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Uwe Johnson: "Zwei Ansichten"
Eine Liebe zwischen Ost und West

Medikamentenschmuggel, verbotene Leidenschaft und dramatische Republikfluchtversuche: Von all dem erzählt Uwe Johnsons in seinem jetzt neu zu entdeckenden Roman „Zwei Ansichten“. Das erstmals 1965 erschienene Buch liest man heute mit Staunen und Befremden gleichermaßen.

Von Katharina Teutsch | 05.12.2021
Uwe Johnson 1971 und der Band: „Zwei Ansichten“ der Werkausgabe
Uwe Johnson 1971 und der Band: „Zwei Ansichten“ der Werkausgabe (Foto: IMAGO / Sven Simon, Buchcover: Suhrkamp Verlag)
Ein Nebenvergnügen bei der Beschäftigung mit großen Autoren ist deren Rezeptionsgeschichte. Denn nicht nur ist der Blick, den man sechzig Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer auf einen Autor wie Uwe Johnson richten kann, ein von den historischen Ereignissen mit geprägter. Auch wird die zeitgenössische Literaturkritik zum Spiegel einer Epoche zwischen Katastrophe, Aufbruch und vermeintlich neuer Katastrophe.
Politisch passte Johnson in keine Kategorie. War er ein Dissident?  Ein Ostschriftsteller im Westen? Gar ein Ostalgiker?
Ästhetisch steht sein Werk für einen differenzierten Politikbegriff und für eine seltsam verquälte Sprachverliebtheit, die den damaligen Literaturkritikern nicht entgangen war. „Ledern, nein kunstledern“, befand Marcel Reich-Ranicki, der Johnson gleichwohl für einen Großen hielt. Ein anderer Kritiker mutmaßte, der Autor habe generell ein Problem mit der Darstellung von Menschen. Liest man einen also schon damals als unzeitgemäß geltenden Uwe Johnson mit dem Wissen von heute, dann entsteht zunächst einmal dies vor dem Auge der Leserin: die kulturelle Atmosphäre der Nachkriegszeit im geteilten Berlin – und zwar fast schon wie ein Epochengeruch.
„Sie kannte die Linien der hiesigen Verkehrsmittel, die Stadtteile lagen in ihrem Bewusstsein voneinander abgehoben, sie hatte auch keine Scheu im Gespräch mit Westbürgern. Noch das übermäßige Angebot von Waren und die Art zu leben in diesem Gebiet waren ihr nicht unheimlich, aber eigentlich wusste sie nicht, welche Wirtschaft es zusammenhielt und aufbaute. Ihre politischen wie ökonomischen Kenntnisse des Währungsgebietes Westmark hatte sie aus dem anderen Gebiet bezogen. In den Versammlungen ihrer Gewerkschaft war sie zwar meist von Arbeit müde und konnte auch die Sprache schwer verstehen, in der der freien Warenwirtschaft das baldige Ende vorausgesagt wurde; bei Aufenthalten in Westberlin war ihr das Westgeld regelmäßig zu schade gewesen für Zeitungen, und in gefundenen hatte sie meist doch nur gesucht nach Nachrichten über den eigenen Staat, die denen ihres Staates widersprachen.“
Im Rahmen der Werkausgabe, die peu à peu im Suhrkamp Verlag erscheint, ist jetzt ein schmaler Text von Uwe Johnson ohne Gattungsbezeichnung herausgekommen. Er handelt von der Ostberliner Krankenschwester D., die Johnson programmatisch mit ihrem Initial abkürzt. Dem Fräulein D. wird im Laufe des Romans die Flucht aus dem eingemauerten Staat gelingen. Mit Hilfe des jungen B., den sie 1961, kurz vor dem Bau der Mauer, in Westberlin kennengelernt hatte. Der angehende Fotograf aus Holstein hatte sich als Mauerbaustellenchronist einen Namen machen wollen.
Die D. und der B. also. Reich-Ranicki hatte auf Chiffren für die jeweiligen Staaten DDR und BRD getippt. Johnson hatte das bestritten, obwohl er seinen Text „Zwei Ansichten“ genannt hatte.

Ein Schriftsteller des Exils

Das Buch folgte auf seine zwei großen Kritikererfolge „Mutmaßungen über Jakob“ sowie „Das dritte Buch über Achim“. Beide Romane hatten Johnson den Titel „Dichter der beiden Deutschland“ eingebracht. Er selbst lehnte dieses Label ab. Der Johnson-Entdecker und später auch Johnson-Skeptiker Marcel Reich-Ranicki pflichtete dieser Selbsteinschätzung bei. Johnson sei nie ein Autor beider Deutschland gewesen, sondern ein Autor der DDR. Tatsache ist wohl: Johnson ist in Westdeutschland nie heimisch geworden. Sein Deutschland, insbesondere seine mecklenburgische Heimat, war ihm durch die Übersiedlung in den Westen unmöglich geworden. Also blieb Johnsohn ein Schriftsteller des Exils. Es war die Lebenswelt der DDR, die er beschrieb. Nicht die des Westens. Auch wenn das Buch vorgab, beide Lebenswirklichkeiten – jenseits und diesseits der Mauer – beschreiben zu wollen. Gleichwohl: Die D ist vor Mauerbau noch regelmäßig auf Durchreise zu ihrer in Potsdam lebenden Mutter. Bei ihrer routinemäßigen Durchquerung des Westsektors blickt sie neugierig auf dessen Konsumwelt:
„Sie stieg aus und holte beiläufig aus der Schuhspitze die Zettel und Rezepte, die die Ärzte ihrer Anstalt wortlos auf den Schwesterntisch legten, und besorgte die westlichen Präparate in Apotheken, die sie wechselte, schon mit ein bisschen Unruhe im Nacken, denn auch solche Einfuhren waren von den ostdeutschen Behörden verboten, dem Absatz der eigenen Medizinen zuliebe, und zwar strenger. Sie stieg aus und besah die Filme, für die Leute mit ostdeutschem Ausweis kein Westgeld bezahlten mussten; sie stieg aus, um bloß spazieren zu gehen, entzückt von den mit vielen Sorten, reichlich versehenen Schaufenstern, oft befremdet von der Ähnlichkeit, die die Fassaden darüber einhielten mit Häusern in Ostberlin, eigentlich darum verlegen, die Herkunft der Unterschiede zu begreifen. Sie war ausgestiegen mit einem jungen Westdeutschen und eine Nacht geblieben. Sie hatte geleugnet je auszusteigen. Sie war nicht über die Verhältnisse hinaus verlogen.“
In „Zwei Ansichten“ habe Johnson gegenüber seinen Vorgängerromanen syntaktisch abgerüstet. So steht es jedenfalls in fast jeder Kritik von 1965. Da, wo die früheren Romane in verworrener Grammatik und Interpunktion ihren meist opaken Gegenstand entrollen, sollte nun simpel und, wie der Titel anzeigt, zweigleisig erzählt werden. Und zwar aus geografisch entgegen gesetzten Perspektiven. Die deutsche Teilung ist mit dem Bau der Berliner Mauer vollendet. Der junge B., der bisher nur Liebe für Sportwagen empfand, hatte zuvor eine einwöchige Liebschaft mit der D. begonnen. Noch war die Mauer nur eine politische Phantasie. Im Alltag kreuzen sich noch die Wege von Ost nach West und umgekehrt.
Es ist keine ganz große Liebe zwischen der Krankenschwester D. und dem B. Aber doch eine Anziehung, die mit dem Bau der Mauer und der politisch erzwungenen Trennung eine ungeahnte Dramatik entwickelt. Da, wo vorher vielleicht nur eine unverbindliche Liebschaft gewesen war, entsteht jetzt der Druck, die Geliebte „rauszuholen“. Rauszuholen aus dem Staat, dem sie die Treue hält, obwohl er sie einsperrt. Der junge Fotograf, obwohl politisch unbedarft, ist angefixt von der staatlichen Willkür:

Hintergangen, getäuscht, belogen

„Er fühlte sich selbst gekränkt durch die Einsperrung der D. in ihrem Berlin, er hatte eine private Wut auf die Sperrzone, Minenfelder, Postenketten, Hindernisgräben, Sichtblenden, Stacheldraht, Vermauerung, Schießbefehle und Strafandrohung für den Versuch des Übergangs. So war ihm noch nichts fehlgeschlagen.“
Es ist also mehr Kränkung als Überzeugung, die beide – den B. und die D. zu Komplizen im Kampf gegen ein persönlich genommenes Unrecht macht. Denn auch die D., die sich spät erst zur Flucht entscheiden mag, hat bei Johnson keinen didaktisch einsetzbaren Standpunkt. Man ahnt, was es westlichen und östlichen Ideologen so schwer machte, den Autor zu vereinnahmen. Über die D. heißt es einmal exemplarisch verwaschen:
„Die Inhaber der Macht waren ihr nicht gezeigt worden bei ihrer Ausübung, sondern halb verdeckt durch Rednerpulte, geschützt durch die Brüstung von Opernbalkonen. Der Staat beschrieb seine Vorzüge aus den Nachteilen des vorigen, er führte seine Macht zurück auf den Ausgang des Krieges; da war sie vier und ein halbes Jahr alt gewesen, sie musste sich auf die Auskünfte der Älteren verlassen. ... Dennoch war ihr Vertrauen unterlaufen gegen den Staat, so unbegreiflich wie allgegenwärtig anwesend und eher, als sie denken konnte. ... Sie hatte unter diesem Staat gelebt wie in einem eigenen Land, zu Hause, im Vertrauen auf offene Zukunft und das Recht, das andere Land zu wählen. Eingesperrt in diesem, fühlte sie sich hintergangen, getäuscht, belogen.“
Man kann das frühe Kritikerurteil nicht wirklich teilen, nachdem Johnson in „Zwei Ansichten“ einen unterkomplexen Roman geschrieben hätte, der, wie mancher bemängelte, in einer simplen Sprache daherkäme. Johnsons Romane bleiben auch in ihrer „simplen“ Form äußerst schwergängiges Gelände. Mancher Satz will zwei oder dreimal gelesen werden, bis sich mit der richtigen Betonung der sprunghaften Syntax ihr Sinn ergibt. In dem Fall die Handlung.
Der junge B. will seine Bekanntschaft in Ostberlin nämlich wiederfinden, nachdem es einen Streit gegeben hatte. Er hat sich für diesen Ausflug ins Ostgebiet ein schönes Gefährt angeschafft. Einen schnittigen Sportwagen, der die Krankenschwester von einem Leben im Westen überzeugen soll. Doch leider kommt ihm dieser Wagen in Ostberlin abhanden. Wie sich herausstellt, geklaut von einem Jüngling aus Süddeutschland, der in B.s Wagen seine ostdeutsche Freundin außer Landes bringen wollte.
Der missglückte Fluchtversuch hat für B. zwei schwerwiegende Folgen. Er wird zum einen den gesamten Text über unter dem Verlust seines teuren Spielzeugs leiden. Stellenweise scheint ihn sogar das mehr umzutreiben als die Sehnsucht nach der D. Zumal er zum anderen diese nun nicht mehr einfach so besuchen darf, da er ja nun wegen vermeintlicher Hilfe zur Fluchthilfe im Visier der Ostberlin Polizei ist.
Es ist nun eine seltsame Kombination aus Apathie und Aggression, die den Text – vermutlich gegen die Absicht des Autors – prägt. Auf der einen Seite zeichnet Johnson das Bild eines jungen Mannes, der wohl über sexuelle Erfahrung verfügt. Auf der anderen Seite scheint dieser junge Mann aber keinerlei Sinnlichkeit zu haben. Er schraubt vielmehr an seinen Gelegenheitsbekanntschaften, die ihn mehr schlecht als recht über den Verlust der D. hinwegtrösten, herum wie ein Mechaniker an seinem Wagen. Und es braucht Bier dazu, viel Bier:
„B. zog die Frau von der Bettkante hinter das Fußteil auf den staubmuffigen Teppich und zwängt sie aus den Kleidern, bis er ihr seinen lebendigsten Teil beibringen konnte, atemlos mit geschlossenem Mund auf ihrem, unbekümmert, ob sie nun Halbschlaf oder Betrunkenheit vorgab.“

Immer die Tulpe Bier zum Trost

Halbschlaf oder Trunkenheit: Die Kneipenbekanntschaft des jungen B. muss auf jeden Fall etwas „vorgeben“. Unwidersprochen, unhinterfragt wird hier von Johnson ein aus heutiger Sicht befremdlicher Blick auf Sexualität, Liebe, Intimität offenbar. Dieser Blick ist das Hauptproblem dieses – um in Reich-Ranickis Bild zu bleiben – „kunstledernen“ Romans über ein Paar im Strudel der Zeitgeschichte.
Johnsons Held geht in die Kneipe, wenn ihn seine Gefühle plagen. Man hat sich eine Kneipe in den frühen Sechzigern sehr deutsch und sehr zünftig vorzustellen. Wenn B. dort seine Tulpe Bier bestellt und den Schaum von den Lippen leckt, dann transformiert sich sein angestauter Zorn über den blöden Wagendieb und die naive Krankenschwester in Ostberlin zu etwas Weichem. Dann wird B. plötzlich leutselig, zutraulich – und larmoyant. Ein typischer Bandwurmsatz endet dann so:
„Auf der Suche nach einem anderen Zimmer, in Gang gesetzt von Annoncen und Aushängen, im Trab gehalten auf den Kursen von Bussen, Bahnen auf der Straße, unter den Straßen und Häusern, verhielt er sich anfangs wie ein Nichtschwimmer, stieg überhastet aus zu hoffnungslosen Irrwegen, ließ lahm sich abdrängen an den dick umstandenen Bushaltestellen, gab auch für Stunden auf und tröstete sich mit einem Bier.“
Ein anderes Mal heißt es über eine ihm entgleitende junge Bardame:
„...der junge Herr B. fühlte sich ärgerlich ausgeschlossen von dem schleunigen, arglosen, einverstandenen Gespräch neben ihm, hätte da gerne, etwas lockerer vom Trinken, mithalten wollen.“
Als die D. sich endlich entschließt, den jungen Herrn B. ihren westlichen Retter sein zu lassen, muss auch wieder der Zapfhahn laufen:
„’Ich habe nicht gleich geglaubt, was du mir geschrieben hast, nimm mir nicht übel’, las er. ‚Dann hilf mir rüber, ich will jetzt kommen. Es muß aber was sein wo nicht geschossen wird. Nimm mir nicht übel, die Angst’, las er. Er hob das Bier an die Lippen, legte den Kopf zurück und trank in großen schmerzhaften Schlucken.“

Abstoßend interessant

Doch was ist das eigentlich für ein Menschenbild, das uns der Autor Uwe Johnson hier im Corpus einer Liebesgeschichte präsentiert? Der Roman atmet jenseits seiner politischen Implikationen den muffigen Geist der Zeit. Die ganze Spießigkeit der Nachkriegszeit, der gehemmte und gleichzeitig rücksichtslose Umgang mit dem anderen Geschlecht. Die eigenen Egoismen ungut gepaart mit den noch gültigen gesellschaftlichen Erwartungen von Ehrbarkeit und Männlichkeit. Das alles bringt den jungen Mann in Johnsons Menschenkosmos aus der Fasson. Und diese auf Dauer gestellte Stimmung ist es, die die Lektüre von „Zwei Ansichten“ aus heutiger Sicht so abstoßend macht. Und gleichzeitig natürlich auch interessant.
Interessant sind natürlich auch die von Johnson eingebauten Realien. Die Züge nach Potsdam hießen während der Mauerzeit „Sputnik“, weil sie Westberlin umkreisten wie der Flugkörper die Erde. An der Mauer spielen wiederum vor dem Fotoapparat des jungen B. westdeutsche Kinder „Ostflüchtling und Ostgrenzer“. Und „Uboote“ werden Republikflüchtlinge genannt, deren erster Fluchtversuch abgebrochen werden musste und die nun im Untergrund auf ihre zweite Chance warten.
Auch die D. erhält eine zweite Chance. Als österreichische Touristin getarnt kann sie Deutschland verlassen und via Dänemark auf der anderen Seite wieder betreten. Der junge B. will sie mit seinem neuen Sportwagen abholen, doch er verzettelt sich beim Hersteller, geht noch etliche Biertulpen trinken, läuft gegen einen Bus und ringt der D. immerhin das Versprechen ab, sie werde sich den Heiratsantrag des jungen B. durch den Kopf gehen lassen.

Ein Liebestöter-Roman

Uwe Johnson hat mit seinen „Zwei Ansichten“ einen Liebestöter-Roman geschrieben, der seines Gleichen sucht. Und das ist tatsächlich, trotz aller Verquältheiten der Romanfiguren, eine hohe Kunst. Das Buch erzeugt eine so starke Stimmung von Verunsicherung und Frust, dass Johnson damit wohl nicht nur den Geist seiner Zeit beschrieben hat. Der 1934 geborene Eigenbrötler sagte mal in einem Fernsehinterview, Geschichte – gemeint war speziell die deutsche Geschichte – versetze in eine Fremde. Das war ihm selbst widerfahren. Er hatte seiner Heimat den Rücken gekehrt. Und damit war er ein Heimatloser geworden. Er wanderte herum. Ging nach New York, dann nach England, wo er mit nur 49 Jahren zermürbt vom Alkohol starb. Ein Kneipenwirt hatte nach ihm geschickt. Der Stammgast war mehrere Wochen lang nicht aufgetaucht. Johnsons Suche nach einem Ort, an dem Frieden einkehren möge und sich die Nebel der Geschichte lüften, bestimmt auch diesen kleinen Prosatext über die illusionslose Liebesgeschichte der D. mit dem B.
Uwe Johnson: „Zwei Ansichten“
Werkausgabe in 43 Bänden: Abteilung Werke: Band 5
Herausgegeben von Yvonne Dudzik und Katja Leuchtenberger
Suhrkamp Verlag, Berlin.
479 Seiten, 44 Euro.