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"El Sadr artikuliert die Unzufriedenheit mit der Besatzung"

Hans-Peter Probst: Herr Hippler, wir haben es in Nadschaf offenbar nicht nur mit kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern auch mit sehr starker psychologischer Kriegsführung zu tun, beispielsweise wenn es um die Verletzung von el Sadr geht und das Dementi dazu, oder?

Moderation: Hans-Peter Probst |
    Jochen Hippler: Richtig. Das ist der Kern der Sache. Natürlich geht es ohnehin Muktada el Sadr nicht darum, sich militärisch durchzusetzen. Dazu ist er viel zu schwach gegenüber den Besatzungstruppen. Der Kern dieser ganzen Gefechte ist ohnehin psychologisch, und da kommt es schon mal darauf an, sich zum Märtyrer zu stilisieren, vielleicht bevor man es ist, oder das eben herunterzuspielen. Das ist wirklich ein psychologischer Krieg.

    Probst: Wenn er keine Aussichten hat, "auf dem Schlachtfeld" zu siegen, worum geht es ihm denn in Wirklichkeit?

    Hippler: Wir müssen daran denken, dass er noch vor relativ kurzer Zeit, noch vor einem halben Jahr, vor einem Jahr eine relativ bedeutungslose Figur am Rande der schiitischen Politik gewesen ist, der vom Namen seines berühmten, inzwischen toten Vaters gelebt hat, aber eigentlich politisch nicht besonders ernst genommen wurde und auch nicht besonders viel Unterstützung hatte. Vielleicht zehn Prozent oder ein bisschen mehr der Bevölkerung sympathisierten. Er hat versucht, aus der Situation Gewinn zu schlagen, die anderen schiitischen Parteien, obwohl auch sie die US-Präsenz skeptisch und lieber durch Wahlen abgelöst sehen, dadurch an den Rand zu manövrieren, dass er die Unzufriedenheit mit der Besatzung im Land artikuliert hat. Dass er Widerstand getrieben hat, auch gewaltsamen Widerstand, zielt eigentlich eher auf eine Machtverschiebung innerhalb der schiitischen Gemeinschaft zu seinen Gunsten und gegen die früher stärkeren gemäßigteren Parteien.

    Probst: Wenn Sie sagen, schiitische Gemeinschaft, bezieht sich das nur auf die Parteien und den Klerus, oder auch auf die Massen?

    Hippler: Im Prinzip sind die Massen in der Regel bisher noch nicht in den Kampf einbezogen. Es geht wirklich eher um die Parteien und auch wirklich eher um die religiös geprägten Parteien. Die Kommunistische Partei beispielsweise, die ja in der Vergangenheit und im gewissen Sinne auch heute vor allen Dingen von Schiiten geprägt ist, ist immer noch eher schwach. Die Bevölkerung insgesamt steht, außer wenn sie unabsichtlich in solche Kämpfe hineingezogen wird und dann manchmal sich eben auch beteiligt, eher am Rande. Die Politik bei den Schiiten ist eben bedauerlicherweise tatsächlich geprägt von den religiösen Parteien, weil die anderen schlecht organisiert sind, keine Geldmittel haben und zum Teil passiv agieren.

    Probst: Ist denn für Sie diese Eskalation auf Seite der Schiiten überraschend gekommen? Denn sie sollten ja entsprechend ihrer Bevölkerungsstärke an der Macht, an der Repräsentanz beteiligt werden.

    Hippler: Das ist richtig. Das ist auch der Grund dafür, dass etwa SCIRI, also der oberste Rat für die islamische Revolution im Irak, oder die Da'wa-Partei bisher sehr stillgehalten haben gegenüber den Besatzungstruppen. Die haben sich beide ausgerechnet, dass sie als die wahrscheinlich stärksten Strömungen der Schiiten nach freien Wahlen sowieso die Macht auf dem silbernen Tablett überreicht bekommen werden. Wenn man noch vor wenigen Wochen durch den Irak gefahren ist, sieht man im Süden überall Schilder "Für freie Wahlen", "Folgt unserer islamischen Führung". Das war der Grund, warum diese Parteien, obwohl sie selbst sehr skeptisch den USA gegenüber gewesen sind und es noch weiter sind, sich sehr zurückgehalten haben und den Übergang zu einem Wahlmechanismus nicht stören wollten. Muktada el Sadr hat genau versucht, mit seinem Aufstand, mit seinen Gewaltaktionen dieses Kalkül zu durchkreuzen, weil er in so einem geregelten Prozess wirklich an den Rand gedrängt worden wäre von den anderen schiitischen Parteien, und jetzt ist es ihm wirklich gelungen, eben dadurch ins Zentrum schiitischer Politik zu rücken, nicht weil er so schrecklich beliebt ist bei vielen Schiiten, sondern weil man im Moment an ihm einfach nicht mehr vorbei kann und er auch Widerstand ausdrückt, der in breiten Teilen der Bevölkerung in einer gemäßigteren Form durchaus vorhanden ist.

    Probst: Und dann ist der Kampf in Nadschaf, wenn man das so ausdrücken kann, mit sehr viel Symbolischem nicht nur in schiitisch glaubensmäßiger Hinsicht verbunden?

    Hippler: Ja, das ist richtig. Stellen Sie sich vor, dass um den Vatikan wochenlang gekämpft würde und dass die Gefahr besteht, dass der Petersdom und andere wichtige Gebäude der christlichen Zivilisation von Raketenangriffen betroffen würden oder von Sturmtruppen erobert werden würden. Das würde sicher auch in sehr christlich geprägten Kreisen und Ländern zu Unruhe führen. Was ich besonders in gewissem Sinne auch schockierend finde, ist, dass die Atmosphäre in Nadschaf sich wirklich im letzten Jahr ganz brutal verändert hat. Ich bin im letzten August noch da gewesen, da war Nadschaf eine Stadt, da fühlte ich mich wie auf einem Festival in Woodstock. Die Leute waren freundlich, offen. Man lud sich ein. Es war eine Stimmung wie in einem großen Festival, die Befreiung von Saddam war in allen Köpfen und alle waren zwar ärgerlich über die USA, aber ziemlich guter Dinge, und es war wirklich sehr entspannt. Jetzt im Frühjahr war es kaum noch möglich, da herumzulaufen, ohne von der Polizei aufgegriffen zu werden, und jetzt diese ganzen Zerstörungen und diese Kämpfe. Also zu sehen, wie solch eine Stadt, die jahrzehntelang unterdrückt war von der Diktatur, sich erst kurzzeitig befreite, dann nach dem großen Attentat vor einem Jahr in einen Schock fiel und jetzt auch noch straßenweise zerstört wird, das ist schon eine ziemlich unerfreuliche Erfahrung.

    Probst: Und in der Situation bei dieser Konfrontation sitzt die Übergangsregierung in Bagdad sozusagen in der Klemme. Egal was sie macht, sie kann es nur falsch machen. Sie hat der Offensive der Amerikaner zugestimmt, aber die halten sich zurück. Was kann die Übergangsregierung machen?

    Hippler: Die ist tatsächlich in eine Zuschauerrolle geraten. Sie kann selber den Konflikt militärisch natürlich nicht lösen. Sie ist zu schwach, es ist auch zu heikel. Man kann ja auch nicht bei der eigenen Bevölkerung den Eindruck erwecken, für die USA sozusagen die militärische Schmutzarbeit zu erledigen. Andrerseits kann sie natürlich, wenn sie zusieht, sich nur weiter schwächen, weil die Öffentlichkeit dann die Entwicklung im Irak, vor allem im Süden, zunehmend zu einem Konflikt zwischen Washington und Muktada el Sadrs Bewegung wahrnehmen würde. Das wäre natürlich für eine neue politische Regierung, die versucht, sich erstmals zu etablieren, ziemlich verheerend, in den Augen der eigenen Bevölkerung noch irrelevanter zu werden als ohnehin schon. Das heißt, sie muss sich engagieren, ohne selbst an den Rand gedrückt zu werden. Andererseits fehlen ihr die Mittel, das tatsächlich erfolgreich zu tun.