Friedbert Meurer: 3000 Tote gab es am 11. September 2001 in New York und Washington. "9/11" nennt man das in den USA. Jetzt in Boston sind es drei. Einige der Schwerverletzten schweben aber noch in Lebensgefahr. Trotzdem: ein Bombenanschlag auf Zuschauer und Läufer des berühmten Boston-Marathon ruft in den USA natürlich ungute Erinnerungen wieder wach. Es gibt auch wieder Briefe mit einem Pflanzengift, wie gehört, die an Politiker abgeschickt worden sind. Das alles ähnelt Vorgängen vor Jahren. Bettina Klein hat gestern Abend den FDP-Europaabgeordneten und USA-Kenner Alexander Graf Lambsdorff gefragt, ob er sich an 9/11 jetzt erinnert fühlt.
Alexander Graf Lambsdorff: Ja. Die Mischung der Ereignisse, die Komplexität der Vorgänge, die Unsicherheit im Umgang mit den Vorgängen, all das spiegelt doch wirklich die Gefühle wieder, die man hatte, wenn man nach dem 11. September 2001 in den USA war. Ich habe damals da gelebt. Das heißt, ich kann das ganz gut nachvollziehen, wie unsicher im Moment die Amerikaner sind, wie unsicher sie sind, wenn es darum geht, zu beurteilen, was hat es mit diesem Anschlag auf sich – ein Anschlag, der ja überhaupt keinen Sinn zu machen scheint, der politisch einzuordnen praktisch unmöglich ist, der sich aber gegen ein Symbol richtet. Der Boston-Marathon ist ein Symbol, die Stadt Boston selber ist ein Symbol, und von daher gibt das insgesamt eine Mischung, die sicher bei vielen eine Verunsicherung auslöst wie nach 9/11, wenngleich man natürlich das Ausmaß der Anschläge überhaupt nicht vergleichen kann.
Bettina Klein: Ja ganz klar. Das FBI sagt auch bisher, es habe noch keine Belege für mögliche Verbindungen, was diese Ereignisse angeht. – Bleiben wir noch kurz bei Ihren Eindrücken, Herr Lambsdorff. Sie haben mir vorhin erzählt, dass Sie gerade in Boston gewesen sind. Sie haben es auch gerade kurz angedeutet: Im liberalen Massachusetts, in Boston, einer Stadt, ein Symbol auch für die europäischen Wurzeln Amerikas und auch ein Symbol für das politische Establishment der USA. Wie bewerten Sie es, dass ausgerechnet dort diese Anschläge verübt wurden?
Graf Lambsdorff: Ja ich habe es eben gesagt: Boston ist eine Stadt mit einem hohen Symbolwert in den USA. Boston ist einerseits, Wie Sie es gesagt haben, Frau Klein, die Stadt, in der die europäische Besiedlung stattgefunden hat. Es ist aber auch die Stadt, von der die amerikanische Revolution ausgegangen ist. Es ist eine Stadt mit einem sehr stark ausgeprägten Gemeinsinn. Und die Straße, in der diese Bombe explodiert ist, Boylston Street, wenn man sich das mit einer deutschen Stadt vergleichen möchte, das ist die Straße, die zum Stadtpark führt, zu den Boston Commons, also dort, wo sich die Menschen versammeln. Das ist ganz nah an all den Orten, wo die amerikanischen Revolutionäre den Unabhängigkeitskrieg geplant haben, wenige hundert Meter vom Bostoner Hafen, wo die berühmte Boston Tea Party stattgefunden hat. Das ist also mit anderen Worten in meinen Augen jedenfalls ein bewusst gewählter Ort, um Amerika erneut durch den Anschlag auf ein Symbol zu treffen.
Klein: Wir wissen ja so wenig, dass es inzwischen auch ein Thema geworden ist: was wäre denn eigentlich schlimmer, wenn es sich wieder um einen islamistischen Anschlag gehandelt hätte, oder ein Verbrechen mit rein innenpolitischem Bezug, oder die Tat eines, wie es ja heißt, vielleicht sogar verrückten Einzeltäters. Haben Sie für sich darauf eine Antwort gefunden?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, das kann man nicht beantworten. Jeder dieser Fälle wäre schlimm. Wir erinnern uns an Oklahoma City, Timothy McVeigh, das war ein Rechtsradikaler, der Hunderte von Menschen in den Tod gerissen hat. Die Islamistischen Terroristen von 9/11 haben Tausende in den Tod gerissen. Für die Angehörigen ist es aber ganz egal: Es gibt drei tote Menschen, darunter ein achtjähriges Kind. Das ist schlimm, es ist ein Ereignis, das ins Bewusstsein rückt, dass man bei Großereignissen eben nie absolute Sicherheit garantieren kann. Das gilt nicht nur für die Amerikaner, das gilt auch für uns hier in Europa. Insofern sind wir in unseren offenen Gesellschaften da miteinander verbunden, auch in unserer Verwundbarkeit.
Klein: Und doch fragen sich ja viele zumindest hierzulande in Deutschland, wie es eigentlich sein könne, dass gerade in den USA, die ja wirklich drastische Maßnahmen ergriffen haben zur Terrorabwehr nach dem 11. September 2001, die auch beim Thema Datensammlung weiter voranschreiten als die Europäer in jedem falle, es doch nicht gelungen ist, das zum einen zu verhindern, und zum zweiten man ja auch ein paar Tage nach den Anschlägen im Grunde genommen kaum einen Hinweis hat, in welche Richtung das gegangen sein könnte, welchen Hintergrund das gehabt haben könnte. Was ist Ihre Erklärung?
Graf Lambsdorff: Da muss man zweierlei beachten, glaube ich. Das eine ist, und die "Washington Post" hat das sehr gut geschrieben, wie ich finde. Die hat gesagt: "Wir haben jetzt ein Jahrzehnt hinter uns, in dem es gelungen ist, Anschläge zu verhindern. Die verhinderten Anschläge bleiben nicht im kollektiven Gedächtnis haften. Hier in Boston ist es jetzt einmal nicht gelungen, und natürlich hat das dann eine viel stärkere Wirkung." Ich glaube, die Maßnahmen, die uns Europäern manchmal übertrieben erscheinen mögen, die haben durchaus ihre Wirkung. Wie gesagt, es ist für Europäer, gerade für einen Liberalen, nicht jede dieser Maßnahmen akzeptabel, wir würden das in Europa nicht so machen, aber es hat Erfolg gehabt, jedenfalls über viele Jahre.
Das andere ist die Tatsache, dass man jetzt den Täter noch nicht hat. Das ist, glaube ich, bei einem Fahndungsvorgang normal, dass man erst einmal schauen muss, findet man überhaupt Spuren, und jetzt hat man wenige Tage nach den Ereignissen immerhin schon ein Bild. Marcus Pindur hat es, glaube ich, eben selber gesagt. Dessen Identität festzustellen, das dürfte relativ schnell gehen, und dann werden die ermittelnden Behörden da weitersehen, ob sie Fortschritte machen und der Täter habhaft werden können.
Klein: Präsident Obama hat direkt am Montag die Einheit der Amerikaner betont und gebeten, den Parteienstreit mal ein wenig ruhen zu lassen. Nun stehen die Amerikaner in der Regel tatsächlich zusammen nach schrecklichen Ereignissen wie diesen. Allerdings sind sie dann doch auch wiederum parteilicher vielleicht, als es früher gewesen ist. Kann man jetzt schon etwas zu potenziellen Nachwirkungen auf politischer Ebene sagen, oder hängt das komplett davon ab, wer der oder die Täter waren?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, das wird sehr stark davon abhängen, wer die Täter waren. Sollten das tatsächlich islamistische Terroristen gewesen sein, wird das eine andere Reaktion zeitigen, glaube ich, in Washington, als wenn es sich um Rechtsradikale handelt. Ich glaube, eine Sache, die man nicht vergessen darf, ist das, was Marcus Pindur eben auch gesagt hat, die Möglichkeit, es könnten homegrown terrorists sein mit islamistischem Hintergrund, das heißt also Schläferzellen der Al Kaida auf dem Gebiet der USA. Das würde wieder einem Klima der Verdächtigungen Vorschub leisten. Das wäre das, was man sich am wenigsten wünschen kann, denn das führt dann zu gegenseitigen Vorwürfen, zu Verdächtigungen, zu Denunziationen und zur Diskriminierung von ganzen Bevölkerungsgruppen. Da ist die Gefahr in meinen Augen am größten, dass das gesellschaftliche Klima der USA vergiftet werden kann. Insofern ist zu hoffen, dass das sich nicht herausstellt als Täterquelle. Aber dennoch, ich habe es eben schon mal gesagt: der Anschlag ist schlimm für die Opfer, der Anschlag ist schlimm für die Angehörigen, er ist schlimm für die Verletzten, unabhängig davon, wer ihn verübt hat.
Meurer: Alexander Graf Lambsdorff, Europaabgeordneter der FDP. Meine Kollegin Bettina Klein stellte die Fragen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alexander Graf Lambsdorff: Ja. Die Mischung der Ereignisse, die Komplexität der Vorgänge, die Unsicherheit im Umgang mit den Vorgängen, all das spiegelt doch wirklich die Gefühle wieder, die man hatte, wenn man nach dem 11. September 2001 in den USA war. Ich habe damals da gelebt. Das heißt, ich kann das ganz gut nachvollziehen, wie unsicher im Moment die Amerikaner sind, wie unsicher sie sind, wenn es darum geht, zu beurteilen, was hat es mit diesem Anschlag auf sich – ein Anschlag, der ja überhaupt keinen Sinn zu machen scheint, der politisch einzuordnen praktisch unmöglich ist, der sich aber gegen ein Symbol richtet. Der Boston-Marathon ist ein Symbol, die Stadt Boston selber ist ein Symbol, und von daher gibt das insgesamt eine Mischung, die sicher bei vielen eine Verunsicherung auslöst wie nach 9/11, wenngleich man natürlich das Ausmaß der Anschläge überhaupt nicht vergleichen kann.
Bettina Klein: Ja ganz klar. Das FBI sagt auch bisher, es habe noch keine Belege für mögliche Verbindungen, was diese Ereignisse angeht. – Bleiben wir noch kurz bei Ihren Eindrücken, Herr Lambsdorff. Sie haben mir vorhin erzählt, dass Sie gerade in Boston gewesen sind. Sie haben es auch gerade kurz angedeutet: Im liberalen Massachusetts, in Boston, einer Stadt, ein Symbol auch für die europäischen Wurzeln Amerikas und auch ein Symbol für das politische Establishment der USA. Wie bewerten Sie es, dass ausgerechnet dort diese Anschläge verübt wurden?
Graf Lambsdorff: Ja ich habe es eben gesagt: Boston ist eine Stadt mit einem hohen Symbolwert in den USA. Boston ist einerseits, Wie Sie es gesagt haben, Frau Klein, die Stadt, in der die europäische Besiedlung stattgefunden hat. Es ist aber auch die Stadt, von der die amerikanische Revolution ausgegangen ist. Es ist eine Stadt mit einem sehr stark ausgeprägten Gemeinsinn. Und die Straße, in der diese Bombe explodiert ist, Boylston Street, wenn man sich das mit einer deutschen Stadt vergleichen möchte, das ist die Straße, die zum Stadtpark führt, zu den Boston Commons, also dort, wo sich die Menschen versammeln. Das ist ganz nah an all den Orten, wo die amerikanischen Revolutionäre den Unabhängigkeitskrieg geplant haben, wenige hundert Meter vom Bostoner Hafen, wo die berühmte Boston Tea Party stattgefunden hat. Das ist also mit anderen Worten in meinen Augen jedenfalls ein bewusst gewählter Ort, um Amerika erneut durch den Anschlag auf ein Symbol zu treffen.
Klein: Wir wissen ja so wenig, dass es inzwischen auch ein Thema geworden ist: was wäre denn eigentlich schlimmer, wenn es sich wieder um einen islamistischen Anschlag gehandelt hätte, oder ein Verbrechen mit rein innenpolitischem Bezug, oder die Tat eines, wie es ja heißt, vielleicht sogar verrückten Einzeltäters. Haben Sie für sich darauf eine Antwort gefunden?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, das kann man nicht beantworten. Jeder dieser Fälle wäre schlimm. Wir erinnern uns an Oklahoma City, Timothy McVeigh, das war ein Rechtsradikaler, der Hunderte von Menschen in den Tod gerissen hat. Die Islamistischen Terroristen von 9/11 haben Tausende in den Tod gerissen. Für die Angehörigen ist es aber ganz egal: Es gibt drei tote Menschen, darunter ein achtjähriges Kind. Das ist schlimm, es ist ein Ereignis, das ins Bewusstsein rückt, dass man bei Großereignissen eben nie absolute Sicherheit garantieren kann. Das gilt nicht nur für die Amerikaner, das gilt auch für uns hier in Europa. Insofern sind wir in unseren offenen Gesellschaften da miteinander verbunden, auch in unserer Verwundbarkeit.
Klein: Und doch fragen sich ja viele zumindest hierzulande in Deutschland, wie es eigentlich sein könne, dass gerade in den USA, die ja wirklich drastische Maßnahmen ergriffen haben zur Terrorabwehr nach dem 11. September 2001, die auch beim Thema Datensammlung weiter voranschreiten als die Europäer in jedem falle, es doch nicht gelungen ist, das zum einen zu verhindern, und zum zweiten man ja auch ein paar Tage nach den Anschlägen im Grunde genommen kaum einen Hinweis hat, in welche Richtung das gegangen sein könnte, welchen Hintergrund das gehabt haben könnte. Was ist Ihre Erklärung?
Graf Lambsdorff: Da muss man zweierlei beachten, glaube ich. Das eine ist, und die "Washington Post" hat das sehr gut geschrieben, wie ich finde. Die hat gesagt: "Wir haben jetzt ein Jahrzehnt hinter uns, in dem es gelungen ist, Anschläge zu verhindern. Die verhinderten Anschläge bleiben nicht im kollektiven Gedächtnis haften. Hier in Boston ist es jetzt einmal nicht gelungen, und natürlich hat das dann eine viel stärkere Wirkung." Ich glaube, die Maßnahmen, die uns Europäern manchmal übertrieben erscheinen mögen, die haben durchaus ihre Wirkung. Wie gesagt, es ist für Europäer, gerade für einen Liberalen, nicht jede dieser Maßnahmen akzeptabel, wir würden das in Europa nicht so machen, aber es hat Erfolg gehabt, jedenfalls über viele Jahre.
Das andere ist die Tatsache, dass man jetzt den Täter noch nicht hat. Das ist, glaube ich, bei einem Fahndungsvorgang normal, dass man erst einmal schauen muss, findet man überhaupt Spuren, und jetzt hat man wenige Tage nach den Ereignissen immerhin schon ein Bild. Marcus Pindur hat es, glaube ich, eben selber gesagt. Dessen Identität festzustellen, das dürfte relativ schnell gehen, und dann werden die ermittelnden Behörden da weitersehen, ob sie Fortschritte machen und der Täter habhaft werden können.
Klein: Präsident Obama hat direkt am Montag die Einheit der Amerikaner betont und gebeten, den Parteienstreit mal ein wenig ruhen zu lassen. Nun stehen die Amerikaner in der Regel tatsächlich zusammen nach schrecklichen Ereignissen wie diesen. Allerdings sind sie dann doch auch wiederum parteilicher vielleicht, als es früher gewesen ist. Kann man jetzt schon etwas zu potenziellen Nachwirkungen auf politischer Ebene sagen, oder hängt das komplett davon ab, wer der oder die Täter waren?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, das wird sehr stark davon abhängen, wer die Täter waren. Sollten das tatsächlich islamistische Terroristen gewesen sein, wird das eine andere Reaktion zeitigen, glaube ich, in Washington, als wenn es sich um Rechtsradikale handelt. Ich glaube, eine Sache, die man nicht vergessen darf, ist das, was Marcus Pindur eben auch gesagt hat, die Möglichkeit, es könnten homegrown terrorists sein mit islamistischem Hintergrund, das heißt also Schläferzellen der Al Kaida auf dem Gebiet der USA. Das würde wieder einem Klima der Verdächtigungen Vorschub leisten. Das wäre das, was man sich am wenigsten wünschen kann, denn das führt dann zu gegenseitigen Vorwürfen, zu Verdächtigungen, zu Denunziationen und zur Diskriminierung von ganzen Bevölkerungsgruppen. Da ist die Gefahr in meinen Augen am größten, dass das gesellschaftliche Klima der USA vergiftet werden kann. Insofern ist zu hoffen, dass das sich nicht herausstellt als Täterquelle. Aber dennoch, ich habe es eben schon mal gesagt: der Anschlag ist schlimm für die Opfer, der Anschlag ist schlimm für die Angehörigen, er ist schlimm für die Verletzten, unabhängig davon, wer ihn verübt hat.
Meurer: Alexander Graf Lambsdorff, Europaabgeordneter der FDP. Meine Kollegin Bettina Klein stellte die Fragen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.