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Emanuele Coccia: "Die Wurzeln der Welt" 
Pflanzen atmen aus, was Tiere einatmen

Der italienische Philosoph Emanuele Coccia glaubt, dass unser tierischer Chauvinismus verhindert, dass wir die Wahrheit der Pflanzen auch nur annähernd wahrnehmen. Sein Essay "Die Wurzeln der Welt - Eine Philosophie der Pflanzen" ist inspirierend und weitet den Blick für alles Lebendige.

Von Thomas Palzer  | 13.05.2018
    Buchcover: Emanuele Coccia: "Die Wurzeln der Welt"
    Buchcover: Emanuele Coccia: "Die Wurzeln der Welt" (Buchcover: Hanser Verlag, Foto: Gerda Bergs)
    In der Geschichte der Menschheit mehren sich die Kopernikanischen Wenden. Nietzsche hat das vorausgesehen, wenn er sagt, der Mensch rolle vom Zentrum ins Abseits. Ein Essay des italienischen, in Paris lehrenden Philosophen Emanuele Coccia kündigt nun eine weitere Wende größeren Ausmaßes an. Es geht um Pflanzen und um deren Leben. Pflanzen verwandeln Kohlenstoff und Sonnenlicht in Leben. Darin liegt die eigentliche Alchemie des Lebendigen. In den Pflanzen gründet das, was wir Welt nennen.
    Die Wahrheit der Pflanzen werden wir so lange nicht verstehen, so lange wir aus der Perspektive des Tieres sprechen, das wir sind. Wir denken, dass alles, was lebt, so leben muss, wie Tiere es tun – mit Nerven, Blutbahnen, Neuronen und Gehirn. Aber über all das verfügen Pflanzen nicht, trotzdem werden sie von elektrischen Signalen durchquert. Das Verhalten einer Pflanze hängt erwiesenermaßen von ihrem inneren Zustand ab. Wie kann das sein? Wie lässt sich das vorstellen?
    Pflanzen habe keine Augen – und können dennoch sehen. Pflanzen haben kein Gehirn – und besitzen dennoch ein Gedächtnis. Pflanzen haben eine Vorstellung davon, wo sie sich befinden, denn ihre Wurzeln weichen Hindernissen nicht nur aus, sondern sie tun das auf vernünftige Weise. Müssen sie dann nicht über eine Art Selbstbewusstsein verfügen? Pflanzen haben Intelligenz und sprechen in Dialekten, so dass eine Sonnenblume aus Europa nicht unbedingt die Signale einer aus den USA versteht. All das ist wissenschaftlich nachgewiesen.
    Aufräumen mit dem Anthropozentrismus
    In der Biologie denken wir noch immer wie Ptolemäer – wir halten den Menschen für den Mittelpunkt des Lebendigen. Das viel berufene Anthropozän ist Ausdruck genau dieses Chauvinismus, der seinerseits belegt, dass wir, um mit Bruno Latour zu sprechen, "nie modern gewesen sind".
    Emanuele Coccia räumt nun mit diesem weitgehend und gerade von Veganern unerkannten Anthropozentrismus gründlich auf. Und wird das erst einmal begriffen sein, werden die Naturwissenschaften nicht mehr das sein können, was wir heute unter ihnen verstehen. Und auch der Mensch wird gegenüber den vegetativen Phänomenen, von denen er umgeben ist, ein paar deutliche Schritte zurücktreten müssen.
    Für Carl von Linné bilden die Chloroplastiden ein eigenes Naturreich. Die Pflanze ist keine Maschine. Die Pflanze ist kein Tier. Die Pflanze besteht aus Wurzel, Blatt und Blüte, Die Pflanze ist lebendig – lebendig wie wir. Um zu verstehen, was das für das Erleben bedeutet – für die Pflanze und für uns – bräuchten wir eine Philosophie der Natur. Mit einer solchen hat sich zuletzt Schelling befasst. An der literarischen Front läuft seit ein paar Jahren geradezu eine Offensive, wenn es um das Thema Natur geht. Zum einen ist das dem Umstand geschuldet, dass die Verlage von Markt und Marketing gezwungen werden, die Gegenwart wie ein Radar nach Themenfeldern zu scannen, die zu bewirtschaften sich lohnen könnte. Dass sich der Buchmarkt zum Bio-Buchmarkt gewandelt und nun der Vegetation zugewandt hat, begann 2013 mit der Reihe "Naturkunden" beim Berliner Verlag Matthes & Seitz und nahm vor drei Jahren richtig Fahrt auf, als "Das geheime Leben der Bäume" zum Sensationserfolg wurde.
    Zum anderen aber ist die Renaissance der Natur eine Folge der immer stärker ins Bewusstsein tretenden Naturzerstörung, die mit unserer kulturellen Selbstreflexion sowie mit unserer Art des Wirtschaftens verbunden ist. So ist der Erfolg all der Bücher rund um die "Natur" oder was dafür gehalten wird auch ein handfester Beleg dafür, dass das Publikum dringend nach einer Aufarbeitung der Umweltthematik verlangt.
    Natur ist für uns das, was nicht wir selbst sind, sondern das uns umgibt und das unterworfen und kontrolliert gehört – und für die Industrie ist Natur eine Art Plantage, formalisier- und skalierbar, folglich denaturierte Natur. In der industriellen Landwirtschaft begegnen wir der maximalen Entfremdung unserer Kultur von der Natur. Die Folgen sind Nitrat im Trinkwasser und der Zusammenbruch ganzer Populationen. Dass Pflanzen, Insekten und Tiere im Anblick der Agrarsteppe mit bedrohlicher Geschwindigkeit die Segel streichen, ist ein mehr als deutlicher Hinweis dafür, dass unser Naturverständnis Natur gerade nicht adäquat abbildet, ganz im Gegenteil.
    "Was wir seit dem 17. Jahrhundert Atmosphäre nennen, hat seine innere Zusammensetzung verändert. Dank der Pflanzen wird die Erde endgültig zum metaphysischen Raum des Atems. Die Ersten, die die Erde besiedelten und bewohnbar machten, waren Organismen, die zur Photosynthese fähig waren: Die ersten vollständig terrestrischen Lebewesen haben die Atmosphäre am stärksten verwandelt. Umgekehrt ist die Photosynthese ein großes atmosphärisches Labor zur Umwandlung von Sonnenenergie in lebendige Materie. In gewisser Hinsicht haben die Pflanzen das Meer nie verlassen: Sie haben es dahin gebracht, wo vorher keines war."
    Sie nehmen Wind und Insekten in ihren Dienst
    Pflanzen sind die großen Magier des Lebens. Nicht nur, dass sie das Kunststück fertigbringen, Kohlenstoff und Sonnenlicht zusammen mit Wasser in Leben zu verwandeln – darüber hinaus versetzen sie offenbar auch noch ganze Meere. Pflanzen bilden Welt – und sie leben an zwei Orten – in der Erde und in der Luft. Sie sind amphibisch. Wiewohl selbst an einen Ort gefesselt, haben sie es verstanden, Wind und Insekten in ihren Dienst zu nehmen, um sich über den gesamten Erdball auszubreiten und das Antlitz des Planeten entscheidend zu prägen.
    "Allein schon durch ihre Existenz verändern Pflanzen ganz global die Welt, ohne sich dabei auch nur zu bewegen, ohne überhaupt zu handeln. Sein bedeutet für sie Welt machen, und umgekehrt ist die Konstruktion von (unserer) Welt, das Weltmachen, nur ein Synonym für das Sein. Und nicht nur die Pflanzen versuchen sich in dieser Koinzidenz: Bei den Organismen ist sie noch viel eindeutiger zu sehen. Damit müssen wir diese Erkenntnis verallgemeinern und schlussfolgern, dass die Existenz jedes Lebewesens notwendigerweise ein kosmogonischer Akt ist."
    Das Lebendige zerfällt in eine Vielzahl von Welten, die einander durchdringen und die umgekehrt von Atmosphäre und Atem synchronisiert und durchdrungen werden. Dieses Bild setzt Coccia dem Naturbild der Moderne entgegen – ein Begriff, in dem eigentlich ein Euphemismus steckt, da verschwiegen wird, dass die Zersetzung von Anschaulichkeit durch Abstraktion dessen Voraussetzung ist. Ein Bild kann die Wissenschaft von der Natur nicht mehr entwerfen. Dafür wird Atmosphäre zunehmend von einer Technosphäre ersetzt.
    In seiner Pflanzenphilosophie aber gelingt es Emanuele Coccia, uns ein neues, revidiertes Bild der Natur zumindest erahnen zu lassen – und wir ahnen anhand dessen außerdem, dass das dringend nötig ist, bevor wir die Grundlagen unserer eigenen Existenz endgültig zerstört haben werden. Der Blick auf Gewinnmargen, Exportmärkte und Agrarsubventionen hat uns gründlich die Einsicht vernebelt, dass unser Körper genau jene Natur ist, die wir selbst sind.
    Zu den Paten des italienischen Philosophen gehört sicher Gustav Theodor Fechner, der mit seinem 1848 publizierten Werk "Nanna oder über das Seelenleben der Pflanze" die Allbeseeltheit der Natur am Beispiel der Pflanze plausibel zu machen versucht hat. Fechner geht es in seinem Buch darum:
    "Die Pflanzen in einer allgemein gottbeseelten Natur als eines individuellen Anteils dieser Beseelung wieder teilhaftig erscheinen zu lassen, und insbesondere ihren Verkehr mit dem Lichtgotte Baldur zu schildern, oder, kürzer und einfacher, ihnen eine eigene Seele beizulegen, und ihren Verkehr mit dem Lichte psychisch auszulegen."
    In einem unauflösbaren Zusammenhang
    Auch Coccias Essay verhilft uns zu einem integralen oder systemischen Blick auf Pflanze, Welt und Dasein. Nichts in der Welt lässt sich von dem, wovon es beherbergt wird, trennen – weder die Welt von der Pflanze, noch die Pflanze von der Welt. Alles steht mit allem in einem unauflösbaren Zusammenhang – und alles ist in allem enthalten. In den Worten des italienischen Philosophen: Was umfängt, wird umfangen – und was umfangen wird, umfängt. Ein unauflösbares Verhältnis, das wir Klima nennen.
    Leben bedeutet nun nicht nur immer: zusammenleben, es bedeutet zugleich ineinander leben. Anders ausgedrückt: Was lebt, wechselt unentwegt den Stoff. Wir werden von allem durchquert, so, wie wir unsererseits alles durchqueren – das zeigt der allgegenwärtige Metabolismus des Seienden ebenso wie der Umstand, dass das, was es gibt, aus genau dergleichen Materie besteht, aus der wir selbst bestehen. Wenn es aber das Zusammen- und gar Ineinander-Leben ist, was Natur als solche kennzeichnet, dann sind damit doch gerade Fragen der Kultur verknüpft.
    Wie zusammen und wie ineinander leben?
    Coccia nennt dieses Gebilde, oder, besser: Gewebe des radikalen mit und ineinander Vermengt-seins die eigentliche Ursuppe:
    "Die Pflanzen sind die Ursuppe der Erde, und sie ermöglicht es, dass die Materie Leben werden und das Leben sich zur rohen Materie zurückverwandeln kann. Diese radikale Mischung, die alles an ein und demselben Ort existieren lässt, ohne Formen und Substanzen zu opfern, nennen wir Atmosphäre."
    Die Atmosphäre ist für Coccia die aristotelische Quintessenz der Welt, ihr Äther und Wesentliches, in der alles miteinander verbunden und alles in allem ist. Nichts ist ontologisch vom Rest getrennt. Wie das verstanden werden muss, lässt sich am Bild des Meeres veranschaulichen, am Bild der Atmosphäre, am Bild der Materie.
    Coccias Sichtweise ist ein Schlag gegen die Behälterlogik der mathematisierten Naturwissenschaften, wo ein Raum halluziniert wird, in dem die Welt, die Pflanzen und wir selbst wie in einem Blumentopf enthalten sind – dabei logisch streng voneinander getrennt. Aber die Welt ist nicht im Raum, vielmehr ist der Raum in der Welt. Coccia spricht von einer Verschwörung der Ideen und Dinge.
    "Nie werden wir von der Welt getrennt sein können: Alles Lebendige formt sich aus derselben Materie, aus der Berge und Wolken bestehen. Das Eintauchen ist ein materielles Zusammentreffen, das unter unserer Haut beginnt. Deshalb brauchen auch die Organismen nicht aus sich selbst herauszugehen, um das Gesicht der Welt umzugestalten; sie brauchen nicht zu handeln, zu ihrer "Umwelt" zu gehen, brauchen sie nicht einmal wahrzunehmen: Allein durch ihr bloßes Sein formen sie den Kosmos. In-der-Welt-Sein bedeutet zwangsläufig Welt machen."
    Nicht nur wir fühlen uns irgendwie an, das tun neben uns Tieren auch die Pflanzen: Sie fühlen sich in ihrem Dasein irgendwie an. Sie verfügen über innere Zustände, die ihre Reaktionen auf die Umwelt mitbestimmen und einfärben.
    Das harte Problem der Philosophie
    Damit soll gesagt sein, dass in uns und in den Pflanzen mehr steckt, als Botanik und Biologie aussagen können. Wir mögen noch so viele physikalische und chemische Details sammeln und sichten – auf diese Weise lässt sich nie hinter das Geheimnis des mehr kommen. Mit einem alten, inzwischen ungebräuchlich und sogar als obsolet begriffenen Wort können wir dieses mehr als Geist bezeichnen. Geist gilt als das so genannte harte Problem der Philosophie – das nämlich in der Frage besteht, wie er in die Maschine oder den Organismus kommt, der ja seinerseits nur als komplexer organisierte Maschine verstanden werden kann, als effektive Form, um alles mit allem zu mischen.
    Coccia bietet in seinem Essay eine elegante Lösung an. Wenn wir uns fragen, welche Rolle das Bewusstsein im Universum spielt, dann lautet seine Antwort: Materie hängt vom Geist ab. Und mit einer weiteren Wendung: Wenn Geist aus der gleichen Materie wie Wolken und Berge besteht, warum sollten Berge und Wolken und überhaupt Materie dann umgekehrt keinen Geist besitzen? Eine Pflanze, so formuliert es der italienische Philosoph, ist eine Maschine, die die Erde an den Himmel bindet.
    "Jede Pflanze erfindet und eröffnet, so scheint es, einen kosmischen Plan, in dem kein Gegensatz besteht zwischen Materie und Fantasie, zwischen Vorstellung und Selbstentwicklung. Der Gedanke von einer Sphäre absoluter Kongruenz von Körper und Bewußtsein, von Bild und Materie, war der Biologie nie fremd; seine moderne Ausformulierung ist der Genbegriff. Sehr verbreitet war er in der Philosophie und Medizin der Renaissance. (...) Anders gesagt: Es gibt ein materielles, aber nicht neuronales Gehirn, einen Geist, der der organischen Materie an sich innewohnt. Durch das Leben kann die Materie Geist werden – indem sie zu leben beginnt. Die ersichtlichste Form dieser elementaren Form der "Zerebralität" verkörpert der Samen."
    Im Samen fallen Wissen und Wesen zusammen. Begreifen wir das Gehirn nun als eine Form des Samens – woran Begriffe wie "Seminar" erinnern – zeigt sich das nicht-anatomische Wesen des Gehirns. Es ist kein Organ, vielmehr sind der Geist oder das Bewusstsein ein Merkmal der Materie. Wissen und Denken dürfen nicht in einem Organ wie dem Gehirn vom Rest des Ganzen separiert, Wissen und Denken müssen vielmehr mit der Materie als vollkommen kongruent gedacht werden. Darin liegt der Clou, wenn behauptet wird, dass Leben Ineinander-Sein bedeutet oder: dass alles von allem durchquert wird und selbst durchquert. In diesem Sinn lässt sich mit Coccia sagen, dass Vernunft Sexualität ist.
    "Wo es eine Form gibt, gibt es einen Geist, der Materie strukturiert, das heißt, die Materie existiert und lebt als Geist. Das Pflanzenleben ist nie ein rein biologisches Faktum: Es ist Ort der Ununterscheidbarkeit von Biologie und Kultur, von Materie und Kultur, von Logos und Ausdehnung."
    Geist ist der Ort, wo Physik in Metaphysik umschlägt.
    Die Allbeseeltheit verlangt, dass wir uns mit der Erde unbedingt solidarisch zeigen. Allerdings sind es die für die Photosynthese verantwortlichen Chloroplasten und die in der Wurzel wirkenden Plastiden, die offenbaren, dass wir wie alles Organische und Lebendige an das Energiezentrum der Sonne gebunden sind. Wir behaupten uns folglich nicht in der Geosphäre, sondern in der Heliosphäre.
    "Dank der Pflanzen wird die Sonne zur haut der Erde, ihre äußerste Schicht, und die Erde wird ein Gestirn, das sich von Sonne ernährt, sich aus ihrem Licht konstruiert. Sie verwandeln das Licht in organische Substanz und machen das Leben zu einem prinzipiell solaren Faktum."
    Erde und Sonne sind untrennbar
    Es ist das Leben selbst, dass heliozentrisch organisiert ist. Aus diesem Grund hält Coccia den mit Nietzsche ubiquitär gewordenen Geozentrismus als "Treue zur Erde" für verfehlt. Dieser setzte ja auch eine autonome Erde voraus, die es aber nicht gibt. Die Erde ist von der Sonne nicht zu trennen.
    Wenn folglich Platon behauptet, der Mensch sei ein Gewächs, "das nicht in der Erde, sondern im Himmel wurzelt", formuliert das Emanuele Coccia zu folgenden Zeilen um:
    "Dem schlafwandlerischen, nachtgeweihten Realismus der modernen und postmodernen Philosophie müsste man einen neuen Heliozentrismus gegenüberstellen, ja besser noch eine Extremisierung der Astrologie. Es geht dabei nicht oder zumindest nicht einfach nur um die Behauptung, dass die Gestirne uns beeinflussen, dass sie unser Leben steuern, sondern darum, dieser Erkenntnis gleich hinzuzufügen, dass auch wir die Gestirne beeinflussen, denn die Erde selbst ist nur ein Gestirn unter den anderen, und alles, was auf ihr (und in ihr) lebt, besitzt die Natur der Gestirne. Es gibt überall nur Himmel, und die Erde ist ein Teil davon, ein partieller Aggregatzustand."
    Es ist sonach den Pflanzen zu verdanken, dass das Leben kein rein chemisches Faktum ist, sondern ein kosmisches, genauer: ein astrologisches.
    Emanuele Coccia erweist sich mit seinem Essay "Die Wurzeln der Welt" als Vertreter einer Sonderform des Panpsychismus – und als Übersetzer bzw. Verstoffwechsler jenes abrahamitischen Mythos, wonach der Atem Gottes die Materie belebt. Atem und Geist besitzen gewissermaßen dieselbe Wurzel. Diese Rückbindung an alte Mythen soll gewiss nicht gegen das Buch sprechen, im Gegenteil. Es ist ein Ausweis der Klugheit seines Autors – und das schon deshalb, weil es leichter ist, Bewusstsein von bewusster Materie herzuleiten, denn von nicht-bewusster. Wenn man so will, ist es ausgerechnet Ockhams Messer, von dem Coccias Argumentation bekräftigt wird.
    Dem italienischen Denker ist mit seiner Philosophie der Pflanzen ein außerordentlich inspirierender Essay geglückt – elegant geschrieben, geistreich, originär. Ein schmales Buch, das nicht mit enzyklopädischem Wissen prahlt oder erschlägt (in seinem Anmerkungsapparat aber erkennen lässt, dass es davon Kenntnis hat) – und das dennoch und gerade deshalb imstande ist, eine anthropologische Revolution auszulösen. Nach der Lektüre ist klar, dass die Stellung des Menschen im Kosmos eine andere ist als die, die das Christentum ihm zugedacht hat.
    Emanuele Coccia: "Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen". Übersetzt von Elsbeth Ranke. München 2018, Hanser. 192 Seiten. 20 Euro.