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"Eine riesige Blamage für die amerikanische Regierung"

Rainer Stinner, außenpolitischer Sprecher der FDP, sagt sinngemäß, es sei unangenehm für die USA, dass ihre Diplomaten nicht in der Lage seien, sensible Daten mit Aussagen über Politiker zu schützen. Dennoch solle man die Sache weniger hoch hängen.

Rainer Stinner im Gespräch mit Dirk Müller | 29.11.2010
    Dirk Müller: WikiLeaks sorgt seit Monaten für Überraschungen, für Peinlichkeiten, für Skandale, aber auch für politische Neubewertungen, vielleicht sogar für eine neue Wirklichkeit, bei der Afghanistan-Politik der Amerikaner beispielsweise, oder auch bei der Irak-Politik der USA. Nun sind 250.000 neue Dokumente auf dem Markt, diesmal geht es um vertrauliche Aufzeichnungen amerikanischer Diplomaten über ausländische Politiker, aber auch über außenpolitische Strategien und Geheimnisse. Demnach hat beispielsweise der saudische König dafür plädiert, den Iran anzugreifen. WikiLeaks und die Bundesregierung, das wird der Aspekt bei uns hier sein in den nächsten Minuten. Wir haben eben schon darüber ausführlich berichtet. Abfällige Zeilen per E-Mail finden sich bei den amerikanischen Diplomaten auch über die Kanzlerin, über den Außenminister, auch über Horst Seehofer. Lobend hingegen erwähnt die amerikanische Botschaft in Berlin den deutschen Verteidigungsminister. Über das alles sprechen wollen wir nun mit Rainer Stinner, außenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Guten Tag!

    Rainer Stinner: Hallo! Guten Tag.

    Müller: Herr Stinner, sind die Amerikaner unverschämt?

    Stinner: Nein, sie sind nicht unverschämt. Zunächst einmal ist das ganze eine riesige Blamage für die amerikanische Regierung, dass sie nicht in der Lage ist, solche sensiblen Daten zu schützen. Ansonsten plädiere ich dafür, die ganze Reaktion auch in Deutschland etwas tiefer zu hängen. Es handelt sich hier um Einschätzungen, die zum Teil ja auch durchaus Presseinformationen entsprechen, die die Botschaft sammelt und weitergibt, und das ist normales diplomatisches Geschäft. Ob es allerdings sinnvoll ist, in dieser Weise persönliche Einschätzungen von Politikern über Botschaftskabel zu übermitteln, das lasse ich mal dahingestellt.

    Müller: Also wenn der amerikanische Botschafter so etwas schreibt, dann hat er das aus irgendeiner Zeitung?

    Stinner: Nein, das nicht unbedingt. Aber ich nehme an, er hat sich ein Bild gemacht durch verschiedene Gespräche. Ich will nur darauf hinweisen, dass die Tatsache, dass Botschaften an ihre Heimatländer Informationen liefern über die politische Situation inklusive Einschätzungen von Politikern und von politischen Situationen, ist ganz normales Tagesgeschäft.

    Müller: Haben Sie denn gedacht, die Amerikaner hätten ein besseres Bild von uns?

    Stinner: Nein. Dieses Bild ist jetzt so wie es ist. Ich bin persönlich der Meinung, das hat sich auch angedeutet in den letzten Kabeln wohl, dass das Bild zum Beispiel von Außenminister Westerwelle sich in den letzten Wochen und Monaten dramatisch verbessert hat, und das auch zurecht, weil seine außenpolitischen Aktivitäten auch bei den Amerikanern Respekt hervorgerufen haben.

    Müller: Herr Stinner, reden wir doch mal darüber, was da drin stand bei WikiLeaks mit Blick auf Guido Westerwelle: Inkompetent, aggressiv, eitel, antiamerikanisch. Das ist doch harter Tobak?

    Stinner: Das ist harter Tobak, keine Frage, und das halte ich auch nicht für gerechtfertigt. Das ist die Einschätzung, die die amerikanische Botschaft wohl vor einem Jahr zu Beginn der Amtszeit Westerwelles wiedergegeben hat. Ich halte das für falsch und ich sage nochmals, ich erkenne auch in Kontakten zur amerikanischen Botschaft, dass sich die Einschätzung von Guido Westerwelle in den letzten Monaten dramatisch – ich wiederhole dramatisch – verändert hat.

    Müller: Das heißt, wenn wir in einem Jahr weitere WikiLeaks-Dokumente bekommen, dann haben wir ein anderes Bild?

    Stinner: Ich gehe davon aus. Ich hoffe nur, dass wir sie nicht bekommen werden, denn wie gesagt, über die Befindlichkeiten, die man in Deutschland äußern, diskutieren kann – und das will ich auch gar nicht bei Seite schieben -, ist der Schaden ja viel größer. Den Bericht, den Sie gerade eben gegeben haben, über Informationen über die Golf-Staaten, das ist höchste politische Brisanz und ist gefährlich, und das ist die wahre Dimension dieser WikiLeaks-Geschichte.

    Müller: Haben Sie davon gewusst mit Blick auf die Golf-Staaten?

    Stinner: Nein, in der Weise habe ich davon nicht gewusst.

    Müller: Haben Sie auch nicht damit gerechnet?

    Stinner: Nein. Ja gut, gerechnet? Bei all meinen Besuchen in den Golf-Staaten war völlig klar, dass nach dem Austausch von ersten Höflichkeiten bei den Besuchen das Thema Iran immer im Vordergrund stand. Es ist völlig klar, dass in den Golf-Staaten die potenzielle Bedrohung des Irans im Vordergrund steht und ein großer Schatten über den Golf-Staaten liegt. Das ist mir selbst durch eigene Erfahrung und durch eigene Gespräche immer wieder bewusst geworden. Die politischen Detailhintergründe, die jetzt bei WikiLeaks herausgekommen sind, habe ich im Detail nicht gewusst.

    Müller: Jetzt reden wir mal über die Auswirkungen, politischen Konsequenzen möglicherweise. Das ist ja auch das, was Sie sagen: das ist im Grunde wichtiger als das, was über Politiker, über die Befindlichkeiten geschrieben wird. Also kommen wir noch einmal zurück zu dieser Aussage, die da in WikiLeaks steht, in welchen klaren Worten auch immer. Demnach soll ja der saudische König gesagt haben, wir sollten, wenn es geht, in Iran intervenieren, Ahmadinedschad in irgendeiner Form eliminieren oder bei Seite schaffen. Ist das für die Weltöffentlichkeit gut, das zu wissen, oder kontraproduktiv?

    Stinner: Das ist kontraproduktiv. Es ist auch überraschend in dieser Deutlichkeit, wie er das gesagt hat, denn wir waren bisher davon ausgegangen, dass neben anderen Überlegungen ein Militärschlag gegen den Iran auch deshalb überhaupt nicht opportun ist, weil damit die ganze arabische Welt natürlich in einen unübersehbaren Aufruhr gesetzt werden würde. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass das der Fall ist, unabhängig davon, was der saudi-arabische König dazu sagt.

    Müller: Das heißt, die Wahrheit kann auch schaden?

    Stinner: Die Wahrheit kann auch durchaus schaden. Die Wahrheit in dem Sinne, dass solche Überlegungen ans Licht kommen und dass solche Geheimverhandlungen ans Licht kommen, schadet natürlich. Alle, die im diplomatischen politischen Geschäft sind in dieser Ebene, müssen davon ausgehen, dass ihre Gespräche und Überlegungen, die ja zum Teil auch Vorüberlegungen sind und unabgewogen sind die gewichtet werden und gewertet werden und überholt werden und korrigiert werden, dass solche Überlegungen tatsächlich eben geheim bleiben.

    Müller: Und dann werden in Demokratien die Bürger über die wahren Tatsachen belogen?

    Stinner: Nein, das würde ich jetzt nicht sagen. Zunächst einmal: Wir reden ja jetzt von den Golf-Staaten und den Überlegungen der Herrscherhäuser. Mein Anliegen ist nur – und deshalb sehe ich tatsächlich einen großen Schaden bei den WikiLeaks-Veröffentlichungen -, dass jetzt offensichtlich das diplomatische politische Geschäft ungleich schwieriger wird, weil man natürlich sehr viel vorsichtiger formuliert und auch keine Thesen mehr in den Raum stellen kann, ohne Gefahr laufen zu müssen, mit einer solchen These, die unabgewogen ist, die gewichtet werden muss, in drei Wochen im "Spiegel" zu stehen.

    Müller: Schauen wir, Herr Stinner, noch mal auf diese Wahrhaftigkeit, was Sie gerade thematisiert haben. Wenn die Weltöffentlichkeit oder wir jetzt wissen, dass der saudische König gegebenenfalls über eine Militärintervention im Iran nachgedacht hat, oder diese sogar gefordert hat, können wir dann noch Waffen nach Saudi-Arabien liefern?

    Stinner: Ich würde jetzt den Zusammenhang so unmittelbar nicht herstellen wollen.

    Müller: Warum?

    Stinner: Ich meine, zunächst mal möchte ich gerne, bevor ich ein endgültiges Urteil mache, mir wirklich genauere Informationen verschaffen über das, was wirklich abgelaufen ist und ob nicht eventuell noch ein Kabel-Bericht auftaucht, der dann eventuell das widerruft, was jetzt in der Presse steht.

    Müller: Den wird es bestimmt geben!

    Stinner: Ja, so kann es durchaus sein. Deshalb ist dies das Problem. Ich habe heute Morgen zum Beispiel den "Spiegel" gelesen, da war eine Information, die objektiv falsch ist. Da wird zum Beispiel behauptet, der Botschafter Murphy habe im Frühjahr 2009 vor einem Besuch von Außenministerin Clinton einen Kabel-Bericht geschickt. Ich muss darauf hinweisen, dass Botschafter Murphy erst im Sommer 2009 nach Berlin gekommen ist. Solche Dinge merkt man erst, wenn man sich näher mit den Dingen beschäftigt, und von daher plädiere ich nach wie vor dafür – wir haben heute Montag Mittag -, das ganze sehr ernst zu nehmen. Ich finde, das Problem ist sehr ernst. Aber bevor ich zu endgültigen Urteilen komme, möchte ich doch gerne mal mir ein umfassendes Bild verschaffen.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Rainer Stinner. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Stinner: Danke Ihnen!