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Endlich mal erklärt
Warum ist ein Urinal Kunst?

Ein handelsüblicher Gegenstand in einer Ausstellung im Museum, und dann noch ein triviales Pinkelbecken aus Porzellan? Muss auch möglich sein, fand der Künstler Marcel Duchamp - und erfand vor rund 100 Jahren mit der Arbeit "Fountain" das "Readymade".

Von Carsten Probst | 30.03.2020
Links das Werk "Fountain", rechts ein Werk namens "Hummer-Telefon" von Salvador Dalí
Erleichternde Erkenntnis: Auch ein Pissoir kann große Kunst sein. (London News Pictures via ZUMA)
Eigentlich ist dieses Werk gar keine Kunst – das war auch Marcel Duchamp, dem die sogenannte „Fountain“ weithin zugeschrieben wird, seinerzeit durchaus bewusst. Es wäre auch heute kaum möglich, dass ein Urinal oder einen beliebigen anderen Alltagsgegenstand ins Museum zu tragen und es dort einfach mal eben zu „Kunst“ zu erklären.
Trotzdem wird „Fountain“ von 1917 heute weltweit in Museen als Meisterwerk ausgestellt. Vor einigen Jahren haben es 500 internationale Kunstexpertinnen und -experten sogar als einflussreichstes Kunstwerk des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Und das liegt an den Umständen seiner Entstehung und ersten Präsentation.
Der Franzose Duchamp, der eigentlich Malerei gelernt hatte, war 1916 Gründungsmitglied der Künstlervereinigung „Society of Independent Artists“ in New York geworden. Für deren Jahresausstellung, die sogenannte "Big Show" mit über 2.000 Werken von mehr als 1.200 Künstlerinnen und Künstlern, reichte er ein Jahr später eben jenes „Fountain“ genannte Urinal ein. Der 30-Jährige hatte das Porzellanbecken einfach um 90 Grad gekippt und mit der Signatur „R. Mutt“ versehen.
"Alltagsgegenstände können keine Kunst sein"
Diese New Yorker Jahresausstellung hatte den Anspruch, jedes Werk der Mitglieder „frei und unzensiert“ auszustellen - darunter auch Arbeiten von Brancusi oder Picasso. Das Urinal aber sprengte dann doch sehr nachhaltig den bewusst offenen Rahmen. Niemand kannte auch einen Künstler namens "R. Mutt". Die Jury wies das Werk letztlich mit der erwartbaren Begründung zurück, Alltagsgegenstände könnten nicht Kunst sein. Wahrscheinlich wurde das heute legendäre Original-Urinal daraufhin einfach auf den Müll geworfen.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Endlich mal erklärt: Ein Blick hinter die Profisprache der Kunst
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Heute gibt es noch einige von Duchamp hergestellte Duplikate. Dass das Original weltberühmt wurde, ist vor allem der Geschichte seiner provozierten Ablehnung zu verdanken. Denn gerade über sie wurde im Umfeld der Ausstellung mehr diskutiert als über jedes andere Werk, das dort zu sehen war: Nicht über das Urinal selbst, sondern dass es eben den Blick auf die „Nicht-Kunst“ lenkte - beziehungsweise darauf, was in einer jeweiligen Epoche eigentlich unter Kunst verstanden, warum das eine akzeptiert und das andere aussortiert wird. Duchamp stellte mit seiner Aktion nicht mehr und nicht weniger als die bis heute ungeklärte Frage: Was ist Kunst?
Die altbekannte Phrase: „Schönheit entsteht im Auge des Betrachters“ erhielt durch die Readymades eine ganz neue Bedeutung: Kunst entsteht unabhängig von den Werken. Sie ist einzig und allein von den Vorstellungen und Erwartungen abhängig, die wir an Kunst haben und die nie statisch und für alle Zeiten gültig sind.
Kanon und Konvention
Jede und Jeder kann das durch einen kleinen Selbstversuch nachprüfen, wenn die Museen wieder geöffnet haben werden: Man denkt sich bei den ausgestellten Werken einfach die Hinweise von Name, Titel, Jahreszahl weg. Handelt es sich um bekannte Bilder, wird man sich eine Weile noch sicher fühlen mit dem eigenen Kunstempfinden.
Doch je mehr unbekannte Werke zu sehen sind, für deren Einschätzung spezielles Wissen nötig ist, desto unsicherer wäre auch das Urteil, warum dies oder das in den Kanon gehören soll - und etwas anderes nicht. Niemand kann das allein entscheiden. Der Kunst-Kanon ist ein riesiger, lange andauernder Diskussionsprozess, der auch nie abgeschlossen ist. Und weil Duchamps „Fountain“ seinerzeit so provokativ darauf hingewiesen hat, dass Kunst nicht vom Himmel fällt, sondern ständig neu „gemacht“ wird, hat es später auch seinen großen Einfluss gehabt - vor allem auf die Kunst der 1950er- bis 1970er-Jahre. Es würde allerdings wenig Sinn haben, eine solche Geste heute beliebig zu wiederholen; denn dadurch würde ein solches Werk zu dem, was es im Grunde bekämpfen wollte: zur Konvention.