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Entzaubernder Lyriker

Gerhard Meier, einer der bedeutenden Autoren der Schweiz, ist am Sonntag im Alter von 91 Jahren gestorben. In den 60er Jahren veröffentlichte er erste Gedichte und Kurzprosa, in den 70er Jahren Romane, dann kamen die Ehrungen. Anders als der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard, mit dem Gerhard Meier gerne verglichen wird, stand der Schweizer zeitlebens zu seiner Herkunft aus der Provinz.

Von Eva Pfister | 23.06.2008
    Gerhard Meier war einer der angesehendsten Autoren der Schweiz, aber sein Erfolg kam langsam, leise und spät. Weil er seinen Traumberuf, nämlich Architekt, nicht erreichen konnte, begnügte er sich 33 Jahre lang mit dem Dasein eines technischen Zeichners in einer Lampenfabrik in Niederbipp, einem Dorf im Kanton Bern, wo Gerhard Meier am 20. Juni 1917 geboren wurde.

    Auch seine literarischen Interessen stellte er ganz zurück, bis er nach einer Krankheit und einem Sanatoriumsaufenthalt wieder intensiv anfing zu schreiben und bald danach seinen Beruf aufgab. Da war er schon 54 Jahre alt.
    In den 60er Jahren erschienen in Berner Verlagen Gedichte und Kurzprosa von Gerhard Meier, die eine poetische und zugleich gänzlich unprätentiöse Spiegelung einer stillen Existenz zeigen. Was idyllisch sein könnte, entzaubert der Lyriker, wie zum Beispiel in seinem Gedicht "Jahrzehntealt", in dem zum ersten Mal sein Motiv der Kirschblüten auftaucht:

    "Grausame Tage
    Wo Melancholie sich ausspannt
    Zwischen Sonne und Kirschblüten
    Windlose Melancholie"


    Niederbipp blieb zeitlebens die Welt von Gerhard Meier, als Amrein begegnet man dem Ort in den Romanen, die er in den 70er Jahren zu schreiben begann. Weitab vom Zeitgeist ist die Prosa Gerhard Meiers nicht nur vordergründig unpolitisch, sie ist handlungsarm, lebt von assoziativ verknüpften, reflektierten Wahrnehmungen, die gerne in Rollenprosa gefasst werden.

    Der erste Roman "Der Besuch" ist ganz in indirekter Rede verfasst, ein Patient im Krankenhaus stellt sich darin vor, was er einem angekündigten Besucher berichten würde. Die Aufmerksamkeit für das Banale und Alltägliche deutet auf Meiers Vorbilder hin, zu denen - neben Tolstoj, Claude Simon und Robert Walser - auch Marcel Proust und Virginia Woolf gehören.

    Der intensive Blick in den Mikrokosmos erklärt auch, warum der Wahrnehmungsspezialist Peter Handke den Schweizer Kollegen hoch achtete. Nachdem Gerhard Meier 1977 ohne Erfolg in Klagenfurt aus seinem Roman "Der schnurgerade Kanal" gelesen hatte, wurde die Öffentlichkeit zwei Jahre später auf ihn aufmerksam, als Handke die Hälfte des Kafka-Preises an ihn weiter gab. Bald darauf wurde Meier ein Suhrkamp-Autor, und 1983 erhielt er den Petrarca-Preis.

    Gerhard Meiers bekannteste Werke sind die zur "Amrainer Tetralogie" zusammengefassten vier Romane mit den beiden Protagonisten Baur und Bindschädler, deren Gespräche auch wieder auf indirekte Weise referiert werden. Die Freunde aus der gemeinsamen Militärzeit erinnern sich, sie tauschen ihre Eindrücke von Musik, Kunst und Literatur aus und erzählen vom Leben in dem Dorf Amrain mit seinen Lebenden und seinen Toten. Sie besuchen die Gräber und denken über die vielen Selbstmörder nach in dieser anscheinend so heilen Welt.
    Aber im Unterschied zu Thomas Bernhard, mit dem Gerhard Meier gerne verglichen wird, war der Schweizer kein Provinz-Hasser.

    "Ich glaube, dass man nur Weltbürger wird über den Provinzler. Man muss den Dienstweg einhalten: erst Provinzler, dann Weltbürger."

    Protest und Kampf lagen Gerhard Meier nicht, darum stand er auch nie in der Öffentlichkeit, wie etwa Dürrenmatt oder Max Frisch. Aber er wirkte im Stillen mit seinem Werk, zu dem auch die aufschlussreichen Gespräche mit Werner Morlang gezählt werden müssen. In den 90er Jahren kamen die Ehrungen: der Theodor-Fontane-Preis, der Hermann-Hesse-Preis und 1999 der Heinrich-Böll-Preis.

    Seine Kunstauffassung definierte Gerhard Meier selbst - wie immer vorsichtig in indirekter Rede ausgedrückt:

    "Zur Funktion der Kunst wäre vielleicht zu sagen: Kunst könne einen nicht heiler machen. Kunst könne einen nicht einfacher und somit nicht tüchtiger machen. Kunst könne einen höchstens für Augenblicke glücklich und vor allem menschlicher machen, was aber keine Kleinigkeit sei, denn das Gegenteil von menschlich sei ja eben unmenschlich. Wobei es sich erübrige, näher einzugehen auf die Unmenschlichkeit."

    Am Sonntag ist Gerhard Meier im Spital Langenthal gestorben, zwei Tage nach seinem 91. Geburtstag.