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Endlich mal erklärt
Was zeichnet einen guten Tanzdirektor aus?

Die Tanzsparte ist im Theater alles andere als eine Hilfskunst. An ihrer Spitze steht nur noch selten jemand, der ausschließlich choreographiert. Vielmehr ist die Aufgabe von modernen Tanzdirektoren, sich um weitaus mehr zu kümmern: Spielplan entwerfen, Gastspiele organisieren, Tänzer einstellen.

Von Wiebke Hüster | 08.11.2020
Kuratorin Bettina Wagner-Bergelt verwaltet das Erbe der Choreographin Pina Bausch am Tanztheater Wuppertal
Kuratorin Bettina Wagner-Bergelt verwaltet das Erbe der Choreographin Pina Bausch am Tanztheater Wuppertal (Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa)
Ein Tanzensemble, Tanztheaterensemble oder eine Ballettcompagnie zu leiten, ist eine unglaubliche Herausforderung. Je nach Größe und Ausstattung des Theaters liegen die Schwerpunkte der Arbeit woanders. In Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten – vor allem durch die großen Erfolge des Regietheaters und des Tanztheaters – an kleineren und mittleren Häusern die Idee durchgesetzt, dass Tanzdirektoren Autoren sein müssen. Deren wichtigste Aufgabe ist das Erarbeiten neuer eigener Tanzstücke mit ihrem Ensemble.
Pflege des Repertoires
Dahinter steht eine Theaterauffassung von Intendanten, die das Neue priorisiert, die gesellschaftlichen Bezüge wichtig findet, und die Aufgaben des Theaters unter das Primat der gesellschaftspolitischen Aktualität stellt. Das vernachlässigt die Besonderheiten der Sparte Tanz. Hier gibt es Werke, deren Text und Inszenierung eine schwer trennbare Einheit bilden, etwa bei den Klassikern des neunzehnten Jahrhunderts. Opern und Dramen können durch Inszenierungen aktuelle Bezüge bekommen. Das gilt nicht für Tschaikowskys "Serenade" von George Balanchine 1935, oder Frederick Ashtons "Monotones" von 1965. Daher halten Intendanten häufig die Vermittlung des Repertoires nicht für die Aufgabe ihrer Tanzsparte und engagieren Choreographen, die bevorzugt eigene Werke aufführen. Das Problem bei diesem Modell ist die Monotonie des Spielplans.
Im Vergleich mit den anderen Sparten an den Stadttheatern, Landestheatern und Staatstheatern wird schnell deutlich, dass die Gefahr künstlerischer Erschöpfung droht. Oder wann hätte man davon gehört, dass jemand Elfriede Jelinek angetragen hätte, Schauspieldirektorin zu werden, die Schauspieler selbst zu trainieren, jedes Jahr mindestens ein neues Stück zu schreiben, und diese Stücke immer selbst zu inszenieren? Eben. Das klingt absurd. Im Tanz aber wird das an vielen deutschen Theatern noch so organisiert.
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Der Tanzdirektor als Kurator
Mit dem Schwinden der ästhetischen Vormachtstellung des Genres Tanztheater ist an einigen Theatern ein neuer Typus Tanzdirektor angetreten: Der Kurator. Hierbei handelt es sich um eine Mischung zwischen Dramaturg und Produzent. Der Nachteil ist die erratische Entwicklung eines Ensembles, das einen Gastdozenten und Gastchoreographen nach dem anderen im Saal stehen hat und eine Art Fließbandarbeiterschaft des Tanzes bildet. Eine stilistische Einheit des Ensembles herzustellen ist so fast unmöglich. Das ist aber wie bei Orchestern ausgesprochen wichtig. Als jüngstes neues Modell gibt es den Produzenten-Tanzdirektor, der über kein eigenes Ensemble verfügt, sondern nur ein Gastspielprogramm veranstaltet. Das ist die rücksichtsloseste Form des Sparens auf Kosten des Tanzes, die Städte und Theater praktizieren können. Diese Praxis ist der Tatsache geschuldet, dass Intendanten an Dreispartenhäusern nicht ausdrücklich vertraglich an ihre Pflichten zum Erhalt und zur Förderung des Tanzes gebunden werden. Also wird gekürzt in der Sparte, in der sich Intendanten oftmals am wenigsten auskennen.
Das Erbe verwalten
Derzeit bildet sich ein Generationenwechsel ab. Was bei John Neumeier in Hamburg noch bevorsteht, ist in Stuttgart oder Wuppertal schon längst Wirklichkeit geworden: Häuser, an denen berühmte Choreographen ein Repertoire aus ihren Stücken geschaffen haben, überlassen die Tanzsparte dann nach ihnen deren künstlerischen Nachfolgern zur Erbeverwaltung. In New York ist George Balanchines "New York City Ballet" in diesem Jahr an die zweite Generation von Nachfolgern übergegangen.
Was im neunzehnten Jahrhundert mit Marius Petipa in St. Petersburg oder Auguste Bournonville in Kopenhagen so herausragende künstlerische Ergebnisse zeitigte, kann nicht das Modell des einundzwanzigsten Jahrhunderts sein. Die großen Compagnien erleben zunehmend, dass ihre Hauschoreographen die Position des Artist in Residence der des Ballettdirektors vorziehen. Achtzig oder hundert Tänzer glücklich machen zu müssen, ist eben auch ein enormer Druck. Das Repertoire ist immens gewachsen, eine kluge Spielplanpolitik eine intellektuelle Herausforderung.
Welche Tanzgeschichte wollen wir?
Man muss also in Zukunft der Tatsache gerecht werden, dass die großen Ensembles an den Häusern in den Metropolen kaum mehr von Choreographen geleitet werden. Die drängendsten Fragen unabhängig von Größe und Zuschnitt der Compagnien sind diese: Welches Bild der Tanzgeschichte möchte man zeichnen, welche Choreographen kann man gewinnen, welche Tanztechniken des zwanzigsten Jahrhunderts sind zukunftsweisend? Welches Repertoire ist erhaltenswert, wie diskutiert man den Kanon? Wie macht man den Beruf des Choreographen zugänglich und attraktiv, wie garantiert man, dass Tänzer sich zu Choreographen entwickeln können? Das sind die Aufgaben des Tanzdirektors der Gegenwart. Sie sind nicht eben einfach.