nur durch die Nachwahl in Dresden im Jahre 2005 ist einer größeren Öffentlichkeit die Paradoxie der Überhangmandate deutlich geworden.
Heckmann: Und wenn die Lösung so einfach ist, um noch einmal auf diesen Punkt zu kommen, Herr Professor Jesse, warum kann das nicht schneller umgesetzt werden? Warum muss dann bis 2011 gewartet werden? Es gibt ja aus Berlin jetzt schon die ersten Signale, dass man sich dort Zeit lassen möchte.
Jesse: Ja. Das Bundesverfassungsgericht meint, dass der Bundestag das nicht so schnell hinkriegt. Ich hätte mir auch eine Lösung vorstellen können, dass man das schon bei der Bundestagswahl 2009 ermöglichen kann. Es wäre ja auch eine andere Variante möglich. Die Einführung von Ausgleichsmandaten wäre eine weitere Möglichkeit. Aber das hätte man durchaus auch schon 2009 vorsehen können. Meines Erachtens ist es eine längst überfällige Entscheidung und das Bundesverfassungsgericht korrigiert auf diese Art und Weise auch frühere eigene Entscheidungen.
Heckmann: Rechnen Sie kurz gesprochen noch mit einem größeren politischen Streit zwischen den Parteien?
Jesse: Nein, nein, nein. Unter keinen Umständen! Das ist einleuchtend. Es gibt auch hier keinen großen Dissens in der Wissenschaft und das will etwas heißen. Bei vielen Fragen lautet es "zwei Professoren, drei Meinungen", aber hier ist die Wissenschaft einig und die Politik trägt diese Auffassung des Gerichts mit.
Heckmann: Der Politikwissenschaftler Professor Eckard Jesse von der Technischen Universität Chemnitz. Danke Ihnen!