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Endlich mal erklärt
Müssen Tänzerinnen und Tänzer eigentlich dünn sein?

Ob klassisch oder modern, Tanz ist an den Körperbau der Ausführenden gebunden. Die Anatomie nimmt Einfluss auf den künstlerischen Ausdruck, der Leib ist das Instrument. Bislang galt ein schmaler Körper als Ideal für den Tanz. Doch andere Körperformen öffnen neue Möglichkeiten des Ausdrucks.

Von Elisabeth Nehring | 11.04.2020
Mitglieder der Martha Graham Dance Company (USA) tanzen während einer Fotoprobe am Freitag (04.07.2008) auf der Bühne der Staatsoper in Berlin.
Das Ideal verlangt bislang von Tänzern wie hier von der Martha Graham Dance Company, leichte Figuren, doch das verändert sich langsam (picture alliance / Soeren Stache)
Ob klassischer oder zeitgenössischer Tanz, romantisches Ballett oder postmoderne Choreografien: Im Tanz ist immer der Körper das Instrument, mit dem die Tanztheaterstücke entstehen. Wie auch beim Musikinstrument gibt der Körper mit seinen Fähigkeiten die Möglichkeiten und Begrenzungen der Inszenierung vor. Daher lohnt ein Blick auf die körperlichen Voraussetzungen dieser Kunstform. Eines der auffälligsten Charakteristika ist der Körperbau von Tänzerinnen und Tänzern.
Ideal des leichten Körpers
Hebefiguren etwa verlangen einerseits Kraft, andererseits darf der oder die Gehobene nicht zu schwer sein. Müssen Tänzer und Tänzerinnen deshalb eigentlich immer dünn sein? Das Ideal des klassischen Tanzes ist noch immer der sehr schlanke, durchtrainierte, muskuläre Körper einer Tänzerin und eines Tänzers. Die hohen technischen Anforderungen sowie die typischen Bewegungssequenzen des klassischen Tanzes, die Drehungen, Lifts, Sprünge am Boden und in der Luft, erfordern ein hohes Maß an täglichem Training – und einen beweglichen, durchtrainierten, möglichst leichten Körper.
Herkömmliche, klassische Choreografien erfordern nicht nur technisch, sondern auch ästhetisch eine gewisse Einheitlichkeit der Ausführenden. Auch ästhetisch wird, vor allem im klassischen Ballett, Einheitlichkeit verlangt. Die weißen Ballett - Choreografien etwa, in denen der einzelne Tänzerinnenkörper im Muster der Gruppe aufgeht und zum Ornament wird, sie lassen keine oder nur geringe Abweichungen von der verlangten körperlichen Norm zu. Die Homogenität des ästhetischen Eindrucks hat Vorrang vor der physischen Individualität.
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Verändertes Frauenbild
Der zeitgenössische Tanz hingegen verlangt nicht zwingend technische Virtuosität, sondern neue Formen der Bewegungsfindung. Dürfen daher auch die Körper von Tänzerinnen und Tänzern anders aussehen? Beim zeitgenössischen Tanz zählt eher die Diversität der Techniken und damit seien auch die körperlichen Erscheinungen reichhaltiger. Tänzerinnen heben oder fangen ihre männlichen Kollegen, sind daher ebenso kräftig wie sie und verändern damit das Frauenbild im Tanz. Dagegen erscheinen manche männlichen Tänzerchoreografen schlacksig und nicht mit dem muskulären Körper ausgestattet, den man von Männern im Tanz erwartet. Schönheitsideale und –stereotype in der Tanzkunst werden so hinterfragt und unterlaufen; in vielen Stücken auch direkt thematisiert und kritisiert.
Mit anderen Tanztechniken können solchermaßen auch andere Themen im Tanz besser gezeigt werden. Die begrüßenswerte Entwicklung der letzten Jahre, dass immer mehr Tänzer auf der Bühne erscheinen, die weder dem klassischen noch dem zeitgenössischen Ideal entsprechen, weil sie entweder eine Behinderung oder mehr Gewicht als üblich haben, verändert fundamental die Auffassung davon, was Tanz ist und wer tanzen darf.