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Ende der Sowjetunion vor 25 Jahren
Kollaps einer Weltmacht

Vor 25 Jahren hörte die Sowjetunion auf zu existieren: Staatspräsident Michail Gorbatschow trat am ersten Weihnachtstag 1991 zurück, die rote Staatsflagge mit Hammer und Sichel verschwand vom Dach des Moskauer Kreml. Gescheitert war die UdSSR an ihren inneren Widersprüchen. Geblieben ist bei vielen Russen die Sehnsucht nach ehemaliger Größe.

Von Robert Baag | 25.12.2016
    Eine wehende Fahne der Sowjetunion.
    Eine wehende Fahne der Sowjetunion. (imago / Peter Widman)
    Viele Jahre lang gehörten derlei auch im Fernsehen unionsweit übertragene Feierstunden aus dem Moskauer Kreml-Kongress-Palast stets zum festen Bestandteil des offiziellen sowjetischen Polit-Repertoires:
    "Geschaffen wird ein neuer, bislang in der Geschichte noch nie da gewesener Typus staatlicher Macht, die vom Willen der Revolution aufgerufen ist, die Erde von jeglicher Ausbeutung, Gewalt und Sklaverei zu säubern. Unsere sozialistische Räterepublik wird fest da stehen als Fackel des Internationalen Sozialismus und als Beispiel dienen für alle werktätigen Massen."
    Ein Lenin-Darsteller, in Pose wie Sprache detailgetreu den kanonisierten Führer und Säulenheiligen der Weltrevolution respektvoll imitierend, erinnert feierlich an den Gründungstag der Sowjetunion am 30. Dezember 1922. Huldigend umtanzen und umspringen ihn dabei Volkstanzgruppen aus den diversen Sowjetrepubliken: Ukrainer, Balten, Kaukasier, Ensembles aus Zentralasien - ein gewaltiges in spät-stalinistischem Pomp inszeniertes Hochamt zu Ruhm und Ehren des Vielvölkerstaates UdSSR.
    Lenin-Denkmal in Moskau
    Lenin-Erinnerungen in der Metro-Station "Biblioteka Lenina" am 15. Mai 2015. (picture alliance / dpa / Foto: Yuri Kochetkov)
    Ende 1991 keine Feier der Oktoberrevolution
    Doch vor genau 25 Jahren rieben sich etliche Sowjetbürger die Augen: nur Alltagsprogramm im Fernsehen. Kein Lenin, keine Festveranstaltungen zu Ehren der bislang so ehrfürchtig gepriesenen "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution". Ein Indiz mehr also, dass es mit der Sowjetmacht inzwischen rapide bergab ging? Nach feiern war in jenen Spätherbsttagen 1991 sehr vielen Menschen in der UdSSR ohnehin nicht zumute. Denn noch lagen jene Ereignisse kein Vierteljahr zurück, die nicht nur die Super- und Atommacht in ihren Grundfesten erschüttert, sondern auch den Rest der Welt in ihren Bann geschlagen hatten:
    "Guten Tag, Genossen! - Hören Sie einen Ukas des Vize-Präsidenten der UdSSR: Da es Michail Sergejewitsch Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen unmöglich ist seine Verpflichtungen als Präsident der UdSSR auszuführen, hat auf Grundlage des Artikels 127-7 der Verfassung der UdSSR der Vize-Präsident der UdSSR, Gennadij Janajev, ab dem 19. August 1991 die Aufgaben des Präsidenten der UdSSR übernommen."
    Neuer Unionsvertrag als Zündfunke für Putsch
    Ein veritabler Putsch des sogenannten "Notstandskomitees" angezettelt von Mitgliedern der KPdSU, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, und von Teilen des Geheimdienstes KGB, die das viel zitierte "Rad der Geschichte" zurückdrehen wollten. - Eine Revolte, die - dilettantisch organisiert - rasch in sich zusammenbrach und politisch endgültig den Weg frei machte für Boris Jelzin, schon seit April 1991 frei gewählter Präsident der RSFSR, der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik, einer von 15 Unionsrepubliken innerhalb der UdSSR.
    Ein neuer Unionsvertrag, der inzwischen unterschriftsreif vorlag und den Sowjetrepubliken mehr Souveränität innerhalb der UdSSR hätte garantieren sollen, war für die Putschisten jener letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und sie gegen Gorbatschow vorgehen ließ.
    Der damalige sowjetische Präsident Gorbatschow kehrt am 22. August 1991 mit seiner Frau und seiner Tochter nach dem gescheiterten Putschversuch zurück nach Moskau.
    Der damalige sowjetische Präsident Gorbatschow kehrt am 22. August 1991 mit seiner Frau und seiner Tochter nach dem gescheiterten Putschversuch zurück nach Moskau. (imago / Itar-Tass)
    Auf die spezifische Rolle des sowjetischen Geheimdienstes KGB in jenen Augusttagen 1991 macht Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut in Moskau aufmerksam:
    "Die mittlere und auch höhere KGB-Ebene war entscheidend dafür, dass dieser Putsch in sich so schnell zusammenbrach. Denn die haben ja vor Ort entschieden, da nicht mit teilzunehmen. Denen war klar: Die halten sich nicht lange. Das ist keine Alternative. Und wenn dieser Putsch blutig ausgeht, dann sind wir erst richtig dran. So gibt es immer noch die Perspektive zu überwintern und dann eine neue Position aufzubauen."
    Baltische Sowjetrepubliken erklären ihre Unabhängigkeit
    Als direkte Konsequenz des gescheiterten Putsches bleibt festzuhalten: Das Gegenteil dessen, was sich das sogenannte "Notstandskomitee" vorgenommen hatte, nämlich die "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" vor dem befürchteten Zerfall zu bewahren, gewann jetzt erst recht rasch an Eigendynamik. Reihenweise erklärten sich die Unionsrepubliken für souverän. Vorreiter eines einseitig erklärten Ablösungsprozesses waren die damaligen baltischen Sowjet-Republiken Litauen, Lettland und Estland, die sich bereits 1990 für unabhängig erklärt hatten.
    Am 24. August 1991 dann proklamierte die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Bei einem Referendum ein Vierteljahr später bekräftigen diesen Schritt ihrer Führung in Kiew mehr als 90 Prozent aller Ukrainer. Damit war aber auch klar: Nach dem Ausscheren der Ukraine als einer der Eckpfeiler war selbst an eine zur Konföderation umgestaltete Sowjetunion nicht mehr zu denken: Somit begann auch dieses Reformvorhaben Gorbatschows von der Nach-Putsch-Wirklichkeit überholt zu werden. Der Bremer Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede sieht in diesem Auflösungsprozess kein spontanes Phänomen, denn:
    "Gorbatschow hat, glaube ich, bis 1990/91 die nationale Frage in der Sowjetunion nicht verstanden, die Brisanz nicht begriffen. Er hat diesem Land ja viel an Freiheit gegeben und glaubte, dadurch könnte er diese Gesellschaft binden."
    Enttäuschte Hoffnungen nach dem Sieg gegen die Putschisten
    "Nach dem Sieg über die Putschisten hatte man so das Gefühl: Jetzt, ab diesem Moment - als ob jemand kurz einen Zauberstab geschwungen hätte - jetzt muss sich alles ändern! Alles muss irgendwie anders, leichter, einfacher werden, noch freier. Doch das Allererstaunlichste war: Ein Monat ging vorbei, anderthalb, zwei Monate und wieder - passierte gar nichts!"
    Die enttäuschte, desillusionierte Moskauerin Rita, in den Augusttagen 1991 aktiv als Demonstrantin gegen die Putschisten und für ein demokratisches Russland unterwegs, steht beispielhaft für viele ihrer Landsleute, die trotz des siegreichen Widerstands gegen die kommunistischen Hardliner in ihrem Alltag weiter konfrontiert blieben mit leeren Ladentheken sowie einem immer weiter absinkenden Lebensstandard.
    Der russische Präsident Boris Jelzin (M, mit Papier in der Hand), auf einem Panzer vor dem russischen Regierungsgebäude in Moskau stehend, ruft die Bevölkerung am 19. August 1991 zum Generalstreik auf.
    Gescheiterte Putschversuch: Der russische Präsident Boris Jelzin auf einem Panzer vor dem russischen Regierungsgebäude in Moskau stehend. Er hatte Bevölkerung am 19. August 1991 zum Generalstreik aufgerufen. (dpa / RIA Nowosti)
    Auf der politischen Ebene dagegen ging es hektisch zu, vor allem in den Hinterzimmern der Macht und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Für den Moskauer Historiker Boris Sokolov bleibt es daher ein unverzeihlicher Fehler, dass nach dem August-Putsch die Kommunistische Partei nicht genauso verboten worden ist wie zuvor, am 29. August 1991, die KPdSU, die Kommunistische Partei der Sowjetunion:
    "Jelzin und seine Leute hofften - erstens - damals noch ein bisschen die UdSSR bewahren zu können, vielleicht als eine Art ‚Halb-Konföderation‘. - Und zweitens: An einer Demokratisierung Russlands lag ihnen nicht sonderlich viel. Sie wollten vielmehr die Macht für sich absichern, die Gorbatschow schon entglitten war."
    Nationale Parteiführer wittern Morgenluft
    In Russland und den anderen Sowjetrepubliken spürten die Regional-Eliten, dass angesichts der Schwäche der Moskauer Zentralmacht nun ein günstiger Zeitpunkt gekommen war den sprichwörtlichen "Tiger zu reiten". Sie wollten die Gunst des historischen Augenblicks nutzen sich vom Kreml politisch abzunabeln, zugleich die eigene nationale Hausmacht absichern, das Publikum daheim mit patriotischem Gestus hinter sich bringen, um sich so für die damals noch reichlich ungewisse Zukunft der UdSSR wetterfest aufzustellen. - Jens Siegert, lange Jahre Moskauer Büro-Chef der Heinrich-Böll-Stiftung, erinnert sich an durchaus unterschiedliche Motivationen, die damals im Riesenreich Sowjetunion zu spüren waren:
    "Das hat ein bisschen was damit zu tun, wie lange und wie die jeweiligen Sowjetrepubliken unter sowjetische oder - wenn man so will - russische Herrschaft gekommen sind: Die baltischen Republiken erst nach 1944. Und zwar gewaltvoll! - Anders als zum Beispiel die Verbindung von der Ukraine oder Weißrussland mit Russland, die historisch gesehen sehr viel länger der Fall gewesen ist. Oder aber auch in Transkaukasien. Gar nicht zu reden von den zentralasiatischen Republiken, die gar keine Eigenstaatlichkeit vorher kannten. Da ist es tatsächlich eher die Frage gewesen, dass nationale Eliten die Gelegenheit ergriffen haben."
    Welches System soll an die Stelle des alten treten?
    "Am Anfang gab es überhaupt keinen Gedanken irgendein Dokument von großer Tragweite zu verabschieden..."
    ...erinnerte sich im russischen Fernsehen einige Jahre später Leonid Kravtchuk, damals Präsident der ukrainischen Sowjetrepublik, an den 8. Dezember 1991, ebenfalls ein Datum, an dem Weltgeschichte gemacht wurde. An diesem Tag nämlich trafen sich in Belaweshsskaja Puschtscha, einem Regierungs-Landsitz unweit der sowjetischen West-Grenze zu Polen, der russische Präsident Jelzin, Stanislaw Schuschkewitsch, seinerzeit amtierender Präsident der Sowjetrepublik Weißrussland und eben auch der Ukrainer Kravtchuk:
    "Später dann, nach dem Abendessen, haben sich Arbeitsgruppen zusammengesetzt. Ein sogenanntes Dreiergespräch - nur der Präsidenten - hat es nicht gegeben."
    "Die Idee zu dem späteren Abkommen ist noch an diesem Abend des 7. Dezember von den russischen und weißrussischen Experten formuliert und nachts niedergeschrieben worden. Am Morgen dann hat man dieses Papier den drei Präsidenten überreicht."
    ...bestätigte der inzwischen verstorbene Jegor Gajdar, prominenter Wirtschaftsreformer und russischer Premierminister unter Boris Jelzin. Seine beiden Amtskollegen und er, berichtete Kravtchuk weiter, hätten auf dieses Papier, das die Auflösung der UdSSR offiziell habe festschreiben wollen, prompt mit der naheliegenden Frage reagiert:
    "Was genau sollen wir dann stattdessen gründen? Kurz: Es zeichnete sich die GUS ab, die ‚Gemeinschaft Unabhängiger Staaten‘. Ganz schnell. Denn: Um etwas nicht zu schaffen, muss man etwas liquidieren. Das war die Hauptfrage! Wir waren doch erwachsene Leute. Das haben doch alle begriffen: Was für ein System zerstören wir hier? Was für eine Macht?"
    Der russische Präsident Boris Jelzin unterzeichnet das Gründungsabkommen der GUS am 21.12.1991.
    Boris Jelzin unterzeichnet das Gründungsabkommen der GUS am 21.12.1991. (picture alliance / dpa / epa)
    Schlimmeres verhindern
    "Schuschkewitsch hat sich wegen des ganzen Vorgangs sehr große Sorgen gemacht. Er hat verstanden, dass er keinen anderen Ausweg hatte, dass er mit dieser Entscheidung eine wahnsinnige Verantwortung auf sich nimmt, schrecklich in ihren Folgen."
    "Euphorie?" Die habe es nicht gegeben, versicherte der Ukrainer Kravtchuk. - Und der Weißrusse Schuschkewitsch ergänzte:
    "Mir schien: Wir tun das Richtige. Dass wir nämlich so verhindern können, dass sich die Ereignisse vielleicht zu etwas Schlimmem entwickeln."
    "Und - nach langen Beratungen, Diskussionen hat man schließlich im Konsens unterschrieben."
    "Jelzin meinte zu mir und auch zu Schuschkewitsch: Ich habe so ein Gefühl, als sollten wir uns hier nicht mehr länger aufhalten."
    "Totengräber sind keine Mörder"
    Den ohnehin schon weitgehend isolierten sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow hatten die Drei mit diesem Coup kalt erwischt. Oft hat man ihn später gefragt, weshalb er die drei abtrünnigen Republik-Präsidenten nicht einfach habe verhaften lassen?
    Natürlich habe er hin und her überlegt, ob er sie verhaften lassen solle, gestand Gorbatschow ein. Doch das habe sich schon nicht mehr umsetzen lassen, weil dies wohl mindestens zu einem gesellschaftlichen Konflikt geführt hätte. Das negative Etikett, die drei Republik-Oberhäupter seien die "Totengräber der UdSSR", ist vor allem Jelzin nie mehr losgeworden - und zwar nicht nur bei Sowjetnostalgikern. Jens Siegert dagegen plädiert für Begriffsschärfe:
    "Wenn die Totengräber diejenigen sind, die das Grab schaufeln, wenn die Leiche schon tot ist, dann stimmt das. Aber sie sind nicht diejenigen, die die Sowjetunion getötet haben. Das hat mich sowieso schon immer besonders interessiert an diesem Bild: Weil diejenigen, die das benutzen, wollen eigentlich sagen: Das sind die Mörder! - Sie sagen aber: Sie sind die Totengräber! - Totengräber begraben nur diejenigen Leute, die schon gestorben sind! Und die Sowjetunion war tot! Und was diese drei gemacht haben im Dezember 1991 war: Sozusagen den Totenschein auszustellen."
    Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow im April 1986
    Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow im April 1986 (picture alliance / dpa / Tass)
    Gorbatschow tritt am ersten Weihnachtstag zurück
    Den klinischen Tod der UdSSR offiziell festzustellen und unionsweit zu verkünden, blieb indes dem Staatspräsidenten vorbehalten - nicht zuletzt in seiner Rolle als oberster Notar des Landes. - Während die Menschen westlich der sowjetischen Staatsgrenze den ersten Weihnachtsfeiertag begingen, erschien Michail Gorbatschow am Abend des 25. Dezember 1991, am Ende eines ganz normalen Werktages in der UdSSR, plötzlich auf den Fernsehschirmen in den Wohnstuben der Einwohner zwischen Brest und Wladiwostok und verkündete gefasst:
    "Liebe Landsleute, Mitbürger!", so Gorbatschow: "Unter dem Druck der aktuellen Lage beende ich meine Tätigkeit auf dem Posten des Staatspräsidenten der UdSSR!" - Seine Begründung und Analyse fielen ebenso knapp aus:
    "Das alte System ist zusammengebrochen, bevor das neue System beginnen konnte zu funktionieren. Kardinale Veränderungen in solch einem riesengroßen Land, noch dazu belastet mit solch einem Erbe, können nicht ohne Schmerzen vor sich gehen, ohne Mühen und Erschütterungen."
    Oberster Rat der UdSSR verliert sein Mindeststimmrecht
    Seit jenem Dreiertreffen Jelzins mit dem Ukrainer Kravtchuk und dem Weißrussen Schuschkewitsch am 8. Dezember waren gerade einmal etwas mehr als zwei Wochen vergangen, die aber hatten es in sich: Nachdem das Trio die Auflösung der Sowjetunion als - Zitat - "bereits erfolgt" festgestellt und sich zu Mitgliedern einer losen, so genannten "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" erklärt hatten, ratifizierte der Oberste Sowjet, das Parlament der RSFSR, der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, dieses Abkommen von Beloweshskaja Puschtscha bei nur sechs Gegenstimmen. Anschließend verließ die russische Delegation beide Kammern des Obersten Rates der UdSSR - womit diese Institution ihr Quorum, ihr Mindeststimmrecht, und damit ihre Entscheidungsfähigkeit verlor.
    Am Tag nach Gorbatschows Rücktrittserklärung versammelte sich auch das Oberhaus des Obersten Sowjets der Union, der sogenannte Rat der Republiken, und erklärte seinerseits die Existenz der UdSSR für beendet. Und so verschwand die atomare Supermacht Sowjetunion nach 69 Jahren so gut wie sang- und klanglos von der Weltbühne. Ganz einfach. Bissig erinnerte sich Gorbatschow noch Jahre später:
    "Die rote Fahne, sagt man, haben sie noch während meiner Fernsehansprache runtergeholt. Konnten gar nicht schnell genug raufkommen aufs Kreml-Dach. Aaah, schade, dass keiner runtergefallen ist! Wie schade, Himmel nochmal!"
    Um schließlich auch noch seinem Nachfolger eins mitzugeben: "Jelzin ist doch ein gemeiner Mensch! - Nur um mich loszuwerden, haben sie das ganze Land ans Messer geliefert, haben sich aufgeführt wie hungrige Köter."
    Putins ideologisch-propagandistische Konstruktion
    Der inzwischen verstorbene Moskauer Historiker und demokratische Politiker Jurij Afanasev war dagegen immer überzeugt:
    "So, wie die UdSSR sich damals präsentierte, hatte sie keine Zukunft und musste ihre Existenz beenden. Eine Existenz kann man allerdings auf vielerlei Art beenden: So wie hier als Zusammenbruch. Aber: Das hätte auch geordneter ablaufen können. Wenn eben nicht diese zwei Ehrgeiz-Getriebenen aufeinander gestoßen wären: Jelzin und Gorbatschow!"
    Knapp 20 Jahre nach dem Verschwinden der Sowjetunion von der Landkarte, bei einer Mitte Dezember 2011 im russischen Fernsehen live übertragenen Fragestunde, machte der heutige russische Staatspräsident Wladimir Putin klar, wie er sich damals verhalten hätte. Ohne seine beiden Amtsvorgänger namentlich zu erwähnen, rief er aus:
    "Man hätte konsequent, hartnäckig und furchtlos - ohne den Kopf in den Sand zu stecken und den Arsch raus zu recken - für die territoriale Einheit unseres Staates kämpfen müssen!"
    Der zurückgetretene russische Präsident Boris Jelzin und sein designierter Nachfolger, Ministerpräsident Wladimir Putin stehen am 31.12.1999 in Moskau nebeneinander.
    Der zurückgetretene russische Präsident Boris Jelzin (r) und sein designierter Nachfolger, Ministerpräsident Wladimir Putin (l), am 31.12.1999 in Moskau. (picture alliance / dpa / RIA Nowosti)
    Vor allem das inzwischen noch bekanntere Putin-Zitat, wonach der Zusammenbruch der UdSSR die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei, reizt viele Gegner des geheimdienst-sozialisierten russischen Staatsoberhaupts - wie zum Beispiel den jungen Moskauer Schriftsteller Sergej Lebedev. Seine Replik auf derlei populistische Nostalgieanwandlungen des Moskauer Kreml-Herren fällt ätzend aus:
    "Dieses Zitat ist verschlagen. Denn gemäß den inneren Systemregeln der Sowjetunion wäre Wladimir Putin jetzt vielleicht, wer weiß, Generalmajor oder höchstens Generalleutnant, irgendwo dort in der Verwaltung seines heimatlichen Leningrader KGB - weiter aufgestiegen wäre er aber nicht.
    Dieses Putin-Zitat ist eine ideologisch-propagandistische Konstruktion, gerichtet an jene Mehrheit der russischen Bevölkerung, die natürlich schockiert war über den Misserfolg der Reformen, die man weggeworfen hat in die Armut, und die als Folge davon angefangen hat, sich nach der Sowjetunion zurückzusehnen. - Persönlich denkt Putin nämlich ganz und gar nicht so, glaube ich. Denn im Ergebnis dieser vorgeblichen Katastrophe ist er doch erst zu dem geworden, der heute ist."