Archiv


Engagement statt Isolation

Rainer Bertolt Schossig: Heute finden im bevölkerungsreichsten Bundesland der Republik, in Nordrhein-Westfalen, Kommunalwahlen statt. Scharf tobte der Wahlkampf, von Häuserkampf war gar die Rede und dabei rückten auch Minderheiten wie Migranten und andere Randgruppen als potenzielle Wähler ins Visier der Parteien. Außerdem beginnt heute wieder einmal die interkulturelle Woche der ausländischen Mitbürger, die sich für den Abbau von Vorurteilen gegen Fremde einsetzt. Anlass zu fragen an einen, der sowohl fremd als auch heimisch ist. Er gehört zur zweiten türkischen Generation in Deutschland. Er wohnt in Neuss, ist mittlerweile deutscher Staatsbürger - Serdar Somuncu, Schauspieler, Musiker und Kabarettist. Herr Somuncu, Sie sind nun wahlberechtigt, vor allem aber sind Sie auf sehr unterschiedlichen Ebenen aktiv. Sie nutzen also die bizarren Möglichkeiten künstlerischen Engagements. Aber wie sieht es eigentlich mit der politischen Teilhabe für ganz einfache, ganz durchschnittliche Fremde hier aus?

    Serdar Somuncu: Das ist eine Frage der Perspektive, aber ich glaube, viele Landsleute oder ehemalige Landsleute - ich bin jetzt ja nur noch Deutscher, eher gegen meinen Willen übrigens, weil ich einfach nicht zum Wehrdienst wollte in der Türkei und deswegen gar keine Alternative gesehen habe - sind gar nicht so politisch wie ich das gerne hätte, und dass der Begriff "Mitbestimmung" in den Köpfen nicht nur meiner ehemaligen Landsleute, sondern auch meiner neuen Landsleute im Entferntesten eine Rolle spielt. Da muss man große Aufklärungsarbeit leisten, allein schon um zu erklären, was es bedeutet, eine Stimme abzugeben und welche enorme Bedeutung es haben kann, in einem politischen System seine Meinung zu definieren und diese auch zu äußern.

    Schossig: Das wäre ein klassisches Beispiel dafür, wie man tätig werden kann, sozusagen aufklärend, politisch begleitend, auch das natürlich wieder eine Aufgabe von Minderheiten.

    Somuncu: Na ja, die visionären Kräfte gehen ja meistens von Minderheiten aus. Diejenigen, die davon profitieren, sind im Nachfolgenden ja sogar oft die, die den Mut nicht gehabt haben, Pionierarbeit zu leisten. Das sieht man ja daran, dass diejenigen, die damals dafür gesorgt haben aus der DDR zu flüchten oder mehr Menschenrechte zu bekommen, mehr Freiheiten zu bekommen, heute immer noch in der Opposition sitzen, während diejenigen, die am meisten davon profitieren, diejenigen gewesen sind gleichzeitig, die den Mut nicht gehabt haben, auf die Barrikaden zugehen, wenn ich das so vereinfacht sagen kann.

    Schossig: Sie haben sich der Problematik von Obdachlosen gewidmet, Sie haben sich mit dem deutschen Mauerfall beschäftigt, vor einigen Jahren sind Sie mit einer Lesung von Adolf Hitlers "Mein Kampf" durchs Land getourt. Es ging Ihnen dabei um eine künstlerische Auseinandersetzung aber natürlich auch um eine politische.

    Somuncu: Das natürlich, beides schließt sich ja nicht aus. Ich halte meinen Blick übrigens für sehr geradlinig, der richtet sich in der Regel eigentlich immer auf das, was jenseits des Konformen, jenseits des Mainstream, stattfindet. Und während die großen subventionierten Bühnen dieser Republik oder auch die großen Kulturbetriebe eben das wieder aufgreifen, was man zum größten Teil auch im kommerziellen Bereich wieder findet, sehe ich meine "notgedrungene" Aufgabe darin, eben auch diese Themen zu bedienen, die vielleicht nicht so viele Leute im ersten Augenblick erreichen.

    Schossig: Aber warum zieht es Sie als Ausländer gerade zu so neuralgischen, heiklen Punkten hin, gerade der deutschen Geschichte?

    Somuncu: Erstens, weil ich mich gar nicht als Ausländer betrachte, sondern als Teilnehmer an dieser gesellschaftlichen Existenz, egal welchen Ausweis ich nun in der Tasche habe, und das mit großer Verantwortung und zweitens weil ich finde, dass die deutsche Geschichte eine sehr interessante Geschichte ist, eine sehr vielschichtige und auch mit sehr vielen Vorurteilen, Ängsten, aber auch mit Überheblichkeiten belastete Geschichte ist. Das ist ein ideales Betätigungsfeld für jemanden, der Kunst macht.

    Schossig: Muss man dabei auch Rücksicht auf die zarten deutschen Seelen nehmen?

    Somuncu: Ja, natürlich. Die deutsche Seele ist in der Tat sehr zart, aber manchmal auch sehr hart. Das scheint der eine Buchstabe zu sein, der das ausmacht. Aber da muss man schon Rücksicht darauf nehmen. Sie können kein Projekt über Adolf Hitler machen, wenn Sie nicht ihre Absicht deutlich machen. Sie können keine Position beziehen, wenn Sie nicht die Vielschichtigkeit Ihrer Auseinandersetzung gleichzeitig deutlich machen. Deshalb sehe ich auch große Unterschiede zwischen mir und beispielsweise aktuellen Produkten, "Der Untergang" von Bernd Eichinger oder viele andere auch, die eben auf eine bestimmte Klientel, auf eine geeignete Zeit setzten aber dabei meiner Meinung nach die Differenzierung und auch die Vielschichtigkeit der Auseinandersetzung außer acht lassen, sehr oft leider.

    Schossig: Sie haben sich gerade kürzlich über den Wahlerfolg der NPD in Sachsen relativ deutlich kritisch geäußert. Sie haben gesagt, die Devise "Nie wieder Faschismus" sei in Deutschland in Vergessenheit geraten. Andererseits stellen Sie aber auch fest, dass es sich dabei doch vor allem um Proteststimmen handelt, also nicht um ein echtes NS-Potential. Oder wie sehen Sie das?

    Somuncu: Das sind zwei unterschiedliche Fragen. Ich finde es reichlich opportunistisch, wenn man auf das Gewissen der Menschen spekuliert und ihnen sagt: "Passt auf, wir verlieren unsere wirtschaftliche Attraktivität und deswegen wollen wir gegen Rechts sein." Wir wollen ja aus anderen Gründen hoffentlich gegen Rechts sein, deswegen habe ich gesagt, diese Devise "Nie wieder Faschismus" nicht nur, aber vor allem auch in Deutschland, müsste eine Maxime sein, die uns noch einige Jahre begleitet und so schnell nicht aufgegeben wird. Das andere ist, ich glaube sogar, ehrlich gesagt, dass es zu wenig waren, die wirklich ehrlich NPD gewählt haben. Also zu wenig natürlich nicht qualitativ, sondern ich glaube einfach, es gibt viel mehr Potential, das sich jetzt erst in dieser besonderen Situation zeigt. Und je mehr diese Konflikte, die ja realistische Konflikte sind - man kann ja nicht erwarten, dass so eine Wiedervereinigung in zwölf Jahren abgeschlossen ist und jeder zufrieden sein kann - je mehr diese Konflikte schwelen, je mehr sie auch an die Seite gedrückt werden und so getan wird, als wäre alles gleich, umso mehr werden diese Stimmen auch raus kommen. Ich glaube, dass sie noch nicht mal mit zehn Prozent abgegolten sind, ich glaube, dass sie irgendwo zwischen 15 und 20 Prozent, ähnlich wie vielleicht sogar die Front National, in bestimmten Regionen weit darüber liegen werden.

    Schossig: Wie optimistisch sind Sie in diesem Zusammenhang? Das ist ja so, im Elbsandsteingebirge gibt es kaum Ausländer, im Elbsandsteingebirge ist auch die Arbeitslosigkeit nicht besonders hoch und trotzdem ist das dort so weit verbreitet. Ist es nicht so, je mehr wir in Deutschland mit Ausländern und ausländischen Menschen, die hier arbeiten, die hier tätig sind, konfrontiert sind, umso geringer müsste doch eigentlich unsere Ausländerfeindlichkeit werden?

    Somuncu: Ja, das ist so ein Phänomen, über das ich auch schon lange nachdenke. Meistens ist es ja so, dass dort wo - wie Sie richtig sagen - die wenigsten Ausländer leben, die höchste Ausländerfeindlichkeitsquote existiert. Aber ich glaube, dass das zentrale Thema ohnehin, auch der NPD, nicht die Ausländerfeindlichkeit eine Frage ist, sondern dass das nur eine Kanalisation vieler anderer Dinge ist und diese Urängste vielleicht sogar der Menschen, die gerade wegen der mangelnden Ausländer nicht wissen, was auf sie zukäme, wenn dort fremde Menschen hinkämen, ausgenutzt werden können. Ich würde aber davor warnen, so eine politische Landkarte zu zeichnen, auf der der Osten immer am schwärzesten oder am braunsten da steht und im Westen die ganz weißen Rechten sich verteilt hätten. Es ist so - also ich habe in Deutschland jetzt sehr viele Städte gesehen -, dass das durchaus unberechenbar ist. Sie können auch nicht immer auf den Punkt genau sagen, ob nun Solingen schlimmer ist als Ingolstadt oder Schwedt schlimmer ist als Bremen. Fakt ist, die Wahlergebnisse der rechten Parteien sind in Baden-Württemberg oder in Bremerhaven und in vielen anderen Bundesländern genauso erschreckend gewesen. Nun kommt aber hinzu, dass die ganze Aufregung um Hartz IV und natürlich auch der Fokus, der dann auf den Osten geworfen worden war nach dem Motto, was macht der Osten jetzt, nachdem der Westen versucht, sich von ihm abzusetzen, besonders extrem war und man vielleicht auch im Rahmen des Extremen dieses Wahlergebnis nimmt und sagt: "Seht ihr, aus dieser Diskussion, die so undifferenziert geführt wurde, entstehen vielleicht sogar diese Kräfte." Das halte ich allerdings für Augenwischerei, ich glaube, rechte Parteien gab es schon lange vorher, im Übrigen ist der Stimmenanteil der linken Parteien im Osten wesentlich höher als im Westen und das Problem des Erstarken des rechten Randes ist nicht neu. Die NPD gibt es seit 40 Jahren. Ich bitte Sie, also das ist ein sehr bekanntes Problem, und dass wir etwas dagegen tun müssen - und nicht nur heute als Reaktion auf eine Sachsen-Wahl - das ist auch zwangsläufig. Also was ist daran spektakulär?

    Schossig: Zum Schluss noch mal konkret zurück zu Ihnen. Sie sind Kabarettist, Sie sind Musiker, Sie treten im Kulturbereich auf, fühlen Sie sich manchmal bedroht?

    Somuncu: Nein, überhaupt nicht. Das ist ja eine Frage der persönlichen Empfindlichkeit und ich bin da nicht so empfindlich, dass ich mich bedroht fühlen müsste. Im Gegenteil, ich habe so viele positive Erfahrungen gemacht, auch mit vermeintlichen Nazis, die sich dafür sogar bedanken, dass man sich mit ihrer Ideologie auseinander setzt, dass ich auch da ein sehr realistisches Bild habe.

    Schossig: Engagement statt Isolation - der türkische Schauspieler, Musiker und Kabarettist Serdar Somuncu über Möglichkeiten politischer und kultureller Teilhabe von Migranten hier in Deutschland.