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Endlich mal erklärt
Sind wir heute noch alle Romantiker?

Es gibt sie, die Kunstwerke, bei deren Anblick es einem die Sprache verschlägt. Ergriffen steht man im Museum vor ihnen und staunt wegen der Wirkung von Farbe und Pinselstrich. Solche Gefühle sind ein Relikt aus der Romantik, als galt: Je heftiger die Reaktion, desto besser die Kunst.

Von Carsten Probst | 26.05.2020
Vincent van Goghs "Sonnenblumen" im Museum
Im Museum beeindruckender als im Garten - van Goghs "Sonnenblumen" (imago/ ZUMA Press/ Ray Tang)
Als Rezipienten von Kunst sind wir zu einem überwiegenden Teil noch eingefleischte Romantikerinnen und Romantiker. Das soll nicht heißen, dass mit Kunst oder Kultur zwingend große Gefühle verbunden werden. Aber es gibt eine ganze Anzahl noch immer sehr verbreiteter Erwartungen an das Erleben von Kunst (oder auch Musik oder Literatur), die dann auch die Urteile darüber bestimmen, ob etwas als gelungen, vielleicht sogar als berührend oder gar genial empfunden wird. Diese Erwartungen sind durchaus noch von einer Haltung geprägt, wie sie aus der Zeit der Romantik überliefert ist.
Geheimnis der Kunst
Beispielsweise die Erwartung des Geheimnisses der Kunst. Das kann auch etwas sehr Simples, geradezu Banales sein. Van Goghs Sonnenblumen zeigen uns zunächst etwas Vertrautes. Dessen Anblick gefällt einem in natura zwar vielleicht auch schon. Aber die Art und Weise von van Goghs Malerei entfaltet eine zusätzliche Wirkung, die man sich nicht erklären kann, vielleicht auch nicht erklären können möchte – wie ein Appell an die Aufmerksamkeit für etwas Unaussprechliches, das gleichsam die Tür zu einer anderen Wahrnehmung der Realität öffnet, die in irgendeiner Weise über uns hinausgeht.
Eine zweite Erwartung, die mit der ersten unmittelbar zu tun hat, wäre, dass die Kunst uns ganz direkt betrifft. Sie erhebt uns scheinbar in unserer Subjektivität, als wäre in unserer subjektiven Beschränktheit eine Vorahnung von einer anderen, höheren Wahrheit enthalten, mit der wir nun in Berührung kommen – sozusagen als höheres Bewusstsein von der Menschennatur. Als Subjekt der Kunst kann man sich als Teil der Welt fühlen und trägt zugleich die Welt und ihre Geschichte in sich. Scheinbar. Es gibt noch viel mehr mögliche Erwartungen, etwa die der absoluten Gegenwart, des absoluten historischen Augenblicks, der Erhabenheit, der Inspiration, der Abgeschiedenheit von der Alltagswelt und so weiter.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Dagegen könnte man einwenden, dass das heute doch das normale Verhalten von Konsumenten sei und ein Auto oder eine Lampe genauso gut solche Erwartungen befriedigen könnten. Diese (vermeintliche) Banalisierung oder Kommerzialisierung des Erhabenen und Romantischen hat die Kunst aber bereits selbst immer wieder zum Thema gemacht. In der Pop-Art, vor allem der US-amerikanischen, wurde scheinbar kein Unterschied mehr zwischen einem Kunstwerk und etwa einer Dollarnote oder einer Packung Waschmittel gemacht.
Das funktioniert als künstlerische Strategie aber nur so lange, wie man grundsätzlich annimmt, dass Kunst eigentlich doch etwas anderes ist als eine Waschmittelverpackung. Über diesen Umweg kommt dann wieder die romantische Erwartung ins Spiel, dass die Kunst eine höhere Wahrheit über die Gegenwart birgt. Pop-Art adressiert auch die Kritik an der Kommerzialisierung der Welt und wird zu einem Medium der Läuterung subjektiver Kritik an Geschichte.
Das nicht-romantische Subjekt
Es gibt aber auch eine nicht-romantische Tradition von Kunst, die nicht ganz zufällig aus Frankreich stammt, vermutlich aufgrund der erschütterten Weltauffassungen durch die Französische Revolution. Eine nicht-romantische Haltung wäre danach, das Subjektive nicht mehr als Einheit zu betrachten, auch nicht als eine Verlaufsform, die sich zum Absoluten entwickelt. Das nicht-romantische Subjekt verzichtet auf höhere Einsichten, auf höhere Mächte, auf exklusive Erkenntnis in über-menschliche Gesetze. Es versteht sich als kleiner Punkt in einem riesigen Netzwerk ohne Oben und Unten und sein Wissen als Ergebnis von Austausch und Kommunikation. Das nennen die Romantiker von heute etwas abschätzig Schwarmintelligenz.
Aber diese Haltung ist eben schon viel früher in der Kunst anzutreffen: bei Courbet, bei Flaubert, bei Manet, bei Cézanne, bei Matisse oder Duchamp. Im deutschsprachigen Bereich eher bei den Philosophen, am ehesten bei Nietzsche, bei Ernst Mach, bei der Phänomenologie, später dann bei Wittgenstein und Heidegger. Das alles hat zunächst einmal gar nichts mit einem Vorgriff auf das Internet zu tun, sondern mit der aus der Zeit der Voraufklärung schon übermittelten Einsicht, dass sich das Wissen immer weiter diversifiziert. Dass das Wissen und Erkennen von allen produziert wird und nicht von irgendwelchen herausgehobenen Künstler- oder Denkersubjekten –, so dass ich deshalb gar nicht anders kann, als das Wenige, das ich selbst weiß, zu teilen.