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Eine Religion ringt mit der Moderne

Als im 19. Jahrhundert die islamische Reformbewegung aufkam, wandten sich deren Vordenker schnell dem Koran zu. Denn Reform im Islam ist nur mit und nicht gegen den Koran möglich.

Vom Jan Kuhlmann | 16.07.2013
    Eine Rezitation aus dem Koran, dem heiligen Buch der Muslime. Der Prophet Muhammad verkündete die Offenbarung Gottes Anfang des siebten Jahrhunderts über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren. Der Koran mit seinen 114 Suren ist für Muslime bis heute die zentrale Quelle ihres Glaubens, sagt Michael Marx, leitender Mitarbeiter des Forschungsprojektes Corpus Coranicum in Potsdam.

    "Für den Muslim im Alltag ist der Koran der Text, auf den er im Gebet nicht verzichten kann. Das heißt, ein Muslim muss immer Teile aus dem Koran rezitieren. Das können sehr kleine Teile sein. Die erste Sure des Koran, die Fatiha, eine Art 'Vater unser' in sieben Versen, ist unverzichtbar. Im Gebet kommt dazu immer noch ein anderer wählbarer kleiner Teil aus dem Text."

    Ohne den Koran kein Islam. Da ist es nur logisch, dass auch die islamischen Reformer das heilige Buch in den Fokus nehmen. Die islamische Reformbewegung entstand im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die neue Macht Europas. Die Reformer wollten "Zurück zum Islam". Was bedeutete: zurück zu den Quellen. Neben dem Koran sind das die Hadithe, die Berichte über die Worte und Taten des Propheten Muhammad. Die Reformdenker wollten sich nicht länger mit den Interpretationen zufriedengeben, die die traditionellen islamischen Gelehrten über Jahrhunderte vorgegeben hatten. Sie wollten die Quellen selbst lesen und neu deuten, sagt Koranforscher Michael Marx.

    "Man kann also sagen: Die islamische Reform verfolgt einen protestantischen Kurs. Die Tradition muss kritisiert werden. Das Entscheidende sind die grundlegenden Texte, Koran, Hadith. Man muss zurück zu den Ursprüngen."

    Dabei stellte sich auch die Frage nach der Natur des heiligen Buches. Nach traditioneller Mehrheitslehre der Sunniten ist der Koran unerschaffen. Das heißt: Er ist das ewige Wort Gottes.

    "Die Muslime gehen davon aus, und das ist das Ergebnis einer langen Diskussion, dass der Korantext präexistent ist. Das heißt, in der Vorzeit bereits befindet er sich bei Gott und wird an den Propheten geoffenbart."

    Der Anteil Muhammads bei der Verkündung des Korans war nach dieser Auffassung gering. Weit verbreitet ist sogar die Ansicht, dass der Engel Gabriel dem Propheten Gottes Text diktierte und Muhammad ihn, einem Abspielgerät gleich, wiedergab – ohne dabei einen eigenen kreativen Beitrag zu leisten. Demnach offenbarte Gott den Koran wortwörtlich in arabischer Sprache. Ein solches Verständnis macht den Koran unangreifbar. Denn wer den Text infrage stellt, stellt zugleich Gott infrage.

    Zum Verdruss von Reformdenkern wie dem Pakistaner Fazlur Rahman. Der Theologe zählte im vergangenen Jahrhundert zu den prägendsten Figuren der islamischen Reformbewegung. Fazlur Rahman lehnte die Diktattheorie ab. Quelle des Korans war für ihn zwar auch Gott, der dem Propheten seine Botschaft überlieferte. Es war jedoch Muhammad, der die Offenbarung in Worte fasste und dabei die Sprache seiner Umgebung benutzte – Fazlur Rahman gab dem Propheten eine aktivere Rolle als die Anhänger der Idee vom unerschaffenen Koran. Der Pakistaner beschrieb das heilige Buch so:

    "Der Koran ist das Wort Gottes, aber er ist sicherlich zugleich sehr eng mit der ureigensten Persönlichkeit des Propheten Muhammad verbunden, zu dem es nicht nur ein rein mechanisches Aufzeichnungsverhältnis haben kann. Das Wort Gottes ist durch das Herz des Propheten gekommen."

    Ganz neu war dieser Ansatz nicht. Fazlur Rahman und andere Reformer knüpften an Denkschulen an, die den frühen Islam geprägt hatten, dann jedoch verschwanden. Fazlur Rahman verstand den Koran nicht als Gesetzbuch, sondern als ethischen Leitfaden. Er wollte ihn in den historischen Kontext einordnen - ihn aus der Zeit heraus verstehen, in der der Koran offenbart worden war. Der Reformer wollte den moralischen Kern bergen, Prinzipien und Normen aus dem heiligen Buch ableiten und in die Gegenwart übertragen.

    Die Rolle von Muhammad
    Noch weiter als Fazlur Rahman ging der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid. Sein Koranverständnis widerspricht der Vorstellung, dass das heilige Buch seit ewigen Zeiten im Himmel existiert. Der Ägypter wandte moderne Kommunikationstheorien auf den Koran an. Der Koran entstand laut Abu Zaid nicht in einer einseitigen Offenbarung, sondern in einem Dialog zwischen Gott und dem Menschen – war also auf die Zeit und die Umgebung Muhammads zugeschnitten. Dabei ist es der Mensch selbst, der den Worten Gottes überhaupt erst eine Bedeutung verleiht, wie Koranforscher Michael Marx eine wichtige Schlussfolgerung Abu Zaids erläutert.

    "Er möchte das Individuum in den Mittelpunkt setzen, das Sinn erzeugt durch die Lektüredeutung zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort. Das heißt, der Rezipient, ob in der damaligen Zeit der Hörer oder der Adressat des Propheten oder eben in der heutigen Zeit der Leser oder der Hörer oder der Rezitator, der Sinn des Textes wird in dem Moment erzeugt, an dem er gelesen oder rezipiert wird."

    Mit anderen Worten: Der Koran selbst sagt nichts. Er spricht erst, wenn er gelesen oder gehört wird. Ein heutiger Leser versteht das heilige Buch ganz anders als ein Zeitgenosse Muhammads. Für Abu Zaid und andere Reformdenker gibt es deshalb nicht nur eine einzige Wahrheit im Koran – sondern viele unterschiedliche Wahrheiten, abhängig davon, wer liest. Das meint auch Dilwar Hussain, einer der wichtigsten muslimischen Reformdenker in Großbritannien.

    "Wenn man den Koran liest, dann bringt man sich selbst in den Koran ein, man bringt all seine Erfahrungen, Emotionen, Vorurteile, alle Vorlieben und Abneigungen mit. Jeder von uns wird sich dem Koran etwas anders annähern, weshalb auch das Ergebnis unterschiedlich sein wird."

    Dieser Ansatz ebnet den Weg dafür, die Worte des Korans metaphorisch, also im übertragenen Sinn zu verstehen – was für eine je eigene Interpretation große Freiräume schafft. Was früher zur Zeit des Propheten galt, muss in der Moderne nicht richtig sein. Der Inhalt des heiligen Buches lässt sich einfacher und flexibler auf die heutige Zeit übertragen, meint auch Dilwar Hussain.

    "Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, wie wörtlich oder metaphorisch man den Koran interpretiert. Es ist sehr schwierig, ihn in seiner Gänze wortwörtlich zu verstehen, weil es viele Beispiele gibt, die die Sprache der damaligen Zeit benutzen. Wenn der Koran über Krieg oder Konflikt berichtet oder wenn er sich auf die Landschaft in der Umgebung der Menschen bezieht, dann sind das sehr deutlich kontextuelle Beschreibungen, die an die Zeit gebunden sind. Es wäre sinnwidrig, diese als wortwörtliche Anweisungen zu nehmen."

    Fazlur Rahman und Nasr Hamid Abu Zaid erlebten ein ähnliches Schicksal: Beide stießen in ihren Heimatländern Pakistan und Ägypten auf massiven Widerstand, auch weil sie sich in die Politik einmischten. Fazlur Rahman ging in die USA und lehrte lange in Chicago. Nasr Hamid Abu Zaid wurde in Ägypten zum Ketzer erklärt. Ein Gericht annullierte seine Ehe, weil eine Muslimin nicht mit einem Nicht-Muslim verheiratet sein darf. Das Ehepaar flüchtete nach Holland. Doch beide Reformer haben tiefe Spuren hinterlassen. So lehren ihre Schüler im Geiste mittlerweile an vielen Universitäten, auch in Europa.