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Einwanderungsland Deutschland
Zwei Brüder und ihr Traum vom besseren Leben

Antonie Rietzschel erzählt in "Dreamland Deutschland?" überzeugend und nachvollziehbar die Geschichte von Mohamad und Yousef. Ein Jahr hat sie das syrische Bruderpaar in Deutschland begleitet und erlebt nicht nur mit, wie so mancher Traum zerplatzt, sondern auch, warum so manches Hilfsangebot zur Integration zwar gut gemeint ist, aber dennoch nicht immer funktioniert.

Von Conrad Lay | 13.06.2016
    Ein Flüchtling in einem Sprachkurs
    Das erste Jahr in Deutschland erleben die meisten Flüchtlinge als große Herausforderung. (dpa / picture-alliance / Karl-Josef Hildenbrand)
    Im Auftrag der "Süddeutschen Zeitung" fuhr die Autorin Antonie Rietzschel im Dezember 2014 nach Mailand. Dort hoffte sie Flüchtlinge zu treffen, um sie auf ihrer Fahrt nach Deutschland zu begleiten. "Was darf's denn sein?", fragte die italienische Flüchtlingshelferin am Mailänder Hauptbahnhof. Es dauerte keine fünf Minuten, da kam sie mit zwei syrischen Flüchtlingen an, den Gebrüdern Yousef und Mohanad.
    Yousef, der ältere Bruder, war von der syrischen Armee desertiert und hatte sich eineinhalb Jahre in Syrien versteckt, bevor er floh und in der Türkei seinen jüngeren Bruder Mohanad traf. Dieser wollte unbedingt nach Deutschland, denn das war für ihn als Ingenieur sein "dreamland", wie es im Titel des Buches heißt. Insbesondere bewunderte er deutsche Maschinen, die tatsächlich so funktionieren, wie es die Bedienungsanleitung vorsieht. Antonie Rietzschel:
    "Also das war das erste, was er mir erzählt hat, als wir uns getroffen haben, über Deutschland, also er hat da bei einer Getränke-Abfüllanlagen-herstellung gearbeitet, und die haben da deutsche Maschinen gehabt, und er hat sofort den Namen dieser Firma gewusst, und wusste auch, dass die in der Nähe von München sind, und deshalb wollte er ursprünglich nach München; weil er wollte gerne zu dieser Firma gehen und sagen, 'ich hab da gearbeitet, und hab eure Maschinen bedient und programmiert', und er war da unglaublich stolz drauf, dass er da mit deutschen Maschinen zusammenarbeiten konnte, und für ihn ist es unglaublich faszinierend, deutsche Maschinen und der kennt mittlerweile deutsche Wörter, die ich nicht mal kenne, also im Zusammenhang mit Ingenieurstechnik und sowas."
    Die drei fuhren also mit dem Zug von Mailand nach Verona und weiter Richtung Brenner. Die Brüder hatten sich Sonnenbrillen besorgt, weil sie hofften – so die Autorin –, auf diese Weise als Italiener durchzugehen. Antonie Rietzschel erinnert sich an die Szene:
    "Das war ein bisschen skurril, wir wussten auch nicht so richtig, was wir dazu sagen sollten, weil die dann kamen und fragten, 'Sehen wir aus wie Italiener?' Und wir so: 'Naja, Italiener sehen auch nicht so typisch aus mit nach hinten gegelten Haaren und mit Sonnenbrillen, aber okay, ihr könnt es gerne so versuchen, also wir werden euch jetzt auch keine Tipps geben an der Stelle, wie das funktioniert, wie ihr da durchkommt'. Wir sind ja nur Beobachter an der Stelle, aber wir haben da auch sehr viel drüber lachen müssen."
    Große Erwartungen und geplatzte Träume
    Am Brenner Hauptbahnhof werden Yousef und Mohanad von der Grenzpolizei aus dem Zug geholt, Antonie Rietzschel verliert den Kontakt zu ihnen, und erst sehr viel später gelingt es ihr, via Facebook wieder mit ihnen Verbindung aufzunehmen, da sind die beiden schon in Dortmund. Von nun an begleitet die Autorin die beiden Brüder über ein Jahr lang und berichtet, wie sie zunächst in einem Heim unterkommen, eine Wohnung bekommen, schließlich, wie die ersten beruflichen Schritte aussehen. Erstaunlicherweise will Ingenieur Mohanad, für den Deutschland immer ein "dreamland" war, inzwischen - sobald möglich - wieder zurück in seine syrische Heimat.
    "Das war eine wahnsinnige Transformation im letzten Jahr, besonders für ihn, glaube ich. Als ich ihn das erste Mal kennengelernt habe, war er jung und – also er war schon ernst gewesen, aber man hat einfach ihm das Alter so ein bisschen angemerkt. Und er hat sich sehr viele Gedanken gemacht und war sehr grüblerisch gewesen, er war ja auch derjenige, der sich aus Verzweiflung die Arme aufgeritzt hat und mittlerweile sagt er einfach, ja, wir klugen Menschen, wir Intellektuellen, oder Leute, die Dinge wissen und helfen könnten, das Land wieder aufzubauen, wir können nicht einfach alle wegbleiben von diesem Land, sondern wir müssen dieses Land wieder aufbauen, wir müssen wieder zurückgehen, sobald es möglich ist.'"
    Für Yousef, den älteren Bruder, war die berufliche Perspektive nicht so klar, doch nun ist er es, der in Deutschland bleiben will. Er hat eine Stelle als Sozialarbeiter im westfälischen Oelde bei Münster bekommen.
    Das Gefühl, wie ein Kind behandelt zu werden
    So sehr sich Yousef und Mohanad über die Hilfsbereitschaft ihrer deutschen Nachbarn freuen, bisweilen wird es ihnen schlicht zu viel. Die Autorin schreibt:
    "Manchmal haben sie das Gefühl, dass die neuen deutschen Freunde in ihnen nicht junge Männer sehen, sondern kleine Kinder, unmündig und unerzogen. Manchmal steht einer der Nachbarn plötzlich spätabends im Hausflur, wenn die beiden sich fertig machen, um ins Bett zu gehen. Es scheint ihnen, als hätten sie aufgrund ihrer Hilfsbedürftigkeit jedes Recht auf Privatsphäre verwirkt. 'Manchmal hatten wir auch das Gefühl unter Beobachtung zu stehen.' Doch sie sagen nichts."
    Eigene Erwartungen herunterschrauben
    Zu der weithin gelungenen sozialen Integration der beiden Protagonisten hat sicher beigetragen, dass sie ziemliche Abstriche an ihren Erwartungen hinsichtlich des "Traumlandes Deutschland" gemacht haben. Der berufliche Aufstieg ging nicht so schnell wie gedacht. "Alles kann man sich eben nicht ergoogeln", sagt Antonie Rietzschel über den Ingenieur Mohanad:
    "Er will halt 'jemand' sein, das ist sein Ziel, er sieht halt hier, dass er sehr hart dafür. – er muss auch in Syrien hart dafür arbeiten, das funktioniert halt anders, aber jetzt muss er hier lernen, okay, ich muss es so ein bisschen von vorne anfangen, und das wollte ich eigentlich nicht, ich wollte ein Doktor sein, und ich wollte anerkannt sein, ich wollte einen gewissen Status haben, ich wollte mir Dinge leisten können, und jetzt müssen sie lernen, jetzt kommt erst mal Sozialhilfe, und dann arbeitet man sich ganz langsam da raus."
    Überzeugend erzählt
    Antonie Rietzschel erzählt überzeugend und nachvollziehbar die Geschichte des ersten Jahres in Deutschland, einschließlich der recht unterschiedlichen Erfahrungen mit der Helferszene. Die Geschichte des Bruderpaars reichert sie mit kurzen Sachinformationen zu den Themen an, die in den einzelnen Kapiteln infrage stehen. Durch diese Verbindung zwischen konkreten Schicksalen und verallgemeinerten Informationen entsteht ein anschauliches Bild des Einwanderungslandes Deutschland zu Beginn des Jahres 2016. Lesenswert!
    Antonie Rietzschel: "Dreamland Deutschland? Das erste Jahr nach der Flucht. Zwei Brüder aus Syrien erzählen",
    Hanser Verlag, 2016, 16,90 Euro