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Endlich mal erklärt
Ist Jean-Luc Godard der weltbeste Regisseur?

Er hat die Nouvelle Vague und das moderne Kino miterfunden und Meisterwerke wie "Außer Atem" gedreht. Seine Bildsprache war revolutionär und seine Gesellschaftskritik oft radikal. Er wird verehrt wie kaum ein anderer Regisseur. Ist Jean-Luc Godard der weltbeste Regisseur?

Von Rüdiger Suchsland | 29.11.2020
Jean-Luc Godard im Februar 1985 bei den Filmfestspielen in Berlin.
Jean-Luc Godard im Februar 1985 bei den Filmfestspielen in Berlin (imago images / teutopress)
Was macht eigentlich einen sehr guten Filmregisseur aus, was muss man haben, um zu den Besten zu gehören? Können schadet jedenfalls nicht, Vielseitigkeit hilft, Erfolg führt zur Aufmerksamkeit. Noch entscheidender aber ist die Fähigkeit zur Innovation, zur Erneuerung des Mediums. Schließlich ist Virtuosität ganz elementar, also eine gewisse Eleganz und ein spielerisches Verhältnis zu den Mitteln. Bestenlisten sind immer etwas Schwieriges - aber all diese Fähigkeiten zusammengenommen besitzt kaum ein zweiter Regisseur so wie der Franzose und Schweizer Jean-Luc Godard.
Am kommenden Donnerstag wird Godard 90 Jahre alt - ein biblisches Alter für einen, der Zeit seines Lebens und Schaffens ein Apostat und Altarzertrümmerer geblieben ist. Nach wie vor macht Godard sehr wache zeitgenössische Filme - erst 2018 feierte sein letztes Werk "Le Livre d'Image" (Das Buch des Bildes) bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere. Godard hat wie nur ganz wenige auch die Fähigkeit, das, was er tut, seinem Publikum zu kommunizieren, es auszudrücken, und zu vermitteln. Dazu kommt: Wenn Jean-Luc Godard will, kann er sehr viel Charme haben und sehr gewinnend sein.
Die Realität der jungen Generation war plötzlich filmreif
Godard hat das Kino gleich mehrfach revolutioniert. Ende der 50er Jahre wurde er mit einigen meist gleichaltrigen Mitstreitern zum Begründer der Nouvelle Vague, der "Neuen Welle" Frankreichs, die noch mehr als gleichzeitige Aufbruchsbewegungen in anderen Ländern und die italienischen Neorealisten 15 Jahre zuvor zu einem zweiten Gründungsakt des Kinos wurde. Jetzt erst unterschied sich das Kino Europas von Hollywood. Godard gelang das, in dem er den Begriff des Autorenfilms, der in Theorie von der französischen Filmkritik schon vorher formuliert worden war, wörtlich nahm und in die Praxis übersetzte und für die neuen technischen Möglichkeiten fruchtbar machte: Raus aus den Studios und einfach mit Freunden Filme machen.
Auf einmal waren Filme nicht mehr nur die Fortsetzung des Theaters, der Literatur oder großer Historienschinken mit anderen Mitteln - sondern sie handelten unmittelbar von der konkreten Realität der jungen Generation der Nachkriegszeit. Von ihren Sorgen, aber vor allem von ihren Träumen und Begierden, ihrer Mode und ihrer Musik. "Die Kinder von Marx und Coca-Cola" heißt einer der Filme Godards, der auch einen Dokumentarfilm über die "Rolling Stones" gedreht hat. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der Jugend, der Kulturrevolution - und das Kino der Nouvelle Vague war ein Teil von all dem.
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Ein selbstkritischer, mit sich hadernder Filmemacher
Godard hat das natürlich nicht allein gemacht. Aber er war der "Leader of the Pack". Er war tatsächlich auch derjenige Regisseur, der die einfallsreichsten, innovativsten Mittel gebrauchte: eine völlig den Regeln widersprechende - ruckartige, sprunghafte - Montage und einen neuartigen Einsatz der Musik. Kino wurde plötzlich Teil der Pop-Kultur. Und zugleich wurde es intellektuell: Godards Themen, mit leichter Hand inszeniert, sind die Weltgeschichte, die Filmgeschichte, Philosophie, Psychologie, Soziologie. Schließlich war Godard immer schon ein sehr selbstkritischer, mit sich hadernder Filmemacher, einer, der sich mit jedem Film selber neu erfand.
Darum hat Godards über 70-jährige Karriere mindestens fünf große Phasen: Zuerst das unterhaltsame, trotzdem anspruchsvolle, von Amerika und der Pop-Kultur und dem Genrekino beeinflusste klassische Autorenkino mit Filmen wie "Außer Atem", "Die Außenseiterbande", "Die Verachtung". Dann eine Phase des politisch "revolutionären" Films, in der sich Godard der "Gruppe Dziga Vertov" anschloß und Kollektivfilme machte - in der doch er immer der Regisseur Godard blieb. Filme wie "Die fröhliche Wissenschaft". Dann die Zeit der Selbstbesinnung Mitte der Siebziger und der Rückkehr zum Erzählkino: "Rette sich wer kann, das Leben", "Vorname: Carmen", "Detective".
Revolutionär, Provokateur und unermüdlicher Anreger
Es folgte ein Jahrzehnt der historischen Reflexionen wie "Deutschland Neun Null", "Je vous salue, Sarajevo" und die monumentale "Histoire(s) du Cinema. Und schließlich in den letzten 20 Jahren vielschichtige Kinoessays und Montagefilme: "Eloge de l'Amour", "Notre Musique", "Film Socialisme", "Adieu Au Langage", "Le Live d'Image". Dazwischen probierte Godard Medien wie Video und 3-D - und bleib der Revolutionär, Provokateur und der unermüdliche Anreger, als der er begann.
Ist Godard der nun der beste lebende Regisseur? Ja, unbedingt. Wer sollte es sonst sein, wenn nicht er? Es gibt viele sehr gute Regisseure, aber keinen zweiten Godard.