Freitag, 19. April 2024

Archiv

Emigration
Junge Türken wollen nach Uruguay

Viele Türken sind nach dem eindeutigen Wahlsieg der AKP ernüchtert. Sie sehen keine Zukunft für sich und ihre Familien in ihrer Heimat. Viele ziehen in Betracht, das Land zu verlassen. Favorisiertes Auswanderungsziel ist allerdings nicht das restliche Europa - sondern Uruguay.

Von Luise Sammann | 06.11.2015
    Jose Pepe Mujica, Präsident von Uruguay, wurde 2011 an der National University of Lanus in Argentinien die Ehrendoktorwürde verliehen.
    Viele Türken bewundern Jose Pepe Mujica, den ehemaligen Präsidenten von Uruguay. (picture alliance / dpa / Sergio Goya)
    Es herrscht wieder Alltag im Istanbuler Stadtteil Kadiköy. Die Wahlkampfstände, die die Parteien hier traditionell am Bosporusufer aufbauen, sind verschwunden und an einer Straßenkreuzung nimmt ein Arbeiter auf einer Leiter die letzten Porträts von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ab. Doch so gleichmütig die Passanten auch an ihm vorbei eilen - gerade hier, im säkularen, Erdogan-kritischen Kadiköy, haben die meisten den Schock vom 1. November noch nicht überwunden.
    In einer Bar sitzen mehrere junge Männer bei einer Flasche Raki zusammen. Der Grund für ihr Treffen steht auf einem Bildband, in dem einer von ihnen begeistert blättert: "Uruguay". Berk, Mitte dreißig, erklärt:
    "Ich habe vor einiger Zeit im Radio einem Türken zugehört, der in Uruguay lebte. Er hat erzählt, wie schön das Leben dort ist. Seit den Wahlen überlegen meine Frau und ich ernsthaft auszuwandern und seitdem kriege ich das nicht mehr aus dem Kopf."
    Berk und seine Frau sind mit ihrem Traum längst nicht mehr allein am Bosporus. "28 Gründe für einen Umzug nach Uruguay" heißt eine türkische Website, die inzwischen über 90.000 Mal bei Facebook geteilt wurde und neben Pressefreiheit und Co. die fröhliche Hymne des Landes preist.
    Besonders junge, gut ausgebildete Türken wollen auswandern
    Pepe Mujica, bis vor Kurzem Präsident von Uruguay, gilt vor allem vielen Erdogan-Kritikern als Idol. Denn während das türkische Staatsoberhaupt sich extra einen Palast mit 1.000 Zimmern bauen ließ, lebte Mujica auch während seiner Präsidentschaft in aller Einfachheit auf dem Lande. Erdogans Dienstwagen ist ein circa 300.000 Euro teurer Mercedes, dem als "ärmster Präsident der Welt" bekannt gewordenen Mujica reichte ein VW-Käfer. Auch Hakan, einer der vielen frustrierten Gezi-Demonstranten vom Sommer 2013, hat sich vom allgemeinen Uruguay-Fieber anstecken lassen:
    "Während bei uns der Druck auf alles und jeden wächst, herrscht dort die pure Freiheit. Sogar Marihuana ist freigegeben. Bei uns würden sie sogar Alkohol am liebsten verbieten. Und ein Land, dessen Präsident in einem Bauernhaus lebt? Das klingt wie ein Märchen in der Türkei!"
    Kein Wunder also, dass man sich im Istanbuler Konsulat von Uruguay vor auswanderungswilligen Türken kaum noch retten kann, wie die türkische Zeitung Evrensel jüngst schrieb. Auch Agenturen, die sich generell auf Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen für Türken im Ausland spezialisiert haben, melden einen deutlichen Kundenzuwachs. Besonders junge, gut ausgebildete Türken wollen ihre Heimat immer öfter verlassen, zeigt eine aktuelle Studie der OSZE. Der 35-jährige Berk passt genau in ihr Schema.
    "Warum wir weg wollen? Weil wir uns Sorgen um die Zukunft machen, weil wir das Regime ablehnen, weil wir nicht wissen, ob wir hier unsere Kinder großziehen wollen und weil wir genug haben von den ständigen Spannungen hier. Diese Wahlen haben das alles noch einmal deutlich verstärkt."
    Keine Hoffnung auf einen Wandel mehr
    Nur wenige Stunden nachdem der so überraschend eindeutige AKP-Sieg feststand, hatte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu betont, dass nun die Zeit der Versöhnung gekommen sei. Das Schubladendenken und der Hass innerhalb der Gesellschaft müssten ein Ende haben. Doch Kritiker wie Berk haben wenig Hoffnung, dass es der Regierung damit ernst ist. Schon am Tag nach der Wahl ging die Polizei erneut gegen Anhänger der in Verruf geratenen Gülen-Bewegung vor. Seit Dienstag stehen die Chefredakteure der Zeitschrift Nokta vor Gericht, weil sie den Wahlausgang als "Anfang des Bürgerkriegs" bezeichnet hatten. Die Anklage lautet auf Putschversuch. Berk, selbst Journalist, zuckt mit den Schultern:
    "Auch, wenn ich noch nicht weiß, ob es am Ende wirklich Uruguay wird. Dass wir auswandern wollen, steht fest. Bis vor Kurzem haben wir auf einen großen Wandel gehofft. Aber zu wissen, dass nun alles für mindestens vier Jahre so weitergeht und vielleicht sogar noch schlimmer wird, lässt uns keine andere Wahl, als nach Wegen zu suchen, dieses Land zu verlassen."