Dienstag, 14. Mai 2024


Eine Verfassung aller Deutschen

Als die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 die Verfassung für den westdeutschen Teilstaat annahmen, beanspruchten sie, auch für jene Deutschen zu handeln, "denen mitzuwirken versagt war". Das Grundgesetz zwang die Politik dazu, den Gedanken an die Wiedervereinigung aufrecht zu halten und wurde damit zu einer Klammer der geteilten Nation.

08.05.1999
    Verabschiedung des GG im Parlamentarischen Rat, Konrad Adenauer: "(Glocke) Meine Damen und Herren, das Grundgesetz ist mit 53 Ja-Stimmen gegen 12 Nein-Stimmen angenommen worden (Bravo-Rufe, Applaus)"

    Das Werk war ein Ausdruck des Zwiespalts. Als Konrad Adenauer am 8. Mai 1949 das Ergebnis der Schlußabstimmung verkündete, hatte der Parlamentarische Rat in Bonn das Fundament für den ganzen Staat einer halbierten Nation gelegt. Nur zögernd hatte man den Auftrag der westlichen Allierten dazu erfüllt. Allen Beteiligten war klar, daß die Staatsgründung im Westen die Kluft zu den Landsleuten in der sowjetischen Besatzungszone vertiefen würde. Nur ein Provisorium sollte der neue Staat deshalb sein; nicht Verfassung, sondern nüchtern Grundgesetz nannte der Parlamentarische Rat daher sein Werk.

    In der Prämbel forderte der Parlamentarische Rat die Deutschen auf, die Einheit und Freiheit ihres ganzen Landes zu vollenden. Die Väter und die vier Mütter des Grundgesetzes nahmen dabei ausdrücklich für sich in Anspruch, auch für jene Deutschen zu handeln, denen – wie es in der Präambel hieß – "mitzuwirken versagt war." Das Grundgesetz sollte eine Verfassung aller Deutschen sein.

    Auch im anderen Deutschlands pflegte man nach der Gründung der DDR das Pathos der Einheit und besang in der Nationalhymne das einig Vaterland:

    DDR Nationalhymne: "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt. Laß uns Dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland!"

    Erst in den siebziger Jahren tilgte der SED-Staat alle offziellen Erinnerungen an die Einheit der Nation. Die DDR-Nationalhmyne wurde seitdem nur noch in der Instrumentalversion intoniert. Eine neue Verfassung propagierte die Idee einer sozialistischen deutschen Nation östlich der Elbe.

    Im Westen aber verpflichtete das Grundgesetz die Politik dazu, den Gedanken an die Einheit wach zu halten. Als die Bundesrepublik und die DDR 1972 im Grundlagenvertrag versprachen, sich als jeweils unabhängige Staaten zu respektieren, begab sich die sozialliberale Koalition damit auf eine verfassungsrechtlich heikle Gratwanderung.

    Auf eine Klage Bayerns hin erklärte das Bundesverfassungsgericht Willy Brandts Politik eines Wandels durch Annäherung 1973 für vereinbar mit dem Grundgesetz. Das Karlsruher Urteil zum Grundlagenvertrag wurde jedoch vor allem zu einem Manifest des Einheitsgedankens. Deutschland als Ganzes, so verlas Walter Seufert, der Vizepräsident des Gerichts aus den Urteilsgründen, habe nie aufgehört zu existieren, weder im Mai 1945 noch im Mai 1949.

    BVerfG zu Grundlagenvertrag: "Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert. Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat Deutsches Reich, in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings – sozusagen – teilidentisch. Die DDR gehört zu Deutschland und kann im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland nicht als Ausland angesehen werden."

    Die Präambel des Grundgesetzes mit ihrem Appell zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit sei nicht nur ein unverbindlicher Vorspruch, sondern – so das Bundesverfassungsgericht – bindendes Recht.

    BVerfG zu Grundlagenvertrag: "Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben. Alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken. Das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Inneren wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde."

    Der Anspruch des Grundgesetzes und die Verfassungswirklichkeit aber klafften zunehmend auseinander. Durch gewundene Begriffe sollte die politische Realität mit dem verfassungsrechtlichen Dogma in Einklang gebracht werden. Nicht völkerrechtliche Beziehungen, so hieß es, unterhalte die Bundesrepublik zur DDR, sondern lediglich "Beziehungen völkerrechtlicher Art." Nicht Botschaften repräsentierten den einen deutschen Staat im anderen, sondern "Ständige Vertretungen". Der Gedanke der staatlichen Einheit lebte vor allem als gedankliches Konstrukt der Verfassungslehre fort.

    Vielen Politikern schien das Grundgesetz mit seinem sperrigen Wiedervereinigungsgebot deshalb überholungsbedürftig. Klaus Bölling, der frühere Regierungssprecher Helmut Schmidts, in einem Rundfunkessay 1985:
    Klaus Bölling: "Unwiderlegbar ist allerdings auch, daß es nichts mehr wiederzuvereinigen gibt. Das Wort Wieder ist sprachlich wie politisch irreführend. Der Hinweis auf die weder positiv noch negativ zu berechnende Geschichte, der Hinweis auf die Notwendigkeit, in großen Zeiträumen zu denken: das fruchtet wenig. Den Deutschen die heute leben, ist nicht damit geholfen, daß man sie an Konrad Adenauers Wort erinnert, wir müßten einen langen Atem haben".
    Vier Jahre später war Bölling wiederlegt. Die Ostdeutschen, die im Herbst 1989 über die Trümmer der Mauer in den Westen kamen, waren dort Deutsche im Sinne des Grundgesetzes. Nicht einem anderen Staat, sondern dem Grundgesetz traten im Oktober 1990 die fünf neugegründeten Länder auf dem Gebiet früheren DDR bei. Es hatte sich nicht nur als Verfassung der Freiheit, sondern 40 Jahre lang auch als eine geistige Klammer der geteilten Nation erwiesen.