
Mit Beginn dieses Jahres ist ein Vorhaben Wirklichkeit geworden, das bis ins Jahr 2003 zurückreicht: Eine Zusammenstellung wichtiger Gesundheitsdaten – von einem Notfall-Datensatz, in dem zum Beispiel lebensbedrohliche Allergien verzeichnet sind, bis zu einem digitalen Impfpass. Eine elektronische Patientenakte könnte Leben retten und Milliardensummen sparen, so versprach es die SPD-Politikerin Ulla Schmidt, als sie das Projekt als damalige Gesundheitsministerin auf den Weg brachte.
Ein Gesetz mit langer Vorlaufzeit
"Wo die Zeiten vorbei sind, wo man selbst im Kopf haben musste, welche Medikamente man jeden Tag nimmt. Die Zeiten vorbei sind, wo man selbst die Röntgenbilder oder MRT-Bilder mitbringen musste auf CD-ROM oder im großen Umschlag. Die Zeiten vorbei sind, wo es am Ende immer auf Papier Rezepte gibt, sondern die gibt es in Zukunft eben als elektronische Rezepte, als E-Rezepte. Und all das macht für die Patienten und für alle, die sie behandeln, den Alltag leichter. Und das – und das ist das Entscheidende – bei höchstem Datenschutz."
Auch viele der gesetzlichen und privaten Krankenversicherer waren in den vergangenen Jahren überzeugt, dass die Patienten die Möglichkeit einfordern, Daten digital speichern zu können. Sie haben deswegen angefangen, mit Software-Unternehmen eigene Lösungen zu entwickeln. Diese freiwilligen Angebote tragen allerdings nicht den Namen Elektronische Patientenakte, sondern Elektronische Gesundheitsakte. Die Privatversicherer Allianz, Gothaer und Barmenia bieten gemeinsam mit rund 20 gesetzlichen Kassen ihren zusammen rund 18 Millionen Versicherten eine App mit dem Namen Vivy an. Die größte bundesweite Kasse, die Techniker Krankenkasse, hat für ihre fast elf Millionen Versicherten eine Gesundheitsakte namens TK-Safe im Angebot.

Tatsächlich beziffert etwa die Allianz Private Krankenversicherung die Zahl der Kunden, die die Gesundheitsakte Vivy nutzen, auf mehrere Tausend. Bei 600.000 Voll-Versicherten entspricht das einem Anteil von rund einem Prozent. Die Techniker Krankenkasse berichtet über rund 250.000 Nutzer ihres Angebots namens TK-Safe – das sind gut zwei Prozent der knapp elf Millionen Versicherten der TK.
Langsame Datenharmonisierung
Solche Informationen einzutragen, ist aber zunächst Aufgabe der Patienten. Dass auch Ärztinnen und Ärzte die Elektronische Patientenakte bestücken, und untereinander Daten ihrer Patienten austauschen, soll zunächst nur in einem Probebetrieb in ausgewählten Praxen in Berlin, Bayern und Nordrhein-Westfalen getestet werden. Erst ab Anfang Juli sollen alle Kassenärzte und -psychotherapeuten verpflichtend an die so genannte Telematik-Infrastruktur angeschlossen sein. Dieses mit besonders hohen Sicherheitsstandards ausgestattete Datennetz ermöglicht es, Daten aus der Patientenakte abzurufen und in sie einzutragen oder elektronische Rezepte auszutauschen. Ab dem Jahr 2022 folgen weitere Funktionen wie etwa ein digitales Zahnbonusheft, in dem dokumentiert wird, ob Patienten die jährlichen Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen haben.

Dafür, dass es bei der Einführung der Elektronischen Patientenakte zu jahrelangen Verzögerungen gekommen ist, gibt es viele Gründe. Zunächst sollten Verbände von Ärzten, Krankenkassen, Apothekern und Kliniken das Projekt im Auftrag der Bundesregierung voranbringen. Doch in der Gesellschaft namens Gematik, die die Verbände dafür einrichteten, gab es ständig Konflikte und Blockaden. Die wollte Bundesgesundheitsminister Spahn beenden, indem er Mitte 2019 den Staatsanteil in der Gematik auf eine Mehrheit aufstockte.
"Das hat zur Folge, dass man eben keineswegs mehr frei und individualisiert entscheiden kann, welcher Leistungserbringer, also welcher Arzt zum Beispiel, welche Informationen sieht. Es ist nicht möglich, bestimmte Informationen vor einigen Ärzten zu verbergen, anderen sie zu geben. Damit entsteht eine elektrische Patientenakte, die nicht das Beste für die Versicherten bietet."
Große Bedenken wegen Datensicherheit
Ferdinand Gerlach ist Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt am Main und Vorsitzender des Gesundheits-Sachverständigenrates der Bundesregierung. Im November hat er gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern auf Anregung der Barmer Krankenkasse ein Thesenpapier dazu erstellt, was Deutschland aus der Coronakrise lernen sollte. Für den Chef des Sachverständigenrates gibt es beim Thema Digitalisierung eine klare Erkenntnis: Sie hätte viel helfen können, um die Pandemie besser einzudämmen – etwa wenn die Corona-Warn-App ihren Nutzern wirklich Orientierung bieten würde.
Im Dschungel der Versicherungen
Er selbst habe in Dänemark erleben können, dass Patienten mit großer Selbstverständlichkeit digitale Gesundheitsakten pflegen, mit denen sie verschiedene Ärzte über ihre Krankengeschichte informieren, erzählt Augurzky. Allerdings sei das Gesundheitssystem etwa in Dänemark weit stärker zentral vom Staat geregelt als hierzulande. Deutschland hat über hundert gesetzliche und rund 50 private Krankenversicherer. Es gibt siebzehn Kassenärztliche Vereinigungen – eine mehr als es Bundesländer gibt, denn Nordrhein-Westfalen hat zwei KVen. Dazu kommt noch die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Es gibt siebzehn Landesärztekammern und die Bundesärztekammer. Es gibt Apothekerkammern und daneben weitere Apothekerverbände, es gibt Krankenhausgesellschaften – und damit ist die Liste der Verbände noch nicht zu Ende, stellt der Gesundheitsökonom Augurzky fest:
"Ich lerne auch ständig noch neue kennen, nach fast 20 Jahren jetzt im Gesundheitswesen. Und da hat jeder so seine eigene Interessenlage. Und für manche davon ist Elektronische Patientenakte eher etwas, was sie nicht möchten. Es gibt auch viele, die sie wollen. Aber es gibt halt auch widerstrebende Interessen. Und deswegen überrascht es mich nicht, wenn es da welche gibt, die sozusagen auf die Bremse treten."
Und es werde nicht etwa nur aus Datenschutzbedenken auf die Bremse getreten, glaubt Augurzky. Der Gesundheitsökonom ist sicher, dass vor allem Ärzteverbände und viele einzelne Ärzte, ebenso wie viele Krankenhäuser, einen ganz bestimmten Effekt der Digitalisierung nicht sonderlich schätzen: "Dann haben Sie auch Transparenz über das Versorgungsgeschehen und können dann auch plötzlich mal schauen, welche Versorgungsmaßnahmen was bringen. Und dann können Sie auch gut von schlecht besser unterscheiden. Das ist nicht überall so erwünscht, da hat man im deutschen Gesundheitswesen nicht so den Hang, sich so in diesen, sage ich mal, Qualitätswettbewerb hineinzubegeben."
Ein Qualitätswettbewerb könnte allerdings einiges an Geld sparen, ist sich Augurzky sicher. Wenn von den 300 Milliarden Euro, die jedes Jahr im deutschen Gesundheitswesen bewegt werden, nur zwei Prozent eingespart würden, wären das schon sechs Milliarden Euro. Vor allem aber könnten Patienten besser behandelt werden, sagt Augurzky: "Das heißt dann eben auch: Weniger Fehler entstehen. Ich habe dann ja zum Beispiel auch gerade von multimorbiden Menschen, die verschiedene Krankheiten haben, eine Information vorliegen und kann dann auch erkennen, ob es Komplikationen geben könnte, die man ohne Wissen dieser breiten Information nicht kennen würde."
Der Lipobay-Skandal als Ansporn
"Das ist wie mit einer Autobahn: solange die nicht gebaut ist, kann auf der Autobahn auch noch nichts fahren. Aber sobald die Autobahn eröffnet ist, dann wird der Verkehr schon kommen, dann wenn die Leute schon mit ihrem Auto diese Autobahn benutzen und die Vorteile davon sehen, dass sie auf der Autobahn schneller vorankommen vielleicht als es bislang auf der Landstraße der Fall war mit Ampeln."
Für die privaten Krankenversicherer stehen an den Auffahrten zur Gesundheits-Datenautobahn allerdings erst einmal Ampeln, die rotes Licht zeigen. Ihr Branchenverband war 2012 aus der Gesellschaft Gematik, die das Projekt entwickelte, ausgestiegen. Erst im April 2020 sind die Privatversicherer wieder zurückgekehrt. Deshalb konnten sie jahrelang nur von außen zusehen, wie die Elektronische Patientenakte für Kassenpatienten vorbereitet wurde. So ist die Plastik-Chip-Karte, mit der alle gesetzlich Versicherten ausgestattet sind, ein wesentliches Element, um Zugang zur Telematik-Infrastruktur zu bekommen, über die die Patientendaten künftig ausgetauscht werden sollen.
Bleibt die Patientenakte unvollständig?
"Das sehe ich vor allem als Hausarzt als Problem. Weil ich ja wirklich unter Umständen die Behandlung von mehreren Ärzten koordinieren muss. Und wenn ich nicht weiß, was der Psychiater für Medikamente verschrieben hat, dann habe ich auch keine Chance, das bei einer eigenen Medikamentenverordnung zu berücksichtigen, geschweige denn das dann noch zu kombinieren mit der Medikamenten-Verordnung von einem Urologen oder irgendwem anders."
Der Arzt könne seine Patienten natürlich immer fragen, ob alle Allergien oder alle Medikamente, die sie nehmen, in der elektronischen Akte vermerkt sind, sagt Lipécz – aber genau das tue er jetzt ja auch schon: "Wofür brauchen wir dann eine Patientenakte? Wenn sie genauso unvollständig bleibt wie das, was ich erfragen kann." Lipécz erwartet deshalb nicht, dass in absehbarer Zeit eine allzu große Zahl seiner Patienten die neue digitale Akte nutzen wird: "Ich würde es auf die Patienten beschränken wollen, wo ich wirklich weiß, dass sie wirklich viele Arzt-Kontakte außer zu ihrem Hausarzt haben. Wo es wirklich sinnvoll ist, damit diese besser zusammenarbeiten können, dass die da reinschauen können auf gemeinsame Daten."
Und obwohl er selbst viele Chancen in der Digitalisierung sieht und auch in seiner Praxis eine eigene App nutzt, um mit seinen Patienten zu kommunizieren, ist Lipécz in einer Hinsicht sehr zurückhaltend. Wirklich intime Informationen vermerkt er nicht in den digitalen Akten, die er in seiner Praxis führt. "Unsere persönlichen Notizen schreiben wir da nicht rein. Das finden wir, ist auch ein Stück weit Datenschutz. Das heißt: Selbst wenn wir gehackt werden sollten – das ganz Intime, Persönliche, daran kommt man nicht dran." Und Lipécz glaubt, dass das viele seiner Kollegen ähnlich halten werden. Deshalb ist er überzeugt: Die Digitalisierung wird immer wichtiger im Gesundheitswesen. Aber auch Karteikarten und Kugelschreiber werden noch lange zum Einsatz kommen.