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Empörung über den Satz: 1929 "hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager"

Der Schriftsteller Rafael Seligmann bezeichnet die rhetorische Verquickung von Juden und Managern als Opfer durch den Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, als "Perversion des Denkens". Dessen Äußerungen im "Tagesspiegel" seien alte antijüdische Vorurteile.

Rafael Seligmann im Gespräch mit Elke Durak | 27.10.2008
    Elke Durak: Ist die gegenwärtige weltweite Finanzkrise irgendwie mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 vergleichbar? Der Präsident des IFO-Instituts Hans-Werner Sinn meint, ja. Im heutigen "Tagesspiegel" vergleicht er die jetzige Manager-Kritik mit dem Antisemitismus nach 1929. Scharfer Protest vom Zentralrat der Juden in Deutschland folgte mit der Aufforderung an Sinn, sich zu entschuldigen. - Am Telefon ist Rafael Seligmann, Schriftsteller, Publizist, Politologe. Guten Morgen, Herr Seligmann, nach Tel Aviv.

    Rafael Seligmann: Guten Morgen, Frau Durak.

    Durak: Herr Sinn hat unter anderem folgendes gesagt: "In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken. In der Weltwirtschaftskrise von 1929 hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager." - Ist das ein zulässiger Vergleich?

    Seligmann: In meinen Augen nicht. Wir haben ja die Freiheit des Wortes, aber die deutschen Manager oder die weltweiten Manager, die teilweise auch unsere Steuergelder leichtfertig verzockt haben, mit Juden zu vergleichen, die systematisch ermordet wurden, das zeugt von einer.

    Durak: Bei Herrn Sinn?

    Seligmann: Bei Herrn Sinn.

    Durak: Sollte er sich entschuldigen?

    Seligmann: Er sollte sich entschuldigen, aber darum geht es nicht allein, sondern die Frage ist, woher kommt dieses Denken. Das ist ja kein Einzelfall. Da sprach eine Partei in Hessen von jüdischen Vermächtnissen, um ihre Schwarzgelder zu erklären, weil offenbar viel schwarzes Geld von Juden kommt, oder da sprach vor einigen Jahren ein CDU-Abgeordneter von reichen Juden, die man schlachten sollte, um Geld zu haben, oder in Berlin meinten Protestanten, um für die Rechte ihrer Hunde einzutreten, ihnen einen Judenstern umhängen zu müssen. Also da ist offenbar auch bei Herrn Sinn und bei vielen anderen Menschen diese Vorstellung, Juden sind reich, Juden sind raffgierig, bei Herrn Sinn eher Juden sind das Opfer und die Manager jetzt, die sollen auch an den Pranger gestellt werden wie einst die Juden, ohne sich überhaupt um den Vergleich und seine Stichhaltigkeit zu kümmern.

    Durak: Er verwechselt Opfer und Täter. Juden waren Opfer, Manager sind, was die Krise betrifft, Täter. Was ist das Gefährliche an einer solchen Äußerung?

    Seligmann: Ich weiß nicht, ob jeder Manager ein Täter ist. Das ist ja genauso falsch. Es gibt sehr viele Bank-Manager, Tausende, die ihren Job gut machen. Es gab einzelne, es gab sogar viele, die Gelder verzockt haben, aus Gier, aus Druck. Es gab vor allem Banker in Staatsbanken, die mit unseren Steuergeldern leichtfertig umgegangen sind. Aber diese einzelnen Täter als Opfer darzustellen, ich weiß nicht. Kein Mensch, selbst die linkesten fordern nicht, dass man Bank-Manager systematisch umbringt. Das ist ja die Perversion des Denkens bei Herrn Sinn.

    Durak: Das hat Herr Sinn, ich vermute mal, mit Sicherheit nicht gemeint, Herr Seligmann. Er bezieht sich ja auf die Zeit direkt nach 1929. Aber ich will noch einmal weiter zitieren, damit wir in seinen Gedanken vielleicht noch weiter kommen. Er hat gesagt, "das Rettungspaket für die Banken sei richtig. Sonst hätte es wie '29 dramatische Folgen gegeben: eine Kernschmelze im Finanzsystem, Massenarbeitslosigkeit, die Radikalisierung der Länder der westlichen Welt, am Ende eine Systemkrise der Marktwirtschaft." So weit die Analyse, so weit, so gut. Jetzt geht es aber weiter. "Die deutsche Geschichte ist hier ganz klar. Der Nationalsozialismus sei aus der Krise zwischen 1929 und '31 entstanden. Auch heute stünden Rattenfänger parat."

    Seligmann: Das ist natürlich falsch. Die NSDAP ist 1920 gegründet worden und fußt hauptsächlich auf dem Gedanken eines Rassendarwinismus, vermischt mit Elementen von Richard Wagner und so weiter. Das kann man überhaupt nicht vergleichen. Herrn Sinn geht es nur darum, Manager zu exkulpieren und sie als Opfer darzustellen. Das ist das einzige, was sein Denken in diesem Falle beherrscht. Das sollte er zugeben und nicht nur er, sondern viele andere. Sie sagten, 1929 sind noch keine Juden umgebracht worden, aber diese antisemitische Bewegung, die hatte natürlich zur Konsequenz, dass Juden umgebracht wurden. Damit haben nicht erst die Nazis angefangen, sondern es gab den berühmten Jud Süß, den Josef Süß Oppenheimer, der im 18. Jahrhundert als Steuerberater des württembergischen Herzogs Alexander auch umgebracht wurde - nicht nur, weil er Steuereinnehmer war, sondern vor allem, weil er Jude war. Dieser aggressive Antisemitismus, der zum Tode, zum Mord führt, den gibt es nicht nur in Deutschland, den gibt es auf der ganzen Welt und den gab es nicht nur unter den Nazis. Und das mit Managern zu vergleichen, das ist unnormal. Das zeugt von Vorurteilen des Herrn Sinn und hat mit der Realität nichts mehr zu tun.

    Durak: Hier in Deutschland ist von gestern Nachmittag - da ist die Meldung auf den Markt gekommen - bis heute Morgen allerlei politischer und gesellschaftlicher Protest gekommen. Herr Sinn hat sich selbst noch nicht erneut geäußert. Wir haben uns auch um ihn bemüht, haben ihn leider nicht erreicht. Vielleicht wird das ja noch etwas im Laufe dieser Woche. - Herr Seligmann, Sie plädieren für mehr Normalität im Zusammenleben von Deutschen und Juden.

    Seligmann: Juden können auch Deutsche sein!

    Durak: Das wollte ich jetzt nicht sozusagen provozieren. Das ist klar. Aber zwischen Deutschen und Juden, gleich welcher Nationalität, dafür lohne es sich, bis an die Schmerzgrenze zu gehen, habe ich über Sie gelesen. Ist hier eine Schmerzgrenze überschritten?

    Seligmann: Ja. Ganz eindeutig ja. Wie gesagt, es geht mir nicht nur um Herrn Sinn und ob er sich entschuldigt oder nicht entschuldigt. Das ist nicht der Kern, sondern jeder, der so denkt, sollte sich überlegen, woher kommen diese Gedanken. Das sind Gedanken und Vorurteile, die nicht mit den Nazis begonnen haben. Das sind alte antijüdische Vorurteile, die teilweise von den Kirchen transportiert wurden, von Leuten, die mit den Nazis überhaupt nichts am Hut hatten. Wie im Falle Sinn sind das einfach Vorurteile, die weiterwabern und bei irgendeiner Gelegenheit rauskommen, und die sollte man sich aus dem Kopf schlagen. Es geht mir nicht um Entschuldigung, sondern um die Eliminierung antijüdischer, antiausländischer, Anti-Frauen-Vorurteile. Das steht alles zusammen.

    Durak: Herr Seligmann, Tatsache ist ja - Sie haben es schon angesprochen -, es hat in Deutschland auch vor den Nationalsozialisten Antisemitismus gegeben und im Zuge der Weltwirtschaftskrise wurden vor allem die Juden zu Sündenböcken gemacht, mit den allerdings in keiner Weise nur irgendwie zu entschuldigenden Folgen: dem Mord an sechs Millionen Juden. Eine Schuld, die insbesondere Deutschen jeden Vergleich versagt?

    Seligmann: Es geht nicht nur um Deutsche. Ich meine, es gab Helfershelfer in ganz Europa. Man sollte sich deutlich machen, dass jedes Vorurteil gefährlich ist und zur Verfolgung von Menschen führen kann. Und einfach in diese Opferrolle der Juden zu schlüpfen, das war ja die Idee von Herrn Sinn zu sagen, wenn ich die Bank-Manager mit Juden vergleiche, dann sind sie sozusagen von jeder Schuld exkulpiert, dann sind sie die Opfer, und das ist einfach nicht zulässig. Das ist schlicht dumm und unhistorisch und eines Wissenschaftlers unwürdig.

    Durak: Rafael Seligmann, Schriftsteller, Publizist und Politologe. Herr Seligmann, ich bedanke mich sehr für das Gespräch.

    Seligmann: Danke auch.