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Entlarvende Hexenjagd

Thomas Vinterberg gilt als Mitbegründer der filmästhetisch strengen Dogma-Bewegung. In "Die Jagd" erzählt der dänische Regisseur von einem Verbrechen, das nie stattgefunden hat und einer Dorfgemeinschaft, die die Wahrheit gepachtet zu haben glaubt und damit selbst schuldig wird.

Von Josef Schnelle | 28.03.2013
    "Ein Kind hat mir etwas erzählt, Lucas. Das muss ich hier einfach ansprechen. Ich weiß, dass dieses Kind eine lebhafte Fantasie hat, aber ich wollte das trotzdem mit dir besprechen." – "Natürlich. Um wen geht es denn?" - "Das sag ich dir nicht. Es sagt, dass da was zwischen euch war, das normalerweise nur Erwachsene machen." – "Was denn, was soll denn vorgefallen sein?" – "Das Kind, er oder sie sagt, naja. Er oder sie hätte dein Geschlechtsteil gesehen."

    Lucas ist Kindergärtner in der dänischen Provinz. Seinen Lehrerjob hat er verloren, weil die Schule zugemacht wurde. Seine Frau hat ihn verlassen und so lebt er mit Hund und Besuchsrecht für seinen halbwüchsigen Sohn in einem viel zu großen Haus. Er hat einen Job am Kindergarten angenommen. Die Kinder lieben ihn, manche vielleicht zu sehr. Einmal verhält er sich ablehnend gegenüber der kleinen Klara, die ihm Geschenke in die Jacke schmuggelt und ihn anhimmelt, wie nur ein Kindergartenkind das tun kann. So geht das los, und bald steht ein schrecklicher Verdacht im Raum. Es gilt das beste Gerücht. Und jeder meint, die Wahrheit gepachtet zu haben. Eine Hexenjagd beginnt. Bald werden Lucas und sein Sohn Marcus, der manchmal bei ihm ist, im Tante-Emma-Laden nicht mehr bedient.

    "Hi Marcus. Kommt dein Vater heut nicht." – "Nein." – "Bestell ihm was, wenn's recht ist. Er soll hier ja nicht mehr herkommen und dich soll er auch nicht mehr herschicken."

    Thomas Vinterberg, neben Lars von Trier der Mitbegründer der filmästhetisch strengen Dogma-Bewegung, beschäftigt sich anders als in seinem Filmdebüt 1998 "Das Fest", das monströse Familiengeheimnisse aus der Vergangenheit enthüllte, diesmal mit einem "falschen" Verdacht und damit, was der in einer politisch-korrekten Gesellschaft auslöst. Keinen Moment zweifeln wir, die Zuschauer, an der Redlichkeit der Hauptfigur. Das liegt vor allen an dem dänischen Großschauspieler Mads Mikkelsen. Er strahlt Härte aus und zugleich unglaubliche Zärtlichkeit. Wenn es darauf ankommt, kann er Killer, Mafia-Boss und Bösewicht in einem Bond-Film sein. Aber er ist auch fragil und zerbrechlich. Ein Mann für alle Fälle, der diesen Film mühelos trägt. Diesmal ist er der netteste aller netten Nachbarn von nebenan. Und ein tadelloser, begnadeter Erzieher, den man seinem Kind wünscht. Doch die Verleumdungsmaschine ist schon in Schwung gekommen. Als die kleine Klara sie doch noch stoppen will, hört ihr schon keiner mehr zu.

    "Seid ihr vielleicht sauer auf Lucas. Er hat nix getan. Ich hab' bloß was ganz Dummes erzählt. Und alle sprechen jetzt im Kindergarten darüber. Die sagen alles Mögliche."

    Thomas Vinterberg ist seit "Das Fest" nie mehr so authentisch gewesen. Diesmal hat er nur die Perspektive gewechselt. Er schildert eine bigotte, selbstgerechte Gesellschaft chronischer Gutmenschen, die stets sicher sind, die Zeichen der Welt und auch der Kinderwahrnehmung richtig zu deuten. In dieser Welt des falschen Tugendterrors ist Lucas verloren. Er lebt sowieso anders, nicht angepasst, als Außenseiter.

    Vinterberg entwickelt Mads Mikkelsen zum Gegenbild des im Verborgenen schuldigen Vaters in "Das Fest", dem bei seinem sechzigsten Geburtstag die Lebenslügen um die Ohren flogen. Diesmal geht es nicht um Familie, sondern um Gesellschaft, weswegen der Film auch "Die Jagd" heißt, weil er die Jagd des bürgerlichen Mittelmaßes auf das Abweichende beschreibt. Lucas wähnte sich mitten in der Gemeinde, die Eltern der kleinen Klara sind seine Freunde, die mehr mit ihrer Beziehung beschäftigt sind als mit ihrer Tochter. Deswegen sucht sie seine Nähe. Und so hat Lucas seinen großen Auftritt in der Kirche, in der sich die ganze Dorfgemeinschaft versammelt hat.

    Die dramatischen Ereignisse spitzen sich zu in dieser Studie über Unaufrichtigkeit und Bigotterie. Lucas, ebenso verletzt vom Inhalt der Verdächtigungen wie von der Perfektion der Ausgrenzungstechniken rastet aus und macht sich dadurch erst recht unmöglich. So schreit doch nur einer, der sich schuldig fühlt. Kann man so zurückkehren in die Mitte der Gesellschaft?

    "Willst du mir was sagen?" – "Was soll das, spinnst du?" – "Willst du mir was sagen?" – "Hör auf Lucas, komm wieder runter." – "Alle Mann sind da. Das gesamte Dorf ist da. Sag es." – "Beruhige dich." – "Du Psychopath." – "Lucas!"