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Einpassung des Individuums

Lüritz gibt es nicht, jedenfalls nicht dem Namen nach. Die Hafenstadt an der Ostsee kann Wismar sein, Warnemünde oder Stralsund. Aus Datenschutzgründen hat die in Amerika lehrende, deutsche Rechtshistorikerin Inga Markovits das idyllische Pseudonym gewählt, als sie nach der Wende ein normales ostdeutsches Amtsgericht erforschte.

Von Florian Felix Weyh |
    In Lüritz kam ihr ein DDR-typischer Zufall entgegen: Zwar hatte man viel Papiergut bis hin zu Notizbüchern zur Makulierung aussortiert, doch war das Altpapier nie abgeholt worden. Der Historikerin schlug das Herz höher. Trotz aller Lücken war der Fund, "vollständig genug, um die Lebensgeschichte eines Rechtssystems nachzuzeichnen, das mit den Hoffnungen einiger weniger begann und unter der Last der Enttäuschungen von vielen zu Grunde ging."

    Das kleine Amtsgericht – später hieß es Kreisgericht – beschäftigte fünf Richterinnen und Richter und urteilte über alles: zivilrechtliche Streitigkeiten, Fälle aus dem Arbeits-, Familien und Strafrecht. Nur die offenkundig politisch anrüchigen Verfahren wanderten in die nächst höhere Instanz, wo die Historikerin manche Spur verfolgt. Doch im Fokus ihrer Arbeit steht der unspektakuläre Provinzalltag. Sie will wissen, welche Stellung das Recht in einer "Erziehungsdiktatur" einnahm, die widerborstige, zumindest aber passive Bürger zu "guten Sozialisten" formen wollte.

    Schon auf der für den Marxismus fundamentalen Stufe des Eigentums klappte es nicht. Auch DDR-Bürgern galt Privatbesitz als Garant des höchsten irdischen Glücks. Während in Zivilprozessen buchstäblich um jeden Nagel prozessiert wurde – es herrschte ja Mangelwirtschaft –, war das Volkseigentum in den Augen der nominellen Besitzer ein herrenloses Gut. "Weder den Volksrichtern", schreibt die Historikern "noch späteren Richtergenerationen in der DDR scheint es gelungen zu sein, ihre Bürger davon zu überzeugen, dass Volkseigentum tatsächlich Eigen¬tum des Volkes war."

    Diese Widerständigkeit gegen die oktroyierte Kollektivideologie durchzog auch das Arbeitsrecht. Anfänglich wehren sich noch Arbeiter in Lohn- und Prämienstreitigkeiten gegen ihre Betriebe. Schon bald aber strengten die Betriebe Prozesse gegen ihre Angestellten an: wegen Bummelei, Suff am Arbeitsplatz oder um Störer zu kündigen. Gewinnen konnten sie diese Prozesse kaum, sie hatten wohl mehr Entlastungsfunktion, denn in einem Gestrüpp von verordneten "kollektiver Maßnahmen" versuchte das Gericht, die verlorenen Schafe irgendwie wieder in die Herde einzugliedern.

    Ab Ende der 60er-Jahre scheint das dieses Verfahren als gescheitert betrachtet worden zu sein. Nun wanderten die Problemfälle ins Strafrecht hinüber, wo ihre Zahl explodierte. "In Lüritz steigen die Verurteilungen wegen Arbeitsscheu von 0,7 Prozent aller Verurteilten im Jahre 1964 auf fast 42 Prozent im Jahre 1973", konstatiert die Historikerin und nennt dies "vorbeugende Strafrechts-Medizin". Ein bitteres, doch vollkommen wirkungsloses Mittel, das nur die Weltfremdheit des sozialistischen Menschenbilds dokumentiert. Andersartige, unproduktive und am Leben scheiternde Menschen durfte es in der DDR nicht geben.

    Parallel dazu erwies sich der Begriff der Asozialität offen für politischen Missbrauch, und da in der DDR "Arbeitsscheue" schneller als alle anderen Verdächtigen in Untersuchungshaft kamen, lässt sich vermuten, dass etliche Lüritzer "Arbeitsscheue" in Wahrheit Dissidenten waren.

    Nein, die DDR war keine mild zu verspottende Wohlfühldiktatur. Inga Markovits bringt Verständnis für viele Zwänge des richterlichen Alltags auf, erkennt in einem Urteil auch schon mal "soziales Verantwortungsbewusstsein", aber die räumliche und zeitliche Distanz bewahrt sie vor einem zu engen Schulterschluss mit ihrem Untersuchungsgegenstand.

    Daran, dass in Lüritz auch schlimme Dinge passierten, lässt sie keinen Zweifel: "Weil ich mehr als die Hälfte meines Lebens in Amerika gelebt und gearbeitet habe", schreibt sie im Kapitel über Familienrecht, "empfinde ich die Enge und aufgezwungene Fürsorge des DDR-Rechts als bedrohlicher als manche Übergriffe der Partei. Weil ich selber Kinder habe und lieber ins Gefängnis gegangen wäre, als sie zu verlieren, entrüsten mich die Unrechtsurteile des Lüritzer Gerichts bei Erziehungsrechtsentzügen mehr als in manchen Republikflucht-Fällen."

    So sieht auch der dunkelste Fall aus, den die Historikerin aus dem Gerichtsarchiv zieht: der willkürliche Entzug dreier kleiner Kinder durch den Staat, mit faustdicken Lügen der "Jugendhilfe" forciert und von einem willfährigen Gericht abgenickt. Am Ende stand der Selbstmord der jungen Mutter, der eindeutig auf den Missbrauch staatlicher Gewalt zurückging. Recht in der DDR hieß eben nie Recht des Individuums gegen Übergriffe, sondern Einpassung des Individuums in vorgegebene ideologische Schablonen. Die Schwachen, die heute noch die DDR idealisieren, konnten auf autokratische Fürsorge zählen, die Starken nur auf aggressive Unterdrückung.

    "Es waren die selbständigen Menschen, mit denen der Sozialismus nicht zurechtkam, nicht die Abhängigen", bringt es die deutsch-amerikanische Historikerin auf den Punkt. Ihr außerordentlich flüssig geschriebenes Buch gehört ins Regal eines jeden Jurastudenten, ja in die Hand aller jungen Menschen, die mit Weltveränderungsideologien kokettieren. Denn wo dafür der Mensch umgemodelt werden muss, verliert das Recht seine Kraft. Lüritz gibt es nicht – und Gerechtigkeit in Lüritz gab es auch nie.

    Inga Markovits: "Gerechtigkeit in Lüritz", Verlag C.H. Beck.