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Eine Religion ringt mit der Moderne

Wie groß der Einfluss der Reformdenker heute ist, lässt sich nur schwer messen. Doch die, die sich über die Zeit mit Erscheinungsbild und Auftreten des Islams auseinandergesetzt haben, hinterließen Spuren, die nicht mehr auszuwischen sind. Vor allem in der jüngeren Generation.

Von Jan Kuhlmann | 15.07.2013
    Es begann mit Napoleon. Als die Truppen des französischen Feldherrn 1798 Ägypten attackierten, spürte die arabische Welt zum ersten Mal die neue Stärke Europas. Schritt für Schritt bauten die Kolonialmächte in den Jahrzehnten danach ihre Herrschaft in der Region aus - für viele Muslime ein Schock. Im Mittelalter war die arabisch-islamische Welt Zentrum der Macht. Wissenschaft, Philosophie und Theologie blühten. Jetzt erlebte das Osmanische Reich, einst Herrscher über große Teile Europas und der arabischen Welt, seinen Niedergang. Die Macht Europas führte den Muslimen die eigene Rückständigkeit vor Augen, sagt Sonja Hegasy vom Zentrum Moderner Orient in Berlin:

    "Die Intellektuellen haben sich natürlich sehr dafür interessiert, warum Europa auf einmal so stark war, in der Wissenschaft, in der Kultur, in der Kunst. Und deswegen gab es im 19. Jahrhundert ganz stark diese Bewegung, diese Idee: von Europa lernen. Man hat Studienmissionen nach Paris geschickt, um sich mit Europa zu beschäftigen. Und daraus ist dann sehr stark auch diese Reformdebatte entstanden."

    Politiker, Religionsgelehrte und Intellektuelle diskutierten intensiv, wie sich der Niedergang stoppen lassen könnte. Viele kritisierten intellektuellen Stillstand und Aberglauben. So stellten sie auch das Erscheinungsbild der eigenen Religion in Frage, sagt Serdar Günes, der sich an der Universität Frankfurt mit islamischem Reformdenken beschäftigt.

    "Das drückte sich zum Teil darin aus, dass man die Schuld bei den Muslimen sah. Dass man gesagt hat, das Handeln der Muslime durch die Jahrhunderte hinweg hat sich immer mehr vom Islam entfernt. Also müssen wir zum Islam zurück."

    Zurück zum Islam - was soll das bedeuten?
    Einer der wichtigsten Reformdenker im 19. Jahrhundert war der Gelehrte Dschamal ad-Din al-Afghani. Er kämpfte für die Unabhängigkeit der arabisch-islamischen Welt und wollte die Macht der Kolonialherren brechen. Sein Ansatz: mit Technologie und Wissenschaft aus dem Westen den Islam modernisieren. Sein Schüler Muhammad Abduh setzte al-Afghanis Werk fort. Zurück zum Islam – das war die Devise der beiden Denker. Aber es gab damals unterschiedliche Meinungen darüber, was das bedeuten solle, sagt Serdar Günes.

    "Während einige mit 'Zurück zum Islam' meinten, dass wir heute nochmal neu interpretieren und versuchen, die Intention in die heutige Zeit zu tragen, haben die anderen damit verstanden, dass wir in der Geschichte zurückgehen und die Gesellschaft von damals heute wieder herstellen. Und diese zwei Tendenzen gibt es heute noch. Und die sind im Widerstreit."

    So führte eine Linie von al-Afghani und Abduh auch zu dem Ägypter Sayid Qutb, Mitte des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Vordenker des radikalen Islamismus – eine rückwärtsgewandte Variante der Reform. Al-Afghani und Abduh inspirierten aber auch liberalere Erneuerer. Die beiden hatten vor allem ein Übel im islamischen Denken ausgemacht: das Prinzip der Nachahmung. In seinen Anfangszeiten hatte der Islam eine blühende Debattenkultur ausgeprägt. Gelehrte entwickelten eigene Gedanken und stritten kontrovers über die Grundfragen der Religion. Es herrschte Meinungsvielfalt, sagt die Hamburger Professorin Katajun Amirpur, Autorin des Buches "Den Islam neu denken". So seien viele unterschiedliche Interpretationen von Koransuren gesammelt und nebeneinander gestellt worden.

    "Das zeigt natürlich dieses Beispiel, dass diese verschiedenen Interpretationen, diese verschiedenen Exegesen gleichwertig nebeneinander bestanden und dass jeder einfach nur als seine eigene Meinung ausgegeben hat, was er dazu sagt. Niemand hat beansprucht, dass es die letztgültige Weisheit ist, was da nun wirklich steht."

    Doch über die Jahrhunderte erstarrte das Denken. Maßgeblich wurde das, was die wichtigsten religiösen Autoritäten im Mittelalter festgehalten hatten – es galt, deren Vorgaben nachzuahmen, ohne sie zu hinterfragen. Der Raum für eigene Interpretation schrumpfte massiv. Hier setzen heute fast alle Islamreformer an. Sie wollen Platz schaffen für kritisches Denken und selbstständiges Schlussfolgern. So auch der Marokkaner Muhammad Abed al-Jabri, einer der wichtigsten Philosophen der arabischen Welt im 20. Jahrhundert. Für ihn verhinderte das Prinzip der Nachahmung den wissenschaftlichen Fortschritt, sagt Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy. Al-Jabri stieß sich vor allem am Umgang mit dem Koran und den anderen Quellen im Islam. Seine zentrale Kritik:

    "Der Leser liest im Islam nicht mehr den Text, sondern der Text liest den Leser. Und was er damit meint, ist, dass diese klassischen islamischen Quellen und die heiligen Texte so häufig interpretiert wurden, dass eigentlich jedes Kind (das Lesen und Schreiben lernt), wenn es auf diese Texte stößt, schon so viel über die Auslegung der Texte gehört hat, dass es gar nicht mehr in der Lage ist, diese neu zu lesen."

    Für die Reformer gibt es mehr als eine Wahrheit
    Al-Jabri und andere Reformdenker stehen für pluralistisches Denken. Für sie gilt, dass es mehr als eine Wahrheit gibt. Und dass Wahrheit nie endgültig sein kann, sondern sich mit der Zeit immer wieder wandelt. Sie wollen vor allem der individuellen Vernunft ein starkes Gewicht verleihen. Ganz neu ist das nicht: Schon im Mittelalter gab es mit den so genannten Muatazaliten eine rationalistische Denkschule im Islam, die mit der eigenen Vernunft die Wahrheit finden wollte. Daraus ergeben sich entscheidende Fragen: Ist der Mensch frei und für seine Taten selbst verantwortlich oder hat Gott sein Schicksal vorherbestimmt? Ist der Koran wörtlich zu verstehen oder metaphorisch? Zentral ist für Reformdenker wie al-Jabri auch die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Religion. Sie wollen den Islam von politischen Einflüssen befreien.

    "Viele sehen auch, dass die Religion von den machtpolitischen und realpolitischen Entscheidungen befleckt wird. Diese Debatte finden Sie auch bei Jabri, finden Sie auch bei den Muatazaliten. Und da ist natürlich auch die Idee des Säkularismus angelegt. Das heißt nicht, dass die Leute gegen den Islam sind oder dass sie sich persönlich nicht als gläubige Muslime definieren. Aber gerade deswegen machen sie diese Reformanstrengungen, um den Islam wieder zu retten und rauszuhalten aus der Realpolitik."

    Häufig kamen Reformanstöße nicht aus den klassischen Zentren islamischer Theologie. Al-Jabri, 2010 gestorben, war Philosoph und Erkenntnistheoretiker. Ein Zeitgenosse, der Ägypter Nasr Hamid Abu Zaid, lehrte Literaturwissenschaft und versuchte deren Methodik auf die Koraninterpretation zu übertragen. Andere heutige Reformdenker kommen aus Malaysia, Südafrika oder den USA. Viele stießen und stoßen auf heftigen Widerstand. Der genaue Einfluss der Reformdenker ist schwer zu messen. Doch sie haben Spuren hinterlassen, die nicht mehr auszuwischen sind, vor allem in der jüngeren Generation – so auch al-Jabri, der von Marokko bis zum arabischen Golf gelesen wurde, sagt Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy.

    "Er war unglaublich populär in der arabischen Welt. Ich habe mich ja lange mit der Zivilgesellschaft in Marokko beschäftigt. Und in den alltäglichen Auseinandersetzungen zwischen säkularen Gruppierungen und islamistischen Gruppierungen habe ich es immer wieder gehört, dass sich junge Leute auf Jabri bezogen haben, um ihre Aktionen zu legitimieren und zu sagen: Nein, ich kann mir auch meine eigene Meinung bilden aufgrund meiner eigenen Vernunftanstrengung – und du hast mir das nicht vorzuschreiben."