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Else Lasker-Schüler: "Gedichtbuch für Hugo May"
"Ich wundere mich selbst, daß ich noch lebe"

Else Lasker-Schüler floh 1933 vor den Nazis nach Zürich. Dort gewann die begnadete Netzwerkerin zwei Kaufhausdirektoren als Mäzene. Ihre Gegenleistung: Gedichte und viele Briefe. Nachzulesen in einem Doppelband, der Einblick gibt in die schwierige Alltagsbewältigung der Dichterin, aber auch in ihr lyrisches Schaffen.

Von Matthias Kußmann | 07.02.2019
    Buchcover: Else Lasker-Schüler: „Gedichtbuch für Hugo May“
    Else Lasker-Schüler - "Prinz Jussuf" unter Eidgenossen (Buchcover: Wallstein Verlag, Foto: picture alliance dpa Ullstein)
    Im April 1933 flieht die jüdische Autorin Else Lasker-Schüler vor den Nationalsozialisten aus Berlin in die Schweiz.
    "Kaum war sie in Zürich angekommen, ging sie in das damals bekannte Kaufhaus Brann (…) und hat sich einen Koffer ausgesucht", sagt der Germanist Karl Jürgen Skrodzki. "Sie war aus Berlin gekommen, hatte ihre Habseligkeit in neun kleine Taschen gepackt, so schreibt sie an einer Stelle."
    In den Koffer würde alles hineinpassen. Die Autorin erklärt den jüdischen Kaufhaus-Direktoren Hugo May und Kurt Ittmann ihre Lage – und bekommt den Koffer auf Ratenzahlung.
    "Mit diesen beiden Herren hat sie sich dann Jahre (…) um ein gutes Verhältnis bemüht – die sie denn auch durch Zahlungen größeren Stils unterstützt haben und auch Bürgschaften der Fremdenpolizei gegenüber übernommen haben."
    Nöte des Exils
    Hugo May schenkt sie zum Dank 36 Handschriften, die sie edel binden lässt – einen Querschnitt ihrer Lyrik von den Anfängen bis zum Exil. Aus Mays Nachlass wurden sie 2013 in Zürich versteigert und sind nun als "Gedichtbuch für Hugo May" bei Wallstein erschienen – in einer schönen zweibändigen Ausgabe, herausgegeben von Karl Jürgen Skrodzki und Andreas Kilcher. Der erste Band enthält Faksimiles der fast schon ornamentalen Handschriften der Autorin. Darunter das Gedicht "Die Verscheuchte", das ihre verzweifelte Exil-Lage zeigt.
    "Es ist der Tag im Nebel völlig eingehüllt, / Entseelt begegnen alle Welten sich – / Kaum hingezeichnet wie auf einem Schattenbild. Wie lange war kein Herz zu meinem mild… / Die Welt erkaltete, der Mensch verblich. / – Komm, bete mit mir – denn Gott tröstet mich. Wo weilt der Odem, der aus meinem Leben wich? … / Ich streife heimatlos zusammen mit dem Wild / Durch bleiche Zeiten träumend – ja – ich liebte dich. Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordsturm brüllt? / – Die scheuen Tiere aus der Landschaft wagen sich / Und ich – vor deine Tür, ein Bündel Wegerich. Bald haben Tränen alle Himmel weggespühlt, / An deren Kelchen – Dichter ihren Durst gestillt, / Auch du und ich. // Und deine Lippe, die der meinen glich … / Ist wie ein Pfeil nun blind auf mich gezielt."
    Der zweite Band enthält Umschriften der Handschriften und die Korrespondenz mit den Kaufhaus-Direktoren. Dazu kommen Briefe aus dem Umfeld und Kommentare zu den Texten. Der größte Teil der Korrespondenz wird hier erstmals publiziert. Er gibt interessante Einblicke in Lasker-Schülers Schweizer Exil-Alltag. Sie ist Mitte 60, alleinstehend und lebt trotz finanzieller Hilfe ärmlich. Sie wird von Behörden schikaniert, die keine Flüchtlinge im Land haben wollen. An Hugo May schreibt sie:
    "Ich wundere mich selbst, daß ich doch noch lebe. (…) Und doch empfinde ich mich wie ein Lump – das kann ein Dichter nicht aushalten dürfen, diese Schmach an Herumrennen, Demut, Wehmut und so. (…) Jeden Abend fürchtete ich den Tag den nahenden, eine Schlange, die mich erwürgen sollte, immer von Neuem."
    Sie wird von sogenannten "Kontrolldetektiven" überwacht und muss das Land alle sechs Monate verlassen. So reist sie nach Italien oder Palästina, kehrt zurück und bittet um neuen Aufenthalt. Sie hat Arbeitsverbot, kann aber Lesungen halten oder im Radio vortragen – darüber sehen die Behörden weg, weil sie damit wenig verdient. Sie zeichnet und will ihre Bilder verkaufen, um nicht nur von Mäzenen abhängig zu sein – was ihr verboten wird. Auch gelingt es nicht, die Restauflagen ihrer Bücher aus Deutschland in die Schweiz zu holen, um sie dort zu verkaufen. Karl-Jürgen Skrodzki:
    "Wobei ihr entgegenkam, dass es einzelne Personen in der Schweiz gab, die entgegen der offiziellen Schweizer Politik sich sehr auch für die Pflege der Emigranten eingesetzt haben."
    Freundschaft mit den Mäzenen
    Mit Hugo May und Kurt Ittmann entsteht langsam eine Freundschaft. "Hochverehrteste Indianerfreunde" nennt Lasker-Schüler die Mäzene bald, was in ihrer Welt eine Auszeichnung ist. "Indianerfreunde" werden nur besonders nahe Menschen.
    "Ewig Dank! Vergesse nie nie nienie nie nie nie was Sie Herr Direktor Hugo May und Sie Herr Dr. Kurt Ittmann für mich, Ekel taten! Nie! Ich bin Indianer!"
    Else Lasker-Schüler wird am 11. Februar 1869 in der Industriestadt Elberfeld geboren, die heute zu Wuppertal gehört. 1894 geht sie nach Berlin und wird Teil der frühexpressionistischen Boheme.
    "Schon bald veröffentlichte sie in Zeitschriften erste Gedichte. 1902 erschien ihr erster Gedichtband "Styx". Drei Jahre später (…) der zweite Gedichtband "Der siebente Tag". Es folgten zwei Prosabücher (…) und 1909 ihr erstes Drama "Die Wupper"."
    In Berlin inszeniert sie sich als Paradiesvogel, trägt Pluderhosen, Fez oder Turban. Sie schreibt Lyrik, Romane, Essays und Dramen, zeichnet auch sehr gut und schafft ihre eigene künstlerische Mythenwelt namens Theben – geprägt von Bibel und Orient, Juden- und Christentum. Sie nennt sich "Prinz Jussuf" und auch Freunde erhalten Phantasienamen. Im Zentrum ihres Werks steht die Lyrik. Darin löst sie sich vom Expressionismus und schreibt musikalische Gedichte voller Bilder und Reime, wo oft von Liebe gesprochen wird: euphorisch, traurig oder zweifelnd:
    "Von weit
    Dein Herz ist wie die Nacht so hell, / Ich kann es sehn / – du denkst an mich – es bleiben alle Sterne stehn. // Und wie der Mond von Gold dein Leib / Dahin so schnell / Von weit er scheint."
    Nach der Flucht in die Schweiz entstehen nur noch wenige Gedichte. Aber Lasker-Schüler hat ein neues Projekt, an dem sie fieberhaft arbeitet und von dem sie den Mäzenen May und Ittmann berichtet.
    "Das Hauptwerk ihrer Schweizer Zeit war natürlich das Buch 'Das Hebräerland', was 1937 erschienen ist. (…) 1934 war sie das erste Mal nach Palästina gereist, im Frühjahr, und hat da auch eine Reihe von Kontakten geknüpft. (…) Nach der Rückkehr hat sie damit begonnen, eine Art Reisebuch zu verfassen über dieses Land Palästina, das gerade im Grunde neu entdeckt wurde."
    Späte Jahre in Jerusalem
    Sie idealisiert das neu gegründete Land zu ihrem "Hebräerland", einem Ort des Friedens und der Freiheit. – Die Freundschaft mit Hugo May und Kurt Ittmann erhält 1937 einen Dämpfer. Sie will die beiden im Kaufhaus besuchen und um Hilfe für Freunde bitten. Doch die Direktoren sind nicht da und der Besitzer des Hauses wirft sie hinaus. An Hugo May schreibt sie:
    "Er war wie ein Teddylöwe erregt. Gewiß gelangen an ihn viele B.B.Bettler, aber mich traf es so, daß ich (…) glaubte irr zu werden."
    Sie ist verletzt und will den Kontakt mit den Direktoren abbrechen. Schließlich gehen doch noch ein paar versöhnliche Briefe hin und her in dieser Korrespondenz, die ein starkes Bild vom Schweizer Exil der Autorin gibt. 1939 reist sie erneut nach Palästina. Dann beginnt der Zweite Weltkrieg und sie sitzt in Jerusalem fest. Dort entsteht ihr Theaterstück "Ich und ich", das heute leider wenig bekannt ist, so der Mitherausgeber Karl-Jürgen Skrodzki:
    "Am Ende versinken die Größen des Dritten Reiches in der Hölle. Das zeigt auch, wie visionär im Grunde das Stück ist. Letztlich nimmt sie dort den Untergang des Dritten Reiches literarisch vorweg."
    Else Lasker-Schüler stirbt am 22. Januar 1945 in Jerusalem. Heute gilt sie als eine der größten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.
    Else Lasker-Schüler: "Gedichtbuch für Hugo May"
    Hrsg. von Andreas Kilcher und Karl Jürgen Skrodzki
    Wallstein Verlag, Göttingen. Zwei Bände, zusammen 392 Seiten, 39 Euro.