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Einigung mit Polen noch möglich

Die frühere Regierungskoordinatorin für die deutsch-polnischen Beziehungen in Warschau, Irena Lipowicz, hält eine Lösung des Verfassungsstreits in der Europäischen Union noch für möglich. Den Vorschlag aus Polen für eine Korrektur am geplanten Abstimmungsmodus in der EU empfinde man in Warschau bereits als Kompromiss, sagte Lipowicz. Dies werde aber offenbar im Rest Europas anders gesehen.

Moderation: Klaus Remme |
    Klaus Remme: Irena Lipowicz war Regierungskoordinatorin für die deutsch-polnischen Beziehungen in Warschau, jetzt lehrt sie Verwaltungsrecht an der Universität dort. Guten Morgen, Frau Lipowicz.

    Irena Lipowicz: Guten Morgen.

    Remme: Können Sie uns erklären, warum Präsident und Regierungschef einen so kompromisslosen Kurs gegen den Rest der EU steuern?

    Lipowicz: Das, was wir jetzt in der offiziellen Erklärung der Regierungskoalition sehen, klingt ungefähr so: Polen hat mit dieser Idee des neuen Abstimmungssystems mit Quadratwurzeln sowieso schon einen Kompromiss angedeutet. Früher hatte Polen im Rahmen des Nizza-Systems eigentlich ein System für die Abstimmung erwartet, was noch weiter gegangen wäre. Das Problem ist jetzt, dass sowohl die Regierung als auch gestern die Opposition diesen Vorschlag gerade für einen Kompromiss annimmt, was, wie wir sehen, auch zum Beispiel im Interview von Elmar Brok und vor allem im Interview von Präsident Sarkozy anders in Europa gesehen wird. Was wir gestern in Stimmen der Presse und in Stimmen in den Medien unter führenden Politikern gesehen haben, war eigentlich die große Hoffnung, dass der Besuch von Präsident Sarkozy auch eventuell eine Bereitschaft Frankreichs bedeuten kann, den polnischen Vorschlag zu unterstützen.

    Remme: Das sieht aber nicht so aus.

    Lipowicz: Das sieht jetzt nach dem Interview von Präsident Sarkozy nicht so aus, und alle erwarten heute die Ergebnisse der Gespräche.

    Remme: Frau Lipowicz, niemals werden wir die Idee der doppelten Mehrheit akzeptieren, so heißt es. Wie ernst ist das zu nehmen?

    Lipowicz: Das muss man erst in den Verhandlungen sehen. Andererseits sagt der Ministerpräsident, wir sind kompromissbereit und Polen ist - ich zitiere - zu einem Kompromiss, aber nicht zu einer Kapitulation bereit. Das ist natürlich eine Wortwahl und eine Haltung, die, wie wir in Kommentaren der anderen Länder sehen, auch in Deutschland auf kein Verständnis stößt. Andererseits, ich möchte daran erinnern: Wir haben hier einen Gedanken, dass gerade die kleineren Länder der Union im neuen System leicht überstimmt werden könnten, und das Interessante ist, dass man eher so einen Eindruck hat, Polen hat hier schon etwas angeboten. Wir haben doch früher auch gesehen, dass einige Länder, auch Frankreich manchmal und auch die anderen kleineren Länder, ihre Probleme hatten oder ihre speziellen nationalen Ideen, die dann im Laufe der Verhandlungen doch in einem Kompromiss gelöst werden konnten.

    Remme: Frau Lipowicz, Elmar Brok haben Sie erwähnt, er hat gestern Morgen in diesem Programm gesagt, die Forderung mit der Quadratwurzel sei fast ausschließlich auf das Kräfteverhältnis mit Berlin ausgerichtet. Stimmen Sie zu?

    Lipowicz: Das wäre eigentlich zu weit gegangen. Deswegen hoffe ich auf den heutigen Besuch. Ich glaube, es ist eher der Eindruck, die kleineren Länder der Union haben hier weniger zu sagen. Unsere Regierung und unser Parlament halten diesen Vorschlag für etwas sehr Seriöses, und wie ich sehe hat man wenig Kompromissbereitschaft vor dem Gipfel, sondern hat mehr auf die Verhandlungen im Gipfel allein gehofft.

    Remme: Frau Lipowicz, kaum irgendwo gibt es in der Bevölkerung so viel Zustimmung zur Europäischen Union wie in Polen. Warum also die Notwendigkeit der Regierung und der Staatsführung, so fordernd, so egoistisch aufzutreten?

    Lipowicz: Also egoistisch, das ist schon eine Bewertung. Ich würde sagen, wenn wir uns ganz ruhig die Situation ansehen, trotz aller Dramatik, ist es so, dass tatsächlich zum Beispiel in Großbritannien die Analytiker uns sagen, dass Ministerpräsident Blair eine Situation hat, in der die euroskeptische Bevölkerung mit einer sehr euroenthusiastischen Regierung zusammen trifft. Bei uns ist es eigentlich umgekehrt. 80 Prozent Polens sind mit der Europäischen Union sehr zufrieden. Und dazu kommen noch die Wahlergebnisse. Die Regierung und das Parlament verstehen so ihre Rolle, die nationalen Interessen in der Union zu verteidigen. So ist die Realität. Es ist auch so, dass man, glaube ich, mit Adjektiven, mit Bewertungen hier wenig erreichen kann. Wenn man aber sachlich argumentiert und sagt, wie könnte man aus dieser Situation heraus kommen - ich hoffe, wir werden noch den Weg finden.

    Remme: Wer hat den größeren Einfluss in Warschau, Sarkozy oder Merkel?

    Lipowicz: Ich muss sagen, Bundeskanzlerin Merkel hat sich ein großes Ansehen in Polen in ihrer Haltung - vor allem in Samara - und überhaupt in ihrer Art und Weise, wie sie Polens Interesse wahrnimmt, erworben. Aber ich glaube, man hat mit Präsident Sarkozy die Hoffnung verbunden, dass er mit seiner politischen Haltung wirklich diesen Vorschlag akzeptieren wird. Viele Kommentatoren haben diese Hoffnung beim Ministerpräsidenten oder Staatspräsident verstärkt. Deswegen kann ich mir vorstellen, dass das gestrige Interview eine große Enttäuschung gewesen sein musste.

    Remme: Der polnische Beauftragte, Cichocki, hat gesagt, die Forderung nach einer Stärkung der polnischen Position habe ihren Grund in einem historischen Rabatt dafür, dass Polen ohne eigenes Verschulden 50 Jahre lang von der Europäischen Einigung ausgeschlossen gewesen sei. Frau Lipowicz, was halten Sie von diesem Argument?

    Lipowicz: Herr Chichocki hat historisch argumentiert, Rabattargumentationen haben wir schon in der Union gesehen, Großbritannien hatte doch seinen berühmten Rabatt. Ich bin nicht überzeugt, dass diese Argumentation sehr viel Unterstützung momentan findet. Ich habe eher - aber das habe ich bei Herrn Chichocki eigentlich nicht gelesen - eine Argumentation gehört, dass Herr Chichocki als Beauftragter argumentierte, Polen spricht hier für kleinere Länder der Union, nicht nur für neue Länder, die manchmal keinen Mut haben, so etwas auszusprechen. Viele Abgeordnete sagen, inoffiziell können wir unseren Vorschlag unterstützen, nur offiziell sagt man ganz vehement nein. Man hat immer noch gehofft oder in der polnischen öffentlichen Meinung den Eindruck erweckt, dass man dort die Unterstützung - vielleicht nicht der Mehrheit jetzt, aber vielleicht in der Zukunft - für einen Vorschlag finden wird, der, wie ein französischer Kommentator und Berater von Sarkozy sagte, intelligent und einfach sei. Ich glaube, wenn man jetzt mit sehr pauschalen Argumenten wie "Egoismus" auf die polnische Stellungnahme reagiert, dann verhärtet sich nur wieder die Regierungsposition.

    Remme: Irena Lipowicz war das, die frühere Regierungskoordinatorin für die bilateralen Beziehungen. Frau Lipowicz, vielen Dank.

    Lipowicz: Danke, schönen Tag.