Karnath: Aber es muss ja nun einen ordentlichen Schub gegeben haben von vorgestern bis heute, wenn diese 60 Prozent denn, von denen Herr Tiefensee gesprochen hat, gestimmt haben - das war ja nun mal gerade über die Hälfte an Einigungschancen, da müssen ja große Gräben übersprungen worden sein.
Schleyer: Es gab einige wenige Punkte, die bis zum Schluss noch teilweise offen waren, teilweise auch umstritten waren. Zu den Punkten gehörte die Frage der Leistungskürzungen, zu den Punkten gehörte die Frage, wie eigentlich die so genannte 'Personal-Serviceagentur' ausgestattet werden sollte, zu diesen Fragen gehörten auch bestimmte Zumutbarkeitsregelungen. Das alles haben wir geregelt, weil wir nicht nur von der Aufgabe ausgegangen sind, gemeinsam etwas zustande zu bringen, von dem jede Regierung – wie auch immer sie zusammengesetzt ist – profitieren könnte, sondern weil wir eben auch immer wieder deutlich gemacht haben: Es gibt einen Zusammenhang; diese ganzen Instrumente müssen ineinandergreifen. Insgesamt ist das, glaube ich, jetzt ein gutes Paket. Wir haben allerdings auch deutlich gemacht, dass das eine Momentaufnahme ist, dass man doch nach zweieinhalb Jahren überprüft, ob ein sehr anspruchsvolles Ziel, das wir uns gesetzt haben, noch erreicht ist. Und wenn das nicht erreicht ist, müssen wir kurzfristig zu weitergehenden Maßnahmen, etwa auch zu allgemeinen Leistungskürzungen, kommen.
Karnath: Bleiben wir mal bei der allgemeinen Leistungskürzung. Da waren die Gewerkschaften ja bis zum Schluss vehement dagegen. Wie lautet denn jetzt die Kompromissformel?
Schleyer: Die Kompromissformel geht letztlich davon aus, dass wir eine ganze Reihe von individuellen Sanktionen unter dem Stichwort 'fördern und fordern' – oder Sie können auch sagen: Ohne Leistung, nämlich ohne Mitwirkungsleistung des Arbeitslosen gibt es keine Gegenleistung - dass wir unter diesem Stichwort eine ganze Reihe dann auch von individuellen Sanktionen vereinbart haben, wenn die Mitwirkung nicht besteht
Karnath: Was sind das für welche?
Schleyer: Das geht damit los, dass jemand, der die Kündigung bekommt, von diesem Moment an verpflichtet ist, diese Tatsache dem Arbeitsamt zu melden, dass also gleich mit entsprechenden Vermittlungsbemühungen begonnen werden kann. Es geht weiter über die so genannte 'Umkehr der Beweislast'. Wir haben einen Katalog von Aufgaben aufgestellt und von Kriterien aufgestellt, die die Frage der Zumutbarkeit der Arbeit unter geographischen, unter funktionalen, auch unter finanziellen Gesichtspunkten definieren. Das heißt etwa, dass ein Arbeitsloser auch mit wachsender Dauer der Arbeitslosigkeit bereit sein muss, wachsende Einkommenseinbußen in Kauf zu nehmen. Das ist ein Katalog, der deutlich macht, dass mit wachsender Dauer der Arbeitslosigkeit er auch Aufgaben übernehmen muss, die seiner bisherigen Ausbildung nicht entsprechen. Also, damit ist eben doch ein erhebliches Maß an Mitwirkung, an Umorientierung und an Mobilität gefragt. Wir halten das für notwendig, auch im Sinne der Solidargemeinschaft. Wenn er dem nicht Rechnung trägt, dann wird entsprechend sanktioniert. Auf der anderen Seite: Wir wollen eine moderne Dienstleistungseinrichtung mit den modernen Arbeitsämtern als Servicezentren. Die Arbeitslosen werden nicht alleine gelassen. Sie werden begleitet, sie werden an die Hand genommen, sie müssen sehr viel besser beraten werden, sie müssen sehr viel engagierter auch vorbereitet werden auf neue Aufgaben. Das ist das Prinzip 'fördern und fordern'.
Karnath: Ist denn diese pauschale '12-Monate-Arbeitslosengeldzahldauer' jetzt vom Tisch? Schleyer: Sie ist nicht vom Tisch, sondern wir haben gesagt: Weil wir an die umfangreichen individuellen Maßnahmen glauben, weil wir davon überzeugt sein müssen – sonst würden wir das Ergebnis unserer Arbeit in Frage stellen –, dass das, was wir jetzt unter dem Gesichtspunkt 'fördern und fordern', wenn jemand nicht mitwirkt, auch an Sanktionen aufgestellt haben, dass dieses wirken wird. Wenn wir allerdings in dieser Erwartung enttäuscht sein werden, dann muss es kurzfristig weitergehende Maßnahmen geben. Und das bedeutet eben auch – so ist es ausdrücklich formuliert –, dass man dann eben auch über die Einführung der zeitlichen Begrenzung des Arbeitslosengeldes entscheiden muss.
Karnath: Die Gewerkschaften werden ja nicht leicht über diese Hürde gesprungen sein. Sie waren ja eigentlich von Anfang an dagegen, überhaupt etwas zu kürzen bei Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Wie hat es denn die Kommission geschafft, die Gewerkschaftsvertreter auf ihre Seite zu ziehen?
Schleyer: Ich glaube, weil wir doch uns mit einer ganzen Reihe von innovativen Instrumenten beschäftigt haben. Einige habe ich genannt, die es uns – wenn alle mitmachen; ich sage das einmal so –erlauben, die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu reduzieren und damit eben auch die Langzeitarbeitslosigkeit abzusenken, so dass hoffentlich die Abkürzung der Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld gar nicht eintreten muss, weil es uns gelungen ist, nicht nur die Zahl der Arbeitslosen, sondern eben auch die Dauer der Arbeitslosigkeit damit zu reduzieren. Das ist die Erwartung, von der wir ausgehen. Von daher konnten, glaube ich, auch Gewerkschaften dieser Lösung zustimmen. Wenn allerdings diese Erwartung, das ist allen klargeworden, nicht eintritt, dann bleibt uns im Interesse der Aufrechterhaltung des Systems nichts anderes übrig, als zu weitergehenden Maßnahmen zu kommen.
Karnath: Gibt es etwas Definitives zum Niedriglohnbereich?
Schleyer: Da gibt es eine Vereinbarung. Einmal haben wir doch in diesem Bereich den sogenannten 'Minijob' jetzt; das war nicht zuletzt auch aus der Wirtschaftsbetrachtung wichtig, auch wenn er zunächst begrenzt ist auf den Bereich von haushaltsnahen Dienstleistungen - aber das sind immerhin potentielle 3,5 Millionen Arbeitsplätze, die wir dort haben . . .
Karnath: . . . Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche. Also, für diesen Bereich wird die Grenze von jetzt 325 Euro auf 500 Euro angehoben? . . .
Schleyer: . . . auf 500 Euro angehoben mit einer Pauschalabgeltung in Höhe von zehn Prozent, so dass das auch attraktiv ist. Was in dem Zusammenhang wichtig ist, ist die steuerliche Abzugsfähigkeit, das ist wichtig auch für den Arbeitgeber. Und es ist wichtig, dass vor allem auch nicht ausgeschlossen ist, dass sich Dienstleistungsagenturen finden, die sozusagen private Haushaltshilfen zu attraktiven Bedingungen vermitteln. Denn eines der Probleme, warum man bisher nicht legal eine Haushaltshilfe beschäftigt hat, bestand ja darin, dass ein durchschnittlicher privater Haushaltsvorstand völlig überfordert war, sich über Fragen der Berufsgenossenschaften, der Sozialversicherungen, der Lohnsteuertabellen zu informieren und sich damit auseinanderzusetzen. Das war eine erhebliche Barriere. Die glauben wir mit Dienstleistungsagenturen überwinden zu können.
Karnath: Herr Schleyer, was ist mit den Ostanleihen? Die sind ja heftig kritisiert worden, seit sie auf dem Tisch sind. Kommen sie oder kommen sie nicht, und kommen sie, wenn sie kommen, in dieser Höhe?
Schleyer: Also, ich glaube, da ist auch schlecht kommuniziert worden. Das Ganze muss man reduzieren auf zwei Elemente. Das eine Element ist etwas, wofür wir gerade als Handwerk uns immer stark eingesetzt haben: Das ist eine Verstärkung der kommunalen Möglichkeiten, zu investieren in Infrastrukturen. Das schafft Aufträge, das schafft damit Arbeitsplätze im ersten – im normalen – Arbeitsmarkt. Das zweite Element, der so genannte 'Jobfloater', das ist, wenn Sie so wollen, ein Förderprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau, das zu marktüblichen Konditionen finanziert wird – ein Förderprogramm, das aus zwei Teilen besteht: Auf der einen Seite gibt das Programm einem Betrieb die Möglichkeit eines erleichterten Zugangs zu Fremdkapital, also zu einem Darlehen. Auf der anderen Seite, wenn der Betrieb einen Arbeitslosen einstellt, bringt dieser Arbeitslose noch, wenn das gewünscht ist, ein Stück Eigenkapital in den Betrieb mit hinein. Diese Eigenkapitalkomponente ist ganz interessant, denn viele mittlere Betriebe haben eine Eigenkapitalschwäche, und diese Schwäche könnte über eine solche – in dem Fall im Risiko der Kreditanstalt für Wiederaufbau befindliche – Stärkung reduziert werden.
Karnath: Herr Schleyer, nochmal kurz zur Arbeit der Kommission im Ganzen. Warum eigentlich sind diese ganzen Einzelvorschläge seit Ende Juni an die Öffentlichkeit geraten? Wäre es nicht besser gewesen, man hätte das Gesamtkonzept erarbeitet, hätte sich darauf geeinigt und das dann als großen Wurf auf den Tisch gelegt – und nicht so häppchenweise?
Schleyer: Eine ideale Vorstellung, aber Sie wissen, wie das ist. Es ist zum einen natürlich ein Thema, was eine große Bedeutung hat. Arbeitslosigkeit in Deutschland ist ein beherrschendes Thema, ist DAS beherrschende Thema. Zum anderen haben Sie es mit 15 Kommissionsmitgliedern und noch einer Reihe von Mitarbeitern einer Geschäftsstelle zu tun. Und weil das Thema so wichtig ist, ist auch das öffentliche Interesse so groß. Ich sage Ihnen ganz offen: Mich hat gewundert, dass es doch ein paar Monate gedauert hat überhaupt, dass die ersten Informationen aus der Kommissionsarbeit an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Als das dann geschehen ist, fand ich es richtig, dass Peter Hartz die Öffentlichkeit gesucht hat und man eine Struktur dessen vorgestellt hat, was wir in der Kommission beraten.
Karnath: Und es ist aber nicht so gewesen, dass Kanzler Schröder da vielleicht zwischendurch am Telefon gewesen ist und gesagt hat: 'Nun werft mal ein bisschen was auf den Tisch, ich brauche ein paar positive Meldungen für meinen Wahlkampf'?
Schleyer: Also, das weiß ich nicht. Natürlich hat der Kanzler mit dem Kommissionsvorsitzenden telefoniert. Was da vereinbart worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber noch einmal: Wichtig ist jetzt, dass eine unabhängige Kommission ein Ergebnis vorlegt, das für jede Regierung, wie immer sie zusammengesetzt ist, eine vernünftige Arbeitsgrundlage darstellt.
Karnath: Denken Sie, dass das Ergebnis vielleicht noch vernünftiger hätte ausfallen können, wenn diese Kommissionsarbeit nicht in die heiße Phase des Wahlkampfes gefallen wäre?
Schleyer: Ja und nein . . .
Karnath: . . . was hätte sich geändert, was wäre anders gewesen? . . .
Schleyer: . . . ich glaube, dadurch, dass dieses Thema in dieser heißen Wahlkampfphase nun eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat, haben sich auch die Beteiligten an diesem Wahlkampf, nämlich die Regierungsparteien und die Oppositionsparteien in einer Weise damit auseinandersetzen müssen, dass sie gezwungen werden, es nicht bei verbalen Zustimmungen zu belassen, sondern tatsächlich etwas zu tun. Das ist, glaube ich, jetzt der große Vorteil. Alle Parteien haben sich verpflichtet, auf diesem Gebiet 'Bekämpfung der Arbeitslosigkeit' mehr zu machen, als nur wieder irgendwo an der Peripherie herumzudoktern. Wir kommen um wirkliche strukturelle Reformen nicht umhin, wobei ich eines nochmal sehr deutlich machen muss: Die Kommission hat sich im wesentlichen mit der Bundesanstalt, mit der Optimierung der Vermittlungstätigkeit beschäftigt, mit neuen Instrumenten, wie man fördern und fordern kann. Arbeitsplätze in der benötigten Zahl werden dadurch alleine nicht geschaffen. Also, es fehlt das weite Feld der politischen Rahmenbedingungen. Da werden wir über eine Fortentwicklung der Steuerreform sprechen müssen, da werden wir über die Sozialversicherungssysteme sprechen müssen; wir brauchen eine Gesundheitsreform, hier explodieren die Kosten. Wir werden nicht umhin kommen, auch eine Rentenreform bald weiter wieder durchzuführen. Und wir werden uns mit anderen allgemeinen Bedingungen beschäftigen müssen, aus meiner Sicht etwa auch mit Einstiegsbarrieren auf dem Arbeitsmarkt, über die sich die Kommission nicht geäußert hat – wie etwa die Frage 'Kündigungsschutz' und anderem.
Karnath: Hanns-Eberhard Schleyer, Generalsekretär des Handwerksverbandes und Mitglied der Hartz-Kommission. Das Gespräch haben wir gestern aufgezeichnet.