Heinlein: Herr Vogel, entspricht der Verlauf der Verhandlungen noch dem Ernst der Sache, um die es bei den Gesprächen eigentlich geht?
Vogel: Es fällt sehr schwer, diese Frage zu bejahen, und man muss sie im Grunde verneinen. Gott sei Dank - und dafür hat sich offenbar Graf Lambsdorff stark gemacht - ist ein Stichtag vereinbart worden, so dass die Verzögerung nicht bedeutet, dass diejenigen, die inzwischen sterben, die Leistungen der Wirtschaft geringer machen. Wissen Sie, der entscheidende Gesichtspunkt ist doch der, dass damals in einer brutalen Weise in das Leben dieser Menschen eingegriffen worden ist. Sie wurden zusammengetrieben in ihren Heimatorten, wurden nach Deutschland verbracht und haben ganz überwiegend, nicht alle, aber ganz überwiegend unter menschenunwürdigen Bedingungen schuften müssen. Jetzt geht es darum, diesen Menschen ein Zeichen zu geben, dass wir das Unrecht und das Leid, das ihnen zugefügt worden ist, erkennen und würdigen.
Heinlein: Glauben Sie, dass die deutschen Unternehmen dieses Leid und diese Schuld auch anerkennen, oder wie ist vor diesem Hintergrund die Zurückhaltung der deutschen Firmen zu werten?
Vogel: Da habe ich meine Zweifel, denn die Dinge sind ja überhaupt erst in Gang gekommen, als insbesondere in Amerika öffentlicher Druck entstanden ist. Es gab einige wenige, die schon vorher aus eigener Initiative etwas gemacht haben. Das ist nun aber schon Vergangenheit. Notwendig wäre, dass eben jetzt nicht nur die Firmen, die sich zur Stiftungsinitiative zusammengeschlossen haben, und die, die ihren möglichen Beitritt in Aussicht gestellt haben, sondern dass möglichst alle Unternehmen, in denen seinerzeit Zwangsarbeiter beschäftigt worden sind, sich beteiligen. Dann ist auch eine Summe von der Industrie in Höhe von sechs Milliarden durchaus aufzubringen, also eine Summe, die dann mit der Leistung, die die Bundesregierung dankenswerterweise erhöht hat, auf zehn Milliarden käme. Das wäre ein Betrag, wo man auch noch nicht das Wort "Würde" in den Mund nehmen kann, aber wo man sagen kann, gut, es ist doch eine deutliche Anstrengung.
Heinlein: Wenn ich Sie also richtig verstehe, halten Sie eine Summe von zehn Milliarden Mark - die haben Sie auch in der Vergangenheit schon genannt - für eine faire Lösung. Die Unternehmen allerdings sind für eine Teilung dieser Summe oder einer Summe: hälftig Bundesregierung und die Unternehmen. Nun hat gestern die Bundesregierung aufgestockt. Haben Sie denn Anzeichen, dass die deutschen Firmen, die Industrie, sich auch bewegen?
Vogel: Nein. Ich persönlich habe keine Anzeichen, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass bei ruhiger Betrachtung die Wirtschaft nun ebenfalls einen weiteren Schritt tut. Dabei appelliere ich eigentlich mehr an diejenigen Firmen, die sich bisher völlig bedeckt halten. Diejenigen die sich zur Stiftungsinitiative zusammengeschlossen haben oder die etwa 40, 45, die gesagt haben, wir wollen uns beteiligen, die haben ja schon einen Schritt getan. Diejenigen die mich eigentlich mehr bedrücken, das sind diejenigen, die mit den Achseln zucken oder wegschauen oder gar nichts tun. Da würde ich mir wünschen, dass auch der Bundesverband der Deutschen Industrie, der ja doch sonst mit sehr ultimativen Stellungnahmen auch nicht sparsam ist, auch in den eigenen Reihen mit Lebhaftigkeit sagt, nun bewegt euch. Wenn es kein anderes Motiv gibt, dann bleibt immer noch das Motiv für die, die nur alles unter materiellen Gesichtspunkten sehen, dass im Falle eines Scheiterns sich der Druck in den Vereinigten Staaten vor allem, aber auch in Osteuropa - die Polen haben erkennen lassen, dass sie durch manche Einzelheiten der jüngsten Zeit sehr verletzt sind - erhöhen wird. Ich meine, das ist nicht meine Kategorie, aber manche denken so. Es wird dann teurer werden, als wenn man sich jetzt bei zehn Milliarden einigt.
Heinlein: Stichwort Druck. Herr Vogel, welche Möglichkeiten hat denn die Bundesregierung, Druck auf die Wirtschaft auszuüben?
Vogel: Sie hat eigentlich nur die Möglichkeit zu appellieren, und ich habe den Eindruck, dass insbesondere der Bundeskanzler selber von dieser Möglichkeit Gebrauch macht. Dass er es nicht öffentlich stärker tut, dafür mag es Gründe geben, aber die Bundesregierung hat sich wirklich auf diesem Gebiet in letzter Zeit bewegt. Auch Graf Lambsdorff ist ja dafür bekannt, dass er deutlich und klar spricht. Seitdem er die Verhandlungen übernommen hat, sind die Dinge überhaupt ein ganzes Stück besser gelaufen als vorher.
Heinlein: Warum tun sich denn die deutschen Firmen so schwer mit einer Erhöhung ihres Angebotes, denn immerhin muss man sich ja in Erinnerung rufen, dass diese Firmen diese Spende, diese Milliarden-Summe dann auch steuerlich absetzen können?
Vogel: Ja, das ist völlig richtig. Insofern ist das Gemeinwesen, ist die Gesamtheit der Steuerzahler ohnehin an dem, was die Wirtschaft leistet, in erheblichem Umfang, je nach der Einzellage bis zu 50 Prozent und mehr, beteiligt. Ich weiß es auch nicht! Ich meine, wenn die eine ruhige Überlegung anstellen, dann müssen sie doch auch daran denken, dass die Arbeit der Zwangsarbeiter ja mit dazu geführt hat, dass nach 1945, nach Kriegsende ein neuer Anfang gemacht werden konnte. Es ist ja nicht so, dass alles zerstört wurde. Es waren ja Produktionsanlagen da, die gerade auch durch die Mitarbeit der Zwangsarbeiter geschaffen worden sind. Für denjenigen, den Mitmenschlichkeit und Solidarität offenbar weniger bewegt, sollten es dann wenigstens diese Gesichtspunkte sein, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Unternehmen erkennen, dass es auch in ihrem eigenen Interesse liegt, sich ein Stück zu bewegen. Es ist ein Jammer, dass man nicht die maßgebenden Leute einmal mitnehmen kann in die Ukraine oder nach Weißrussland und ihnen zeigt, wie diese Menschen heute noch leben. Es war ja nicht nur die Zeit, in der sie im deutschen Reich - nicht alle; es gab auch Ausnahmen - zumeist unter ganz bedrückenden Umständen arbeiten mussten, sondern sie waren ja dann nach der Rückkehr in die Heimat diskreditiert, neuen Verfolgungen ausgesetzt, weil man sie im kommunistischen System für Kollaborateure hielt. Sie wurden wieder eingesperrt und sind bis zum heutigen Tag teilweise diskreditiert und leben von Summen im Monat, die wir uns gar nicht vorstellen können. Ich würde gerne einladen, dass die, die heute in den Firmen das Sagen haben, sich dort an Ort und Stelle ein Bild machen. Ich glaube, da würde dann doch mancher seine Haltung korrigieren.
Heinlein: Zur heutigen Fortsetzung der Gespräche über die Entschädigungen von NS-Zwangsarbeitern war das hier im Deutschlandfunk Hans-Jochen Vogel. - Herr Vogel, vielen Dank und auf Wiederhören!