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Einigung über EU-Verfassung noch vor dem Beitritt der neuen Länder?

Wiese: Es war im vergangenen Dezember, als ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste europäische Projekt scheiterte, jedenfalls vorerst: Die EU-Verfassung. Und zwar scheiterte sie an der Arithmetik, wenngleich die natürlich politisch unterfüttert ist. Also: Laut Verfassungsentwurf soll der EU-Rat Entscheidungen dann treffen können, wenn hinter ihnen 50 Prozent der Mitgliedstaaten stünden, die gleichzeitig 60 Prozent der Bevölkerung repräsentierten, die so genannte doppelte Mehrheit. Diese Variante scheiterte vor allem am Widerstand Spaniens und Polens, die eine Vorherrschaft der großen Länder Frankreich und Deutschland befürchten. Nun ist eine neue, die 55-zu-55-Formel ins Spiel gekommen, will sagen: Mehrheitsentscheidungen nur dann, wenn sie 55 Prozent der Mitgliedstaaten und 55 Prozent der Bevölkerung wollen. Etwas kompliziert, das Ganze, weshalb ich hoffe, jetzt mit dem zuständigen Kommissar für die EU-Erweiterung Günter Verheugen ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Herr Verheugen, ist diese Formel nun der Stein der Weisen, der Durchbruch für eine gemeinsame europäische Verfassung?

Moderator: Hans-Joachim Wiese |
    Verheugen: Das ist bestimmt noch zu früh, um das zu sagen. Das ist eine von vielen Ideen, die im Augenblick öffentlich oder weniger öffentlich diskutiert werden. Für mich ist es im Moment nicht viel mehr als ein Zeichen dafür, dass die Mitgliedstaaten ernsthaft angefangen haben zu überlegen, wie man die Verfassung doch noch retten kann und wie man zu einer gemeinsamen Haltung doch noch kommen kann. Ob das jetzt genau die Lösung wird, das weiß ich nicht. Mein Eindruck ist, vor allem Dingen aus meinen sehr intensiven Gesprächen in und mit Polen, dass dort jedenfalls die Bereitschaft immer größer wird, auf einen Kompromiss einzugehen.

    Wiese: Danach wollte ich Sie jetzt fragen. Haben Sie konkrete Signale aus Spanien und aus Polen, dass sie diesen Kompromiss zuneigen könnten?

    Verheugen: Ich kann Ihnen gar nichts darüber sagen, was die einzelnen Länder zu einem konkreten Vorschlag sagen, wenn es überhaupt schon konkrete Vorschläge gibt. Wir haben uns aus gutem Grund darauf verständigt, dass die irische Präsidentschaft zunächst einmal in aller Stille sondiert und feststellt, ob es überhaupt irgendwelche Kompromissmöglichkeiten gibt. Dann wird sie beim nächsten Europäischen Rat in etwa zwei Wochen einen Bericht vorlegen, und dann werden wir alle wissen, wie es weitergehen kann und ob es weitergehen kann. Ich kann aus der Sicht der Kommission zu der Idee, die offenbar in Berlin geboren ist, nur sagen, diese Idee ist ziemlich nahe an dem, was die Kommission ursprünglich vorgeschlagen hatte, und zwar schon in Nizza. Wir hatten in Nizza schon vorgeschlagen, dieses komplizierte System der Mehrheitsberechnung wird abgelöst durch etwas, was einfach, transparent und demokratisch ist, und das war die so genannte doppelte Mehrheit, aber nicht mit 55 Prozent Staatenmehrheit und 55 Prozent Bevölkerungsmehrheit, sondern schlicht und einfach 50 Prozent. Aber 55 Prozent ist davon nicht weit entfernt, und für die Kommission wäre das sicherlich keine Schwierigkeit. Ob es für die Polen und für die Spanier eine Möglichkeit ist, das müssen jetzt die Iren in Gesprächen herausfinden.

    Wiese: In Berlin wird dieses Modell ja zurückhaltend zunächst mal ein Gedankenspiel genannt und noch nicht der Königsweg gewissermaßen zur Einigkeit. Wann kann es denn so weit sein, noch vor der Europawahl im Sommer?

    Verheugen: Erstens gibt es sehr viele solche Gedankenspiele. Ich kenne ungefähr ein Dutzend von möglichen Modellen, die sich entweder beziehen auf Veränderungen der Zahlen oder die sich beziehen auf prozedurale Einigungen, wie man überhaupt in der Sache vorgehen wird. Also da muss man jetzt wirklich abwarten. Ja, wann? Der große Wunsch ist eigentlich, dass das vor dem 1. Mai passiert, also vor den Beitritten. Ich habe vergangene Woche in Polen intensiv dafür geworben, dass Polen ein positives Zeichen setzt, vor dem 1. Mai einen Kompromissvorschlag akzeptiert, und den Polen vor allen Dingen folgende Botschaft überbracht: Dass sie verstehen sollen, dass innerhalb des Systems der Europäischen Union ein Kompromiss nicht ein Zeichen von Schwäche oder gar Vaterlandsverrat ist, wie die Opposition in Polen das sagt, sondern ein Kompromiss in der Europäischen Union ist ein Zeichen von politischer Reife. Ohne Kompromiss geht überhaupt nichts in einer Gemeinschaft von 25 souveränen Staaten.

    Wiese: Es ist ja nicht leicht zu verstehen, warum Spanien und Polen, die zusammen gerade so viele Einwohner haben wie Deutschland alleine, darauf bestehen, das gleiche Stimmengewicht zu haben.

    Verheugen: Also in Polen kann ich es Ihnen erklären. In Polen war das Problem, dass der Vertrag von Nizza aus Gründen, die ich sehr schwer nachvollziehen kann – aber es ist nun mal so gemacht worden -, für Spanien und Polen eine fast gleich hohe Stimmenzahl wie für Deutschland und die anderen großen Länder vorgesehen hat, also Deutschland und die anderen großen Länder 29, und dann kommen Polen und Spanien mit 27 Stimmen. Jetzt haben zumindest die Polen bei dem Verfassungsentwurf das Gefühl, dass sie gegenüber Deutschland deutlich schlechter gestellt werden, und da sagen sie, wir sind aber auf der Basis des Vertrags von Nizza beigetreten, auf der Basis der Gleichberechtigung, und kaum sind wir drin oder noch nicht mal richtig drin, und unsere Position wird verschlechtert. Das ist die polnische Argumentation. Sie ist nach meiner Meinung in der Sache nicht zutreffend und sie ist wohl auch nur psychologisch verständlich, aber das ist der Hintergrund.

    Wiese: Und die anderen sagen, die Polen sind noch nicht mal richtig drin und schon stellen sie Forderungen.

    Verheugen: Ja, aber bei allem Verständnis für diese Argumentation, wir sind nun mal die Institutionen, die dafür da sind. Die Mitgliedsländervertretungen sind dafür da, dass die Mitgliedsländer dort ihre Interessen vertreten. Also ich finde nicht, dass es dazu gehört, dass ein neues Mitglied zunächst ein paar Jahre den Mund zu halten hat und brav alles hinzunehmen hat.

    Wiese: Was Frankreich ja vorgeschlagen hat.

    Verheugen: Ja, das war in einem anderen Zusammenhang. Da ging es um eine außenpolitische Frage, und auch da fand ich es damals unangemessen, weil man ja nicht sagen kann, die Deutschen, die Franzosen und die Briten dürfen sich zu einer weltpolitischen Frage äußern, und die Polen, Tschechen und Ungarn dürfen es nicht.

    Wiese: Was, wenn es trotz aller Bemühungen doch nicht zu einer Einigung kommt? Ist die EU-Verfassung dann endgültig gestorben und was bedeutete das?

    Verheugen: Ich halte das für wirklich nahezu ausgeschlossen, dass das passieren kann. Wir haben schon häufig Situationen gehabt, bei denen im ersten Anlauf der Erfolg nicht gelungen ist. Man muss ja auch sagen, dass hier bei diesem großen und weitreichenden Verfassungsprojekt die italienische Präsidentschaft vielleicht ein bisschen zu ehrgeizig war in der Überzeugung, man könne das in drei, vier Monaten regeln. Ich habe das nie geglaubt, dass das möglich sein könnte. Alle Erfahrung zeigt, dass ein solcher Misserfolg eher neue Kräfte freisetzt, eine neue Dynamik entwickelt, und dass man es dann im zweiten Anlauf schafft. Ich bin sicher, noch vor Ende dieses Jahres.

    Wiese: Vielen Dank für das Gespräch.