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Endlich mal erklärt
Ist die Schreibblockade nur eine Modeerscheinung?

Wer schreibt, kennt das Gefühl: Kein Wort findet aufs Papier oder in die Tastatur – schon gar nicht, wenn eine Deadline droht. Bei manchen Autoren und Autorinnen dauert eine solche Schreibblockade Jahrzehnte – und das nicht erst, seit das Internet immer mehr Text verlangt.

Von Tanya Lieske | 07.04.2020
Eine junge Frau schreibt an einer alten Reiseschreibmaschine.
Ideen im Kopf werden nicht immer gleich zu Texten - die Schreibblockade ist ein altes Phänomen (Étienne Roeder)
Joseph Mitchell (1908-1996) gehörte zu den legendären Reportern des Magazins "New Yorker". 1964 schrieb er mit dem Text "Joe Goulds Geheimnis" eine Reportage, die seinen Nachruhm sichern sollte. Danach verstummte der Lebenskünstler. Mehr als 30 Jahre ging er weiterhin beim New Yorker ein und aus, schloss jeden Tag die Tür zu seinem Büro – und schrieb keine Zeile mehr. Die Pointe an dieser traurigen Begebenheit betrifft den Inhalt der Reportage: Sie handelte von einem blockierten Künstler.
Die Symptome sind gut bekannt. Menschen, die unter einer Schreibblockade leiden – also Autorinnen und Autoren, aber auch Journalisten oder Studierende –, finden es schwer, ihr Werk zu beginnen oder zu Ende zu führen. Sie beenden ihre Karriere zu früh. Sie legen eine über Jahre oder Jahrzehnte währende Schreibpause ein – oder sie schreiben zwar, aber nicht das, worüber sie wirklich schreiben wollen.
Blockiert in der Deutschstunde
Auch wer nicht zur schreibenden Zunft gehört, hat wahrscheinlich schon mal eine Schreibblockade erfahren. Das Thema für den Aufsatz steht an der Tafel, doch es will partout kein Gedanke dazu kommen. In Siegfried Lenz' Roman "Deutschstunde" von 1968 gibt der Jugendliche Siggi Jepsen zum Thema "Die Freuden der Pflicht" ein leeres Heft ab. Siggi Jepsen ist allerdings nicht zu wenig, sondern zu viel zum Thema eingefallen, und er schreibt darüber – einen Roman.
Zu den heute anerkannten Ursachen für die Schreibblockade gehören innere und äußere Faktoren. Autorinnen nehmen sich zu viel vor, sie haben einen zu komplexen Plot entworfen, stellen zu hohe Erwartungen an sich selbst. Frühe Kritik kann sowenig zuträglich sein wie zu früh erfahrener Ruhm. Letzteres ist dem amerikanischen Autor F. Scott Fitzgerald ("The Great Gatsby") passiert, der schon im Alter von 23 Jahren berühmt war, der aber - erst 44 Jahre alt - in der Überzeugung gestorben ist, sein Lebensziel verfehlt zu haben. Zu den äußeren Umständen, die eine Blockade hervorrufen, gehören auch die Widrigkeiten des Lebens. Schreibende haben zu wenig Geld, eine mangelnde Gesundheit, oder sie haben keinen ruhigen Ort zum Schreiben.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
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Gedichte von Gott
Wahrscheinlich existieren Schreibblockaden seit Menschen versuchen, etwas zu Papier zu bringen. Erstmals formuliert aber wurde die Schreibkrise im Umkreis der Romantik. Der englische Lyriker Samuel Taylor Coleridge (1772 – 1834) verfasste seine bekanntesten Gedichte in seinen Zwanzigern. 1804, er war 32 Jahre alt, vermerkt er in seinem Tagebuch, dass er ein ganzes Jahr lang nichts zu Papier gebracht habe. Er spricht von "Kummer und Schande", von einer "unbestimmten und unbeschreiblichen Angst".
Damit war er nicht allein. Mit der Romantik kam die Vorstellung auf, dass Inspiration ein transzendentales Geschehen sei: dass ein Gedicht von Gott oder einer höheren Macht gegeben wird. Der Genie-Gedanke schließt sich an – und mit ihm die Vorstellung, dass Dichter außergewöhnlich begabte, aber eben auch tragische, leidende und manchmal verdammte menschliche Geschöpfe seien.
Blockiert sein wird chic
Der Begriff selbst, "Writer’s Block", wird dem in Österreich geborenen Psychoanalytiker Edmund Bergler (1899 – 1962) zugeschrieben, der vor den Nazis nach Amerika geflohen war. Das Wort taucht in den späten 1940er Jahren in New York auf. Begünstigt wurde die Diagnose der neuartigen Störung durch die Entdeckungen der Psychoanalyse, namentlich durch die Benennung des Unbewussten. Ihr vermehrtes Auftreten wird auch auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs zurückgeführt – sowie auf den Erwartungsdruck, den das Genre der "Great American Novel" auf die Autorinnen und Autoren der Zeit ausübte.
Seither ist das Phänomen in die Mitte der Gesellschaft gerückt – und es ist über den Atlantik gesprungen. Ab den 1950er-Jahren musste sich kein Autor mehr genieren, wenn er oder sie nichts zustande brachte: Die Kehrseite des Genies war eben die Blockade. Als allseits anerkannte Medizin gegen das Versiegen der inneren Quelle galt übrigens der Alkohol. Mit William Faulkners Diktum, dass er zum Schreiben Papier, Tabak und Whiskey brauche, wird heute noch Werbung gemacht. Am Beispiel Ernest Hemingways lässt sich gut nachvollziehen, wie aus einem trinkenden Autor ein Mythos werden kann.
Prozac und Ritalin
Inzwischen muss niemand mehr trinken, um die Blockade zu beheben. Denn die Forschung über Ursachen des "Writer’s Block" ist sehr weit gediehen. Neben den Wirkungen des Unbewussten diskutiert die Wissenschaft das Zusammenspiel der analytischen linken und der kreativen rechten Hirnhälfte, des limbischen Systems mit dem äußeren Kortex. Und auch die Therapie hat sich differenziert. Ganz vorne steht immer noch das Gespräch mit dem blockierten Künstler. Einige Ärzte verschreiben ihren Klienten Medikamente wie Prozac und Ritalin, andere setzen auf Sport und Achtsamkeit.
Noch nicht untersucht ist die Heilkraft des Humors. Auch dafür gibt es im Englischen einige Beispiele, begünstigt durch die Mehrfachbedeutung des Wortes "Block". Jenes Stadtviertel in Edinburgh, in dem schon J.K. Rowling, Ian Ranking und Alexander McCall Smith wohnten, heißt im Volksmund "Writer’s Block". Und der (vielschreibende) Brite Anthony Burgess meinte einmal mit Seitenblick auf seine vermeintlich neurotischen amerikanischen Kollegen: "Wenn ich einen Block haben will, gehe ich zu einem Schreibwarenladen."