Sonntag, 12. Mai 2024

Archiv

Emigranten-Odyssee
Fast 80 Jahre alt und wieder aktuell

Die Autorin Irmgard Keun ging 1936 ins Exil und schrieb weiterhin Zeitromane - im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, die vor den Nazis geflohen waren. In ihrem Buch von 1938 "Kind aller Länder" erzählt sie eine Emigranten-Odyssee aus Sicht eines Kindes.

Von Oliver Pfohlmann | 18.05.2016
    Die Schriftstellerin Irmgard Keun (1905-1982) bei Dreharbeiten zur Verfilmung ihres Romans "Nach Mitternacht" in Berlin.
    Die Schriftstellerin Irmgard Keun (1910 - 1982) bei Dreharbeiten zur Verfilmung eines weiteren Romans von ihr "Nach Mitternacht" in Berlin. (picture alliance / dpa)
    Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es. Schön wär‘s. Die folgenden Sätze stammen von einer Zehnjährigen, deren Familie vor den Nazis fliehen musste. Doch könnten auch viele heutige Kinder sie sagen, aus Syrien etwa oder dem Irak:
    "Wir sind Emigranten, und für Emigranten sind alle Länder gefährlich, viele Minister halten Reden gegen uns und niemand will uns haben, dabei tun wir gar nichts Böses und sind genau wie alle anderen Menschen."
    Kully ist das "Kind aller Länder"
    Das aufgeweckte Mädchen, das seine Erwachsenenumwelt sehr genau beobachtet und sich dabei seine ganz eigenen Gedanken macht, heißt Kully und stammt aus Frankfurt am Main. Kully ist das "Kind aller Länder" – so der Titel von Irmgard Keuns großem, lange vergessenem Exilroman aus dem Jahr 1938. Im Verlag Kiepenheuer & Witsch ist er nun neu erschienen. Fast 80 Jahre alt ist dieser Roman also - und mit einem Mal wieder brandaktuell: Ob es um diese mysteriösen "Grenzen" geht, die Kully gern einmal sehen möchte – "aber ich glaube, das kann man nicht." –, oder um "Pässe":
    "Wir haben einen deutschen Pass, den hat uns die Polizei in Frankfurt gegeben. Ein Pass ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt. Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben. Man darf dann in kein Land mehr. Aus einem Land muss man ‚raus, aber in das andere darf man nicht rein. Doch der liebe Gott hat gemacht, dass Menschen nur auf dem Land leben können. Jetzt bete ich jeden Abend heimlich, dass er macht, dass Menschen jahrelang im Wasser schwimmen können oder in der Luft fliegen."
    Nach Hitlers Machtantritt ist Kullys Familie "in die allgemeine Freiheit" ausgewandert, wie es Keuns kindliche Ich-Erzählerin formuliert. Jüdisch ist die Familie nicht, doch die Nazis haben dem Schriftsteller-Vater das Schreiben verboten. Seitdem irrt die Familie durch Polen, Österreich, Belgien, Holland, Frankreich und Italien, am Ende reisen Vater und Tochter sogar durch die USA. Eine typische Flüchtlingsodyssee eben: Nirgendwo sind sie willkommen, arbeiten und sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen dürfen sie nicht, und ihre Visa sind immer nur begrenzt gültig.
    Familie quartiert sich in Luxusherbergen ein
    In einem Punkt unterscheiden sich die Lebensumstände der Familie aber von denen heutiger Flüchtlinge: Statt in Notunterkünften quartiert der Vater, Mutter und Tochter kurzerhand in Luxusherbergen ein, egal ob in Paris oder Amsterdam. Das nennt man Chuzpe: So lange das Hotelpersonal glaubt, die Flüchtlinge wären vermögend, sind alle freundlich zu ihnen. Aber wehe, der Bluff fliegt auf, dann verwandelt sich selbst das Gesicht des Portiers in eine "strenge Rechnung", wie Kullys Mutter findet. Der Vater ist dann meist schon wieder unterwegs, um irgendwo in Europa bei Verlegern oder Mäzenen Vorschüsse für angeblich längst fertige Romane zu ergattern. Und Mutter und Tochter?
    "Wir bleiben als Pfand zurück, und mein Vater sagt: Wir hätten einen höheren Versatzwert als Diamanten und Pelze."
    Gegessen wird nur noch einmal am Tag, und die Zeit der Ungewissheit und des Hungers vertreiben sich Kully und ihre Mutter mit Spielen wie "In wie vielen Betten hast du schon geschlafen?" oder "In wie vielen Zügen bist du schon gefahren?" Da erstaunt es nicht, dass Kullys größte Angst ist, vom Vater im Stich gelassen zu werden. Durch ihre Kinderaugen sieht man einen hoffnungslosen Träumer und Trinker. Seine Tochter vergisst er im Café, wie er fern der Familie auch seine Frau vergisst. Fast könnte man meinen, dass für ihn das Exilantenleben vor allem eine Befreiung von bürgerlichen Fesseln ist.
    Irmgard Keun schrieb weiter Zeitromane
    Heute sehen viele in diesem Schriftsteller-Vater ein Porträt Joseph Roths. Irmgard Keun hatte den alkoholkranken österreichischen Romancier 1936 im belgischen Ostende kennen – und lieben – gelernt. In Deutschland durfte die Starautorin der Weimarer Republik nicht mehr veröffentlichen, weshalb sie die Nazis allen Ernstes auf Schadensersatz verklagte, erfolglos natürlich – ein in diesen Jahren wohl einmaliger Fall. Auch Irmgard Keun hatte eben Chuzpe.
    Andere Exilautoren flüchteten nicht nur räumlich, sondern ebenso in ihren Romanen, nämlich in die Geschichte – Stefan Zweig ins alte Österreich, Thomas Mann in Goethes Weimar, Lion Feuchtwanger gar ins alte Rom. Nur Irmgard Keun schrieb weiter Zeitromane, porträtierte messerscharf ihre Gegenwart: Zuerst zeigte sie in "Nach Mitternacht", ihrem wohl bedeutendsten Roman, wie im Nazi-Deutschland die Propagandasprache das alltägliche Denken und Sprechen vergiftete. Dann, ein Jahr später, schilderte sie in "Kind aller Länder" das Schicksal der Emigranten – ein Roman, der weitgehend den Stationen ihres eigenen Exils folgte, von Ostende über Lemberg, Salzburg, Wien und Paris bis nach New York. Ob sie denn nie "Heimweh" habe, wird im Roman Kully einmal gefragt – und muss sich das Wort erst einmal erklären lassen.
    "Manchmal habe ich Heimweh, aber immer nach einem anderen Land, das mir gerade einfällt.
    Manchmal denke ich an die singenden Autobusse an der Cote d’Azur, an eine Wiese bei Salzburg, die ein blaues Meer von Schwertlilien war, an die Weihnachtsbäume bei meiner Großmutter, an die Slotmaschinen in New York, an die Riesenmuscheln in Virginia und die Strohschlitten und den Schnee in Polen."
    Auf eigenwillige, sehr subjektive Frauenstimmen war Irmgard Keun von Anfang an abonniert, man denke nur an das "Kunstseidene Mädchen" von 1932. Dass sie in "Kind aller Länder" eine Zehnjährige mit einem höchst eigenen Blick auf die Dinge sprechen lässt, sorgt nicht nur für viel Heiterkeit. Die Erzählperspektive mildert den Schrecken für den Leser, wie sie ihn paradoxerweise zugleich verstärkt. Keuns Exil-Roman ist ein frühes Beispiel für das, was man heute ein All-Age-Buch nennt. Erste Rezensenten der Neuausgabe plädieren schon für seine Aufnahme als Schullektüre – recht haben sie.
    Irmgard Keun: "Kind aller Länder"
    Roman. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2016, 224 Seiten, 17,99 Euro.