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Endlich mal erklärt
Warum ist gute Literatur oft so kompliziert?

Das Einfache und Offensichtliche erweitert selten den Horizont - das ist in der Literatur nicht anders als im Leben. Interessant, manchmal sogar beglückend werden Texte oft erst, wenn sie hinter das Wirkliche schauen. Ihre Lektüre erfordert aber Übung.

Von Maike Albath | 21.04.2020
Eine Bücherwand mit Bücherrücken
Welten zwischen Buchdeckeln: Sie zu erobern, verlangt Offenheit und Bereitschaft (imago images / imagebroker)
Was, um Himmels willen, ist eigentlich ein "Odradek"? Tja. Frank Kafka widmet diesem "Wesen", wie er es nennt, eine Erzählung, die kaum länger als eine Seite ist. Der Titel lautet "Die Sorge des Hausvaters", und die kurze Geschichte kreist um diesen Odradek: ein Geschöpf, das einer Zwirnspule ähnelt, sich an wechselnden Orten im Haus herumtreibt, manchmal verschwindet, manchmal spricht, dann aber lange stumm bleibt – und womöglich alle überleben wird.
Diese kurze Erzählung ist ein glänzendes Beispiel für die Schönheit des Komplizierten. Der Satzbau ist übersichtlich und wohl geordnet, die Sprache nicht sonderlich komplex. Und dennoch gerät etwas in Bewegung, wird die Welt, wie wir sie kennen, auf den Kopf gestellt. In genau dieser Erfahrung verbirgt sich die Antwort auf die Frage: Gute Literatur besitzt immer mehrere Ebenen und erzeugt Ambivalenzen. Erst wenn sich Bedeutungen nicht auf den ersten Blick erschließen und zu flimmern beginnen, wird es interessant.
Lesen ist auch eine Frage von Übung
Für viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller muss man ein Ohr entwickeln, sich einlassen auf ihre Bildwelten und Sprachspiele, ihr Werk kennen. Ob Franz Kafka oder Robert Musil, ob Virginia Woolf, Carlo Emilio Gadda, Juan Carlos Onetti, Brigitte Kronauer, Roberto Bolaño oder Lutz Seiler: Alle greifen bestimmte Traditionslinien auf und entwickeln erzählerische Formen, die ihren Stoffen entsprechen. Genau wie in der Musik braucht auch eine Leserin oder ein Leser Repertoirekenntnisse und muss mit dem Reichtum der eigenen Sprache vertraut sein.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Lesen ist auch eine Frage von Übung. Gute Literatur kann äußerst zugänglich sein. Man kann mit Krimis von Patricia Highsmith einsteigen oder mit den surrealen Geschichten eines Wilhelm Genazino. Man kann weiter zurückgehen und in die großen Panoramen Theodor Fontanes oder Alessandro Manzonis eintauchen, die auf verblüffende Weise zeitlos sind. Oder man versucht es mit den zupackenden Romanen des Amerikaners Philip Roth. Wer viel liest, gewinnt nach und nach ein immer größeres Gespür für abgegriffene Redeweisen und Figuren, die allzu banal und flach wirken. Dann entfaltet das Komplizierte - wie für geübte Weinkenner, die jede Nuance eines Weines zu entschlüsseln wissen und sogar den Boden eines Weinstocks erkennen, - einen besonderen Reiz. Es überrascht, verblüfft und ist unerschöpflich.