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Eine Menschenmenge in Bewegung

Forscher simulierten weltweit erstmalig, wie sich 1000 Menschen in verschiedenen Situationen verhalten. Und obwohl es eine geschützte Laborsituation war, kam es zu echter Angst unter den Probanden.

Von Ulrich Land | 27.06.2013
    "Bei den Experimenten, die wir heute durchführen, wird es eng. Es wird auf jeden Fall eng werden. Bevor es aber gefährlich werden kann, werde ich ein Stoppsignal geben. Wenn das Signal erfolgt, bleiben alle, und damit meine ich wirklich alle, stehen, wo sie jetzt im Moment stehen. Wenn sie sich während der Experimente gestresst fühlen oder unwohl fühlen oder es ihnen schlecht geht, dann sprechen sie bitte einen der Helfer oder Helferinnen in den orangenen oder blauen Westen an!"

    Messe Düsseldorf, Halle 14. Groß und grau. In der Mitte der riesigen Halle weiße Stellwandblöcke. Diese stellen einen kahlen Raum im kahlen Raum vor. Hier und da Stellwandlücken als Türschlitze.

    "Es wird überprüft, die Gehdynamik von Menschen, wie die Leute halt gehen, wenn, ja, ganz viele auf einem Haufen quasi sind. Ob man eher langsam geht oder sich doch dann so ein bisschen beeilt, dass man schneller zum Ausgang kommt."

    "Fließverhalten von Menschenmengen bei Großveranstaltungen. So wie Wasser halt. Und ob Menschen da berechenbar sind, ob die da ein besonderes Verhalten zeigen."

    Zwei von 1000 Versuchsteilnehmern. Darüber, oben im Dachgestänge der Messehalle, hängen 30 miteinander vernetzte Videokameras. Fokus geradewegs abwärts, Weitwinkel aufgezogen. Sodass man senkrecht von oben ins Innere des klassenzimmergroßen Stellwandlabors als Totale blickt. Und schon sieht man die weißen Kappen der Probanden, in der Mitte verziert mit jeweils unterschiedlichen Ralleykaro-Mustern. So können sie von den Kameras identifiziert, ihre Bewegung im Raum verfolgt und als Datensatz festgehalten werden. Wie weiße Punkte wuseln sie über ein Spielfeld aus der Vogelperspektive.

    "Das ist schon eine Ähnlichkeit zum richtigen Leben. In Duisburg gab es eine Massenpanik auf der Loveparade. Und ich hatte Angst davor, wie so was it. Man hat für ein paar Sekunden gemerkt, okay, ist gefährlich, kann gefährlich enden. Ja? Das ist einfach die Masse! Die Masse macht das aus, dass viele einfach nervös werden, man ist verwirrt, man kennt so eine Situation nicht, man hat nicht jeden Tag so eine Masse um sich herum. Und man weiß nicht, was man machen soll. Das ist das Problem."

    "Uns geht es dadrum, dass, ja, ein sehr dramatisches Beispiel, dass auf der Loveparade in Duisburg es zu einem Stau gekommen ist. Und aus dem Stau heraus ein Gedränge entstanden ist, bei dem ja 21 Menschen zu Tode gekommen sind. Und was wir rauskriegen wollen in den Experimenten, ist, wann das passiert."

    Professor Armin Seyfried, Physiker am Forschungszentrum Jülich, das vergangene Woche mehrere Tage lang "Experimente zu kritischen Zuständen in großen Menschenmengen" durchführte. In einer weltweit erstmaligen Größenordnung von bis zu tausend Probanden. Derzeit nämlich ist die experimentelle Grundlage, was große Menschenmengen betrifft, hauchdünn. Die allermeisten Sicherheitskonzepte bei Großveranstaltungen basieren auf oft weit auseinanderklaffenden Erfahrungswerten.

    "Im Autoverkehr, da haben wir Spuren, wir haben irgendwie Ampelanlagen an Kreuzungen, wir haben Regeln. Und der Verkehr läuft dadurch geordnet. Bei Fußgängerströmen ist das überhaupt nicht der Fall. Und trotzalledem gibt es auch Fußgängerkreuzungen oder wie auf der Loveparade eben eine T-Kreuzung, Rampen, Treppen, und hier fehlt uns ganz viel Basiswissen."

    Die weißen Punkte alias Probanden alias Großveranstaltungsbesucher marschieren bei jedem Experiment in andere Stellwandräume, hinein und wieder hinaus. Mal durch größere, mal durch engere Eingänge in unterschiedliche Kreuzungsparcourss, mal unter Zeitdruck, mal in Gruppen, Grüppchen und Untergrüppchen. Kommen ins Stocken, verknäulen sich, dividieren sich auseinander, ergreifen die Flucht, treten erleichtert aus der Enge in die Weite. Sie erhalten mal genaue Anweisungen, mal eher nebulöse. Die Experimentanordnung legt genau fest, wie viel sie vorher erfahren und wie viel nicht. Schließlich will man möglichst natürliche, unvorbelastete Reaktionen abrufen.

    "Bei dieser Experimentenreihe fokussieren wir uns auf den Kreuzungsverkehr, also wir untersuchen verschiedene Fußgängerverkehre an Kreuzungen. Und dort wollen wir wissen, wann es zu einem Stau kommt und ob man zum Beispiel über Verkehrsregeln wie einen Kreisverkehr oder wenn man bestimmte Hindernisse einbringt, wie eine Säule, ob man damit das System verbessern kann. Die andere Idee war tatsächlich, diese Fußgängerströme zu vermessen. Ist ganz wichtig für die Planung von solchen Veranstaltungen, wenn man so einen Mehr-Richtungs-Verkehr hat an einer Kreuzung, wie viel passen denn dann in der Stunde da durch? Und diese Zahlen, die fehlen uns bis heute."

    Klar ist: Es ist ein Experiment. Ein Großexperiment im Grenzbereich zwischen Physik und Psychologie. Wirklichkeitsnah, aber eben eine Laborsituation. Die Probanden sind durchweg angehende Akademiker. Und unaufgeregt, völlig gelassen. Wollen nicht sofort, jetzt sofort ins Fußballstadion oder - problematischer noch - wieder heraus. Sie wollen nicht unbedingt die besten Plätze beim Rockkonzert ergattern, hier ist kein Feuer ausgebrochen in einer überfüllten Disco unter alkoholisierten oder sonst wie unter Strom stehenden Kids, die raus wollen, bloß raus. Hier ist nicht Loveparade. Hier ist wohltemperierte Messehalle. Es wird viel gelacht, gegrinst, gequasselt. Eine entspannte Arbeitsatmosphäre.

    Die Probanden stehen gesittet fürs nächste Experiment an, während die Organisatoren oben auf ihrem Hubwagen eine kurze Lagebesprechung machen und die Frage wälzen, welcher Konstellation es bedarf, um diese friedliche, vergnügliche Menschenmasse in eine kritische Masse, in eine explosive Mischung zu verwandeln, das Pulverfass der Panik zu öffnen.

    "Wir konnten tatsächlich auch diesen Übergang vom Stau zum Gedränge beobachten. Der Stau an sich ist ja nicht gefährlich. Aber wenn aus dem Stau ein Gedränge wird, dann kann es eben kritisch werden."

    Vier Fußgängerströme, so die Versuchsanordnung, sollen in einer Kreuzung frontal aufeinanderzulaufen. Und plötzlich tritt allen in der Messehalle der Schweiß auf die Stirn: von jetzt auf gleich – Stillstand! Nichts geht mehr, gar nichts. Binnen Sekundenfrist wird aus dem Stau ein Gedränge. Auf Tuchfühlung, Wange an Wange. Unheimlich. Man spürt den schneller werdenden Atem des anderen. Man schiebt, man drückt. Es wird einem heiß und kalt.

    "Da hatte ich Angst gekriegt. Man weiß nicht, ob rechts oder links. Und dann will der da durch oder da, wann kann man gehn, wann kann man nicht gehen? Und diese vielen Menschen, Schilder keine da, man weiß nicht, was man machen soll."

    "Aus allen vier Richtungen strömten die Menschen in die Kreuzung hinein. Und als sie dann zusammentrafen, stauten sie sich. Die konnten die Konflikte nicht auflösen und fingen dann an, in diesem Stau nach Wegen zu suchen, die sie noch herausbringen. Und fingen dabei an, tatsächlich mit Körperkontakt zu drängen."

    "Wenn allgemein um einen herum Panik passiert. Und alle rennen zu irgendeinem Ausgang und dann, dass man da sich anstecken von lässt."

    "Auch schon der Stau ist ein Problem beim Menschen, was viel mit dem Informationsverlust zu tun hat. Das heißt aber nicht, dass ich eine Berührung aufbaue und den anderen schiebe oder wegdränge. Diese Krafteinwirkung auf den andern, das würde ich dann als Gedränge bezeichnen."

    "Man wusste nicht: Komm ich raus oder komm ich nicht raus, kommt man voran oder bleibt das stehen? Weil stehen bleiben will ich nicht, lange kann man nicht drinnen bleiben. Auf keinen Fall. Es war wirklich sehr eng, also man konnte nicht irgendwie sich verstecken an der Seite oder so, man musste wirklich durch die Menschen, aber..."

    "Trillerpfeife"

    Niemand darf sich noch einen Deut bewegen. Dann: geordneter Rückzug: Alle drehen sich um und gehen langsam raus aus der brenzligen Enge.

    "Hat man wieder besser Luft gekriegt."

    Die nackte Angst steht den Teilnehmern noch ins Gesicht geschrieben. Und das, obwohl alle wussten: Das Ganze findet unter der Schutzglocke eines perfekt organisierten Laborversuchs statt. Niemand ist ernsthaft in Gefahr.

    Für die Wissenschaft ein Erkenntnisgewinn, für die Probanden ein angstschweißtreibendes Unterfangen.

    "Da waren so viele Leute. Und jemand hat auf meinen Fuß dann getreten. Da musste ich ganz schnell also aus dem Raum rausgehen. Und hatte Angst, dass so viele Leute so schnell laufen. Und der Ausgang war eng für mich."

    "War auch so ein Versuch: Ein Raum – zehn mal zehn Meter –, dann 300 Leute rein, dann 400 Leute in diesen Raum, dann 500 und 600, dann mussten immer Sanitäter einmal quergehen. Und bei sechs Personen pro Quadratmeter war das unglaublich eng. Und man sah den Menschen an, dass sie sich nicht mehr wohlfühlten. Für uns war aber wichtig, rauszukriegen, ist man denn in so einer Situation noch in der Lage, einzelne Menschen, die sich jetzt so unwohl fühlen, herauszuholen oder ist man noch in der Lage, einen Weg zu finden, der aus diesem Gedränge herausführt? Und das ging dann noch, aber man kann sich ganz klar vorstellen, wenn die Dichten noch höher sind, dass es dann eben nicht mehr möglich ist."

    Besonders eindrücklich: ein Experiment mit einer Y-Kreuzung, wo drei Fußgängerströme aufeinander treffen. Je größer die Menge, desto chaotischer geht es am Kreuzungspunkt, in der Mitte des Ypsilons, zu. Und desto mehr steigt die Stau- beziehungsweise Gedrängegefahr, was unmittelbar einleuchtet. Platziert man aber an besagtem Kreuzungspunkt eine Säule, die ja eigentlich, will man meinen, ein Hindernis darstellt, dann verlangsamen sich die Fußgängerströme zwar, aber sie bleiben im Fluss.

    "Eine Idee war gewesen, dass man durch das Einbringen einer Säule in einer Kreuzung einen Kreisverkehr initiieren kann."

    Scheinbar wird die Säule nicht als Hindernis, sondern als zusätzliche Fläche zur Konfliktableitung genutzt. Man weiß wieder, wo es lang geht. Und verhält sich wie Tangenten am Kreis: kaum berühren und geradewegs weiter ziehen.

    "Es gibt da keine Regelwerke. Die Dichte, die kann vor einer Türe sehr hoch sein. 7, 8 Personen pro Quadratmeter. Wenn die Türe klein ist und der Raum klein ist und man sozusagen den Überblick bewahrt, was da passiert, kann es, obwohl die Dichte sehr hoch ist, unkritisch sein. Andererseits kann es sein, dass ein riesiger Platz mit vier Personen pro Quadratmeter voll ist und das eine Katastrophe wird. Also es hat was mit der Dimension der Menge zu tun, es hat was mit der Geometrie zu tun, mit der Frage, wie lange die Menschen in einer bestimmten Situation verharren müssen. Es hat was damit zu tun, um welchen Typ von Menschen es sich handelt, auf jeden Fall."

    Der Fußgängerstrom perlt an der Säule ab. Vielleicht auch funktioniert die Säule im Kreuzungsverkehr deshalb als Blitzableiter, weil sie aus der Menge herausragt als sichtbarer Ankerpunkt, als Leuchtturm, der einem die Orientierung zurückgibt. Und schon kommt man sich nicht mehr so verloren vor. Die Nervosität bleibt aus, die ansonsten daher rührt, dass man nicht mehr ein noch aus weiß und sich wie ein massengesteuerter Lemming fühlt.

    Merkwürdigerweise hatte die Säule allerdings bei einer Kreuzung, wo nur zwei Fußgängerströme aufeinanderprallen, eher einen störenden Effekt. Da stand sie im Weg.

    "Die Vielfältigkeit der Möglichkeiten, die da drinnen steckt, also die eigentlich dann wieder mehr Fragen aufwirft als Lösungen, ist für einen Wissenschaftler natürlich tolles Futter. Aber ja, macht einem klar, wie schwierig die Welt ist. Die Menschenwelt. Wenn man zum Beispiel sich überlegt: Auf der Loveparade wollten ja alle diese kleine Treppe hinauf. Und vorherzusehen, dass es diese kleine Treppe ist, die die Menschen anziehen wird oder die ein Problem darstellen wird, das kann man, glaube ich, in einem Labor nicht nachstellen."

    Sieht man die Loveparade nun, nach den Düsseldorfer Experimenten, mit anderen Augen?

    "Klar, das ist eine Simulation, im wirklichen Leben ist es bisschen anders. Die können anders reagieren und anders handeln, da muss man aufpassen."

    "Es gibt ja ein eindeutiges Gutachten von Keith Still, der sagt, dass die Rampe zu schmal war. Wobei das ja durch die Polizeiwagen und die Gitter, die dort aufgestellt wurden, auch noch mal zusätzlich eingeengt worden ist. Hätte man das nicht gewusst, also hätte man einfach nur gefragt, die Rampe ohne Polizeigitter, ob das ausreicht, dann wäre man genau an der Grenze gewesen. Man hätte in der Literatur die Angabe gefunden, es reicht. Und man hätte in der Literatur auch die Angabe finden können: Oh, es wird knapp. Und in dieser Unsicherheit: Das ist, was wir mit Zahlen hinterlegen wollen. Wir haben Experimente gemacht mit 400 Personen und haben dabei herausbekommen, dass bei so einem Gegenverkehr sich der Durchsatz tatsächlich um ein Drittel reduziert. Und können jetzt Zahlen liefern, die uns sagen: Es geht nicht! Das hilft uns bei der Planung von Großveranstaltungen. Bei der Bewertung, ob wir diesen Besucherandrang, den man erwartet, ob das, was man zur Verfügung hat an Platz oder an Infrastruktur für die Fußgänger, ob das ausreicht oder nicht."

    Das wird man spätestens nach der Auswertung der dabei gewonnenen Daten sagen können, die noch als riesige Menge auf ihre - sagen wir - Verkehrsführung warten. Was man aber bei aller Vorläufigkeit jetzt, wenige Tage nach den Experimenten bereits sagen kann, ist, dass gerade bei großen Fußgängerströmen eine Spurführung notwendig ist, so etwas wie Leitplanken. Man kann die Masse nicht sich selbst überlassen, mögen die Teilnehmer noch so gelassen und intelligent sein. Eine Kombination aus Wegführungsschildern und beispielsweise Säulen ist anscheinend geeignet, die Gefahr von Menschenstaus und vor allem von Gedränge zu reduzieren.

    "Waren viele Menschen, da hat man bisschen Angst gekriegt. Aber man hat überlebt."

    "Ein bisschen Schweiß und ein bisschen Kopfschmerzen. Aber Panik hatte ich nicht."

    Auf dem Heimweg nach den Experimenten, Hauptbahnhof Köln, Gleis 6. Vor der Bahnsteigtreppe ein Stau. Irgendwer kämpft mit seinen zwei Trollis. Man weiß, in vier Minuten fährt der Anschluss-ICE. Es geht nicht voran, wird eng, riecht nach billigem Parfüm, nach Schweiß. Plötzlich geht es weiter. Der Reisende vorne muss seine zwei Trollis gebändigt bekommen haben.

    Eins ist klar, trotz aller Experimente: Für allzu viele allzu dicht gedrängte Menschen ist der Mensch eigentlich nicht gemacht. Und trotzdem sucht er genau solche Situationen immer wieder auf – mancheiner allwöchentlich im Fußballstadion.

    "Ich selber würde mich auch nicht freiwillig in so eine Situation begeben. Ich meide eigentlich große Menschenmengen und hatte bei den Experimenten auch immer die Tendenz, früh abbrechen zu wollen. Während meine Mitarbeiter mich so ein bisschen gebremst haben: Lass es doch noch ein bisschen laufen!"

    "Püh, es ist auch irgendwie was Spannendes."
    Festivalbesucher versuchen von dem überfüllten Gelände unten wegzugelangen.
    Festivalbesucher der Loveparade 2010 versuchen von dem überfüllten Gelände wegzugelangen. (AP)