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Elfriede Jelinek: "Eine Partie Dame"
Nobelpreisträgerin schreibt Agententhriller

Im Berliner Verbrecher Verlag ist ein bislang unbekannter Text von Elfriede Jelinek aus dem Jahr 1980 erschienen. "Eine Partie Dame" ist das Drehbuch für einen Agententhriller. Serge Gainsbourg und Tilda Swinton waren für die Hauptrollen vorgesehen. Doch der Film wurde nie realisiert.

Von Kirsten Reimers | 10.09.2018
    Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek und ihr Buch "Eine Partie Dame"
    Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek und ihr Buch "Eine Partie Dame" (Cover: Verbrecher Verlag, Portrait: picture alliance / dpa / Hans Klaus Techt)
    Auf den ersten Blick scheint es eine relativ konventionelle Spionagegeschichte zu sein: Andzrej Weintraub ist in Wien der Kopf eines Agentenrings. Er schmuggelt Computerchips in die DDR, um dort den technologischen Fortschritt voranzubringen. Ihm geht es nicht um Geld. Andzrej, polnischer Jude, dessen Eltern in Auschwitz umgebracht wurden, erhofft sich vom Kommunismus eine bessere und gerechtere Weltordnung. Gleich die erste Szene des Drehbuchs führt ihn als unabhängig, selbstironisch, cool und als Überzeugungstäter ein:
    "Autobahn und Straßen im Frankenwald, nahe der DDR-Grenze.
    Ein Auto fährt durch die Nacht. Schlechtes Wetter. Andzrej fährt. Neben ihm und hinter ihm ein Mann. Beide sprechen Wiener Akzent. Aber hochdeutsch. Sie tragen Trenchcoats. Der erste Mann, hinter Andzrej auf dem Rücksitz, bietet Andzrej eine Zigarette an. Andzrej bedeutet ihm wortlos, dass er lieber seine eigene, teure Sorte raucht:

    1. Mann: (sich selbst eine anrauchend) Nobel geht die Welt zugrunde.
    2. Mann: Und noch nobler nur beim Secret Service. Dort treten noch immer hauptsächlich die zweiten Söhne ein, das heißt, wenn sie nicht lieber Bischof werden möchten.
    Andzrej lacht leise.
    1. Mann: (zum Zweiten) Der klassische Überzeugungstäter im kultivierten Nadelstreif.
    Andzrej: (an sich heruntersehend) Wenn er nicht gerade Glencheck bevorzugt."
    Zur Tarnung seiner Agententätigkeit führt Andzrej in Wien ein Café im 1. Bezirk. Dies wird vor allem von Emigranten, Veteranen des Spanischen Bürgerkriegs und russischen Juden besucht. Dort begegnet er Lisa; sie studiert Theaterwissenschaft und ist gerade einmal halb so alt wie er. Die obsessive Liebschaft, die sich daraus entwickelt, wird beiden zum Verhängnis.
    Spiel mit Klischees
    Ein geheimnisvoller, kultivierter und trotz vieler Freunde einsam wirkender Spion trifft eine junge, blonde Femme fatale - so könnte man das Drehbuch lesen, all diese Elemente finden sich darin. In die männliche Welt des Kalten Krieges und des Agententums bricht die Liebe ein und richtet alle und alles zugrunde. So klischeehaft könnte man "Eine Partie Dame" verstehen - schließlich tragen ja sogar die Agenten Trenchcoats, während sie nächstens durch regennasse Straßen fahren; "Der dritte Mann" mit Orson Welles lässt grüßen.
    Im Hintergrund das Wien Ende der 70er-Jahre, Tummelplatz für Spione aller Art an der Schnittstelle zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Kommunismus - Wien, wie Elfriede Jelinek in einer Vorbemerkung zum Drehbuch schreibt, als die einzige Stadt Westeuropas, die "noch nicht amerikanisiert ist".
    Nun ist aber Elfriede Jelinek nicht gerade dafür bekannt, dass sie sich für die Liebe als solche interessiert. Eine zweite Lesart des Drehbuchs könnte auf unterschiedliche Haltungen zu Politik abstellen, auch das findet sich durchaus im Text: Die unpolitische Lisa, Tochter aus gutbürgerlichem Haus, verfällt dem Charme des politischen Aktivisten und geht daran zugrunde, und das vor dem Hintergrund von Relikten der k.u.k. Monarchie und des Faschismus, eingerahmt von Nato-Doppelbeschluss, atomarer Kriegsgefahr und der Spaltung der Welt in zwei Blöcke. Doch auch dieser Ansatz greift etwas zu kurz.
    In der Jury-Begründung zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises im Jahr 2004 heißt es, Elfriede Jelinek enthülle in ihren Texten "die Absurdität und zwingende Macht von Klischees" – und genau dies geschieht schon 1980 in "Eine Partie Dame".
    Keine Identifikationsangebote
    Lisa ist keine Femme fatale, sie versucht zwar, mitunter eine zu sein, scheitert aber an der Inszenierung. Sie ist gefangen in ihren Vorstellungen von weiblichen Rollenmustern, aus denen sie nicht ausbrechen kann. Unbedingt will sie Andzrej an sich binden, ihn in eine bürgerliche, heteronormative Zweierbeziehung zwingen; sie wirkt ziemlich unsympathisch, agiert berechnend, besitzergreifend und zickig. Und gleichzeitig bricht immer wieder eine kindliche Verletzlichkeit durch, die zeigt, wie unsicher die junge Studentin eigentlich ist.
    Der auf den ersten Blick so sympathische und weltgewandte Andzrej hingegen, der über eine "natürliche Autorität" verfügt, wie Elfriede Jelinek mehrfach betont, er nutzt die unerfahrene Lisa aus. Er behandelt sie wie ein unartiges Kind und demütigt sie sexuell. Bei ihrer ersten Begegnung ist er brutal übergriffig:
    "Im Gang kommt ihr Andzrej entgegen. Sie will mit einem freundlichen Lächeln an ihm vorbei, der auch freundlich lächelt. Da sperrt er ihr den Weg ab, drückt sie brutal an die Wand und küsst sie. Dabei belässt er es nicht, sondern schiebt eine Hand unter ihren Rock und in ihre Unterhose hinein. Völlig unvorbereitet. (…) Er beobachtet sie sehr genau, während er sie küßt. Lisa wehrt sich einen Augenblick lang entsetzt, hält dann aber still. Andzrej löst sich nach einer Weile von ihr, streichelt ihr kurz und freundlich übers Haar wie einem Haustier und geht einfach weg."
    Jelinek erzwingt auf diese Weise eine kritische Auseinandersetzung mit den Figuren. Das macht den Blick frei auf die Geschlechterverhältnisse, die hier abgebildet werden: Aus der Welt der Politik und der Geschäfte, die rein den Männern vorbehalten bleibt, wird die unsichere Lisa ausgesperrt; sie ist hier nur Objekt. Das wird überdeutlich in einer Szene, in der sie auf der Suche nach Andzrej durch ein Bürohaus irrt und an verschiedene Türen klopft: Dies wächst sich aus zu einem Spießrutenlauf durch eine "jovial-fettig-verschwommene Männerwelt", wie Elfriede Jelinek in einer Regieanweisung schreibt.
    Befreiung aus lebensfeindlichen Geschlechterverhältnissen
    Analog zum Brettspiel wird die Dame wie ein Ding hin- und hergeschoben. Wie im Brettspiel ist sie aber schließlich auch spielentscheidend. Am Ende des Drehbuchs läuft Lisa Amok, und das ist weniger die Rache einer zurückgewiesenen Liebhaberin als vielmehr der Versuch, sich aus den internalisierten Rollenzuweisungen zu befreien: Eine Frau, die sich dieser Muster nicht bewusst ist, muss an den lebensfeindlichen Geschlechterverhältnissen scheitern.
    Anders als in anderen Werken ist Jelineks Sprache in diesem Drehbuch nicht überbordend, sondern eher einfach gehalten, was perfekt zur szenischen Anlage passt; denn trotz der mitunter interpretatorischen Regieanweisungen ist "Eine Partie Dame" konsequent filmisch gestaltet. Mit wenigen Worten und Gesten entwirft Jelinek eine dichte Atmosphäre und lebendige, vielschichtige Figuren. Auch die Entscheidung für die Form des Agententhrillers ist gut durchdacht: Es ist der Spionageplot, der das Geschehen vorantreibt und verklammert. Gleichzeitig nutzt Jelinek das männlich dominierte Genre, um mit dessen Elementen zu spielen und es zu ironisieren.
    Zwar stammt "Eine Partie Dame" aus den 80er-Jahren, doch ist das Drehbuch mehr als nur ein Zeitzeugnis: In seinen geschlechterpolitischen Implikationen ist es immer noch aktuell.
    Elfriede Jelinek: "Eine Partie Dame"
    herausgegeben von Wolfgang Jacobsen
    Verbrecher Verlag, Berlin. 189 Seiten, 15 Euro.