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Emmanuel Carrère: "Julies Leben"
Ein Leben am Abgrund

18 Jahre lang begleitete die amerikanische Fotografin Darcy Padilla eine drogenabhängige Frau bis zu ihrem Tod. Emmanuel Carrères Geschichte dieser Beziehung ist ein aufrüttelndes Dokument. Aber ist sie auch moralisch zu rechtfertigen?

Von Angela Gutzeit | 15.07.2020
Der Schriftsteller Emmanuel Carrère
Der Schriftsteller Emmanuel Carrère ((c) Julia von Vietinghoff)
Dies ist die Chronik eines sich selbst zerstörenden Lebens auf gerade einmal 60 Seiten. Wobei zwei Behauptungen in diesem Satz eigentlich gleich wieder in Frage zu stellen sind. Ist das, was Emmanuel Carrère hier schreibt, wirklich eine Chronik? Oder eher eine sozialkritische Reportage? Oder vielleicht sogar ein kleiner Tatsachenroman? Hatte Julie, um die es hier geht, überhaupt eine Chance, der Zerstörung zu entgehen? Und wie nähert man sich als Autor einem solchen Leben in tiefstem Elend? Genau diese Fragen sind es, die die Lektüre des Textes so interessant machen und noch dazu ins Zentrum des Carrère’schen Schreibens führen.
Erzählt wird hier die Lebensgeschichte einer jungen Amerikanerin, deren Drogen-"Karriere" Anfang der 1990er-Jahre in Tenderloin, San Franciscos "Umschlagplatz für Crack", ihren Anfang nahm und die 2010 in eben dieser Stadt durch einen qualvollen Aids-Tod ihr Ende nahm. Dass es dem französischen Autor um ein Schicksal geht, dem er eine verallgemeinerbare Tragödie von gesellschaftspolitischer Tragweite zuschreibt, ist schnell erkennbar.
"Die Geschichten von Dorian, Diane, Steven und vielen anderen ähnelten sich: von Armut und Gewalt geprägte Familien, in zartem Alter erste Ausreißversuche, dann Drogen, Prostitution, ein Leben auf der Straße und schließlich die Krankheit, die sie befiel, in Klappergestelle voller Druckgeschwüre verwandelte und letztendlich ins schwarze Loch zog: ein düsteres Zimmer im Hotel Ambassador. Diese Leute, die damals zwanzig oder dreißig Jahre alt waren, sind inzwischen alle tot, und niemand erinnert sich an sie außer Darcy, die von jedem von ihnen, in Schachteln mit ihren Namen darauf, Hunderte von Fotos aufbewahrt. Diese Schwarzweißabzüge, auf denen man sie lachen, weinen und ihre Wunden, Ängste und Nöte ausstellen sieht, sind die einzigen Spuren, die von ihrem Erdendasein übrig sind."
Als hätten sie eine Familie
Im Mittelpunkt dieser Foto-Sammlung steht Julie, die die amerikanische Fotografin Darcy Padilla 18 Jahre lang bis zu deren Tod mit ihrer Kamera begleitete. Julie lebte zum Zeitpunkt des Kennenlernens, es war das Jahr 1993, in eben diesem heruntergekommenen, "flohverseuchten" Armen-Hotel Ambassador zusammen mit Jack, beide HIV-positiv, und mit ihrer neugeborenen Tochter Rachel. Mit Padillas Fotos, so heißt es im Text, hätte die Fotografin den beiden das Gefühl gegeben, "normale Leute" zu sein, als "hätten sie eine Familie".
Der Konjunktiv ist bezeichnend. Da war keine Familie und es würde auch niemals eine geben. Als Kind einer Alkoholikerin, vom Stiefvater vergewaltigt, landete Julie schnell in der Drogenszene, hatte wechselnde Männer, zuletzt Jason, ein manisch-depressiver Obdachloser, und schließlich sechs Kinder. Bis auf das letzte, Elyssa, wurden ihr alle entzogen und zur Adoption freigegeben. Auf einem von Padillas dem Buch beigefügten Foto sieht man dieses kleine Kind in einem Zimmer, das einer Müllhalde gleicht. Es fasst seiner Mutter ins Gesicht, weil es ihr Sterben nicht begreift.
Die Abgründe der Armut
Emmanuel Carrère hat Julie niemals selbst kennengelernt. Was er hier schreibt, weiß er nur von Darcy Padilla und ihrem Fotoprojekt, für das die Fotografin den renommierten W.-Eugene-Smith-Preis erhielt. Ohne Frage bewundert der Autor die Arbeit Padillas, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Abgründe der Armut zu dokumentieren – schonungslos. Im Falle Julies bis zum letzten Atemzug.
"An dem Punkt, an dem sie nach achtzehn Jahren dieser seltsamen Zusammenarbeit miteinander waren, konnte man auch bis ans Ende gehen. Der Ordner, der diese Fotos enthält, heißt julie. end, und ich weiß nicht, was ich dem hinzufügen sollte, außer dass Darcy, die nicht gläubig ist, gebetet hat, dass dieser fürchterliche Todeskampf nicht zu lange dauern möge, doch er dauerte lang: über drei Wochen. In denen Julie Panikattacken hatte und das Zimmer voller Unbekannter wähnte, die ihr wehtun wollten. In denen Elyssa mit ihr spielen wollte. Und an deren Ende Jason, der bei ihr wachte, in der letzten Nacht für eine halbe Stunde seinen Hocker verließ (…), sodass sie genau in dieser halben Stunde am frühen Morgen des 27. September 2010 im Alter von sechsunddreißig Jahren starb."
Der französische Autor macht sich hier einerseits mit großem Einfühlungsvermögen und einer auf das Wesentliche reduzierten Sprache ein Material zu eigen, so als wäre er selbst vor Ort gewesen. Es ist unmöglich, sich diesem Sog, den der Text ausübt, zu entziehen. Dann aber nimmt Carrère auch wieder Abstand, indem er die Beziehung zwischen der Fotografin zu Julie moralisch und ethisch hinterfragt - und rechtfertigt.
"Für Darcy geht die Geschichte gut aus. Ich sage das ohne jede Ironie, und bewundere aufrichtig ihre psychische Gesundheit, die ihr die Gewissensqualen vieler anderer Künstler erspart, deren Talent und Ruhm auf dem Elend anderer gründen. Doch Darcy sieht sich auch nicht so sehr als Künstlerin, mit all dem, was dieser Status an Narzissmus impliziert, sondern als Journalistin, deren Mission es ist, Zeugnis abzulegen."
Fotos als Beleg – dass wir existieren
Darcy Padilla aber tat nach Julies Tod noch mehr. Sie hat alle ihre Kinder aufgespürt, um ihnen eine Geschichte zu geben, die Geschichte ihrer leiblichen Mutter. Sogar um die Adoption des jüngsten Kindes soll sie sich bemüht haben. Ein Engagement, das Carrère, wie gesagt, verteidigt. Die Unbedingtheit, Menschen am Abgrund, in ihrem Elend, aber auch in den wenigen Momenten eines unhaltbaren Glücks der Kamera auszusetzen, verstört.
Julie aber soll die Wahrnehmung durch eine Frau aus einem für sie unerreichbaren Milieu genossen und ihre Fotos als Beleg empfunden haben, ein Beleg dafür, dass sie und vor allen Dingen ihre Kinder überhaupt existierten. Wo also ist die Grenze, die Rechtfertigung für eine solche Dokumentation bzw. wo endet ihr Aufklärungswert und fängt das unzumutbare Eindringen eines fremden Blicks in ein zerstörtes Leben an?
Vielleicht hätte man sich von Carrère noch ein paar mehr Gedanken zu diesem Problem gewünscht. Aber es ist wohl sein Konzept von Realitätsannäherung, das sich einer weiteren Erklärung verweigert. Man kann auch sagen: der Autor zwingt uns Leser gerade dadurch zur Auseinandersetzung mit moralischen wie auch ungelösten sozialen Fragen.
Faszination für das Urchristentum
Ein Anspruch, der wohl allen Büchern des französischen Autors eingeschrieben ist. Der Agnostiker Emmanuel Carrère hatte sich in seinem Buch "Das Reich Gottes" dem Urchristentum gewidmet und damit einer revolutionären Ethik, die den Schwachen zum Starken erklärt. Kurz danach erschien in deutscher Übersetzung "Ein russischer Roman", eine eigentümliche Melange aus Auto- wie Biografie und Fiktion, in der Carrère dem tragischen Leben seines verschollenen Großvaters nachspürt.
In "Brief an eine Zooanwärterin aus Calais" nahm er ein Flüchtlingslager in den Fokus und warf damit Fragen auf nach dem humanen Potential in der französischen Gesellschaft. In "Der Widersacher" schließlich beschäftigte sich Carrère mit einem Mann, der seine gesamte Familie umgebracht hat. In diese Bücher hat sich der Autor immer als betrachtendes oder handelndes Ich selbst eingeschrieben. Allerdings wird dabei nie so ganz klar, wie dieses Ich zu bewerten ist, wo die Tatsachen enden, die Fiktion anfängt. Die Eindringlichkeit jedoch, die er mit diesem Schreibverfahren erzielt, spricht für seine Methode.
Emmanuel Carrère möchte hinter die Fassaden schauen, hinter die eines Mörders oder eben einer Drogenabhängigen wie Julie. Ob die Geschichte, die er erzählen möchte, in Frankreich oder den USA angesiedelt ist, scheint nicht entscheidend zu sein. Carrères Weg von der Faszination für das Urchristentum bis zu dieser aufrüttelnden Sozialreportage "Julies Leben" wird oft in Rezensionen als sich voneinander unterscheidende Entwicklungsphasen des Autors beschrieben. Aber vielleicht lässt sich das auch anders sehen: Carrères kompromissloses Befragen von Lebenswegen und Lebensverhältnissen in unseren Gesellschaften haftet durchaus etwas Religiöses im Sinne von Urchristlichem an.
Emmanuel Carrère: "Julies Leben"
Aus dem Französischen von Claudia Hamm
Mit Fotos von Darcy Padilla
Matthes & Seitz, Berlin
60 Seiten. 10 Euro.