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Jon Fosse: "Ich ist ein anderer"
Eine philosophische Reflexion über Identität

Der norwegische Autor Jon Fosse ist weltbekannt für seine Dramen. Seine Prosa steht den Theaterstücken in nichts nach. In dem Roman "Ich ist ein anderer" spielt Fosse mit den Möglichkeiten alternativer Lebensläufe. Eine Künstler- und Doppelgängergeschichte, die ungemeinen Sog entfaltet.

Von Enno Stahl | 28.01.2022
Jon Fosse: „Ich ist ein anderer“
Ein Vexierspiel mit Identität: Jon Fosses Roman "Ich ist ein anderer". (Autorenportrait: Tom A. Kolstad Det Norske Samlaget / Cover: Rowohlt)
Die Bezeichnung Heptalogie, also Siebenteiler, ist für Jon Fosses großes Romanprojekt etwas missverständlich. Denn es handelt sich nicht um sieben Romane, sondern um drei mit insgesamt sieben Teilen. Der neue Band, der zweite der Trilogie,  „Ich ist ein anderer“, greift Arthur Rimbauds berühmte Wendung auf, was in diesem Fall sehr sinnig ist. Denn die Identität eines Anderen, der man dennoch selbst ist (oder sein könnte), ist exakt das Thema dieses Werks. Der Ich-Erzähler, ein alternder Maler namens Asle, lebt allein und zurückgezogen an einem Fjord in Norwegen. Die einzigen Personen, mit denen er umgeht, sind sein Nachbar Asleik und der Galerist Beyer. Letzterer hat Asle in jungen Jahren, noch als Gymnasiasten, entdeckt, stellt ihn seitdem aus.

Kunst im Dienst einer ästhetischen Mystik

Wenn Asle vielleicht auch nicht regelrecht berühmt ist, kann er doch von den Verkäufen seiner Bilder halbwegs leben. Er vermisst seine Frau Ales, die vor einigen Jahren gestorben ist. Sie hatte bewirkt, dass Asle sich zum Katholizismus bekehrte – übrigens genau wie sein Verfasser Fosse. Asle stellt seine Kunst seitdem in den Dienst einer ästhetischen Mystik. Stil und Form des Buches sind eigentümlich. Es gibt keine Punkte. Das Erzählen geht einfach immer weiter. Unterbrochen wird es nur durch Dialoge, die ähnlich gestaltet sind wie in Fosses Dramen, hier eben immer nur eingeführt mit „sagt“:
„Wo hast du das Geld her? sagt Der Vater
und Asle sagt, er hat es gefunden
Er sagt, er hat es vor dem Bäckerhaus gefunden, sagt Die Mutter
Das kann ja sein, sagt Der Vater
Glaubst du das? sagt Die Mutter
und Der Vater sagt nichts.“
Doch allzu viel geredet wird nicht. Denn Asle ist meist allein mit sich und seinen Erinnerungen. Während er Auto fährt oder auch nur herumsitzt, sinnt er über sein Leben nach, seine Jugend, seinen Weg zur Kunst. In seinen Gedanken spricht er von sich selbst stets in der dritten Person. Und wie das Denken in unserem Kopf vonstattengeht, mäandert es auch hier in seriellen Schleifen:

„Asle denkt, er freut sich darauf, anzukommen und seine Sachen in dem Zimmer zu haben, in dem er jetzt wohnen wird, allein, und morgen fängt er auf dem Gymnasium an, gleich morgen fängt er auf dem Gymnasium an und dann ist er ein Gymnasiast, denkt er, aber erst um elf Uhr, denkt er, und es ist ein Stück zu gehen von seinem Zimmer bis zum Gymnasium“

Es gibt Asle gleich zweimal

Der Clou an der Geschichte ist, dass es zwei Asles gibt. In der Vergangenheit, als junge Männer, sehen beide gleich aus, tragen ähnliche Kleidung, beide trinken ziemlich viel, beide werden – als hochbegabte Maler – ohne einen Schulabschluss von der Kunstakademie aufgenommen. Doch ihre Entwicklung verläuft konträr. Der eine, der spätere Ich-Erzähler, trifft auf Ales, entsagt dem Alkohol und führt mit ihr ein spirituelles Leben im Geist der Kunst und der Religion. Der Andere schwängert ein Mädchen, die Geschichte endet unglücklich und er verfällt dem Alkohol.
Diese beiden Asles in der Erinnerung des Protagonisten sind also Möglichkeiten, zwei Versionen, wie sich die Geschichte Asles hat entwickeln können. Verworren wird es dadurch, dass die beiden Doppelgänger tatsächlich existierten, sich trafen und miteinander sprachen wie zwei verschiedene Menschen. Selbst in der Gegenwart gibt es den Säufer Asle noch. Der Maler hat ihn – einige Tage vor Einsetzen der Erzählung – betrunken mit schweren Unterkühlungen im Schnee gefunden. Nun liegt er im Krankenhaus. Der Maler möchte ihn besuchen, darf aber nicht zu ihm. Der zweite Asle taucht also als echte Person in der Gegenwart nicht auf.

Dialoge mit den Toten

Fosse entfaltet ein komplexes Vexierspiel über Sein und Identität, die Klammer des Ganzen aber ist die Religion. Sie bedeutet Heil und Heilung. Sie ermöglicht dem Maler Asle nicht nur, seine spezifische Kunst auszuüben, sondern auch mit der verstorbenen Ales zu kommunizieren:
„ich weiß nicht ganz, ob ich verstehe, was sie sagt, und ich weiß nicht ganz, was ich sagen soll, und dann sage ich, ich vermisse sie und Ales sagt, sie vermisst mich auch, aber auch wenn wir nicht mehr zusammen auf der Erde sichtbar sind, so sind wir trotzdem zusammen unsichtbar und das kann ich sicher spüren, sagt sie und ich sage, das kann ich und sie und ich können sogar miteinander reden, sage ich und Ales sagt, ja das können wir, aber nur, weil unsere Engel da sind und weil ich ihre, Ales’, Worte sage oder denke, nicht sie selbst sagt sie, für sie ist jetzt alles, was es gibt, zu Sprache geworden, denn Gott ist die reine, die heile Sprache, die Sprache ohne Unterschied und Trennung“

Ein Sprachstrom wie das Leben selbst

In dieser knappen Beschreibung klingt das vielleicht etwas unzugänglich. Aber das Gegenteil ist der Fall. Fosses meditatives, fast schlafwandlerisches Erzählen entfaltet einen ungemeinen Sog. Man vertraut sich der Sprache an, lässt sich von ihr leiten, und obwohl nach 368 Seiten eigentlich nichts passiert ist, möchte man einfach nur weiterlesen – sich tragen lassen von diesem Sprachstrom, der dahinfließt wie das Leben selbst.
Jon Fosse: "Ich ist ein anderer. Heptalogie III-V"
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Rowohlt Verlag, Hamburg. 368 Seiten, 30 Euro.