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Entzauberte Transzendenz

"Neurotheologie" heißt eine neue Forschungsrichtung, mit der Wissenschaftler erklären wollen, was bisher unerklärlich schien: den Glauben an Gott und das Transzendente. Weltweit haben Forscher begonnen, mit neuesten Techniken zu beobachten, was im Gehirn bei religiösen Aktivitäten geschieht: beim Beten, beim Denken an Gott oder bei der Meditation. Ein Züricher Projekt hat bereits festgestellt, dass sich religiöse Erfahrungsmuster auf bestimmte Bewussteinszustände zurückführen und gezielt erzeugen lassen. Andere Wissenschaftler führen religiöse Gefühle auf epileptische Anfälle zurück. Ist das Transzendente damit endgültig entzaubert? Muss man den Glauben als einen Nebeneffekt von Nervenzellentladungen verstehen?

Von Martin Hubert | 24.12.2003
    Magnificat : ein Lobgesang auf die Größe und Weisheit Gottes. Besungen wird ein allmächtiges Wesen, das unbegreiflich ist, an dessen Existenz jedoch kein Zweifel besteht.

    Das religiöse Gefühl, das hier zum Ausdruck kommt, ruht in einem festen Glauben. Die Wirklichkeit des Transzendenten wird als ganz eigene, unmittelbar erlebbare Wahrheit empfunden und gepriesen.

    Es gibt natürlich kein Gen im Gehirn, das uns dazu bringt, an einen einzigen Gott zu glauben oder an die Dreieinigkeit oder ähnliches. Aber möglicherweise gibt es Gruppen von Genen, die für religiöses Verhalten verantwortlich sind. Gene, die eine Neigung hervorrufen, sich einem Glauben hinzugeben, der die Sehnsucht nach einem Ziel, einem Tun und einer Gemeinschaft erzeugt, die größer ist als wir selbst.

    Edward O. Wilson, der weltberühmte Soziobiologe von der Harvard University in Cambridge, ist wenig empfänglich für den Zauber des religiösen Empfindens. Der Wissenschaftler predigt den Glauben, alle Phänomene der Welt seien auf natürliche Bedingungen zurückzuführen – auch das religiöse Empfinden.

    Es gibt Belege dafür , dass Verletzungen oder Schädigungen im Schläfenlappen, in den seitlichen Regionen des Gehirns so etwas wie "Hyperreligiosität" erzeugt, d.h. die betroffenen Menschen werden extrem religiös und verstehen alles um sie herum nur noch unter kosmischen und religiösen Vorzeichen. Das ist eine Art Geistesstörung.

    Wenn das gestörte Gehirn extreme religiöse Zustände erzeugen kann, meint Edgar O. Wilson, dann ist die normale Religiosität vielleicht nur eine Fiktion, die der normalen Nervenaktivität entspringt.

    "Neurotheologie" heißt die neue Forschungsrichtung, die sich diesem Grundsatz verschrieben hat. Weltweit beginnen Forscher mit den neuesten Techniken zu beobachten, was im Gehirn bei religiösen Aktivitäten geschieht. In Deutschland zum Beispiel sollen bildgebende Verfahren die neuronalen Wurzeln des Betens offenlegen. Solche Projekte haben heftige Diskussionen ausgelöst: Ist der religiöse Glaube tatsächlich nur ein Nebeneffekt von Nervenzellentladungen? Existiert Gott allein im Gehirn ?

    Bei der Diskussion darüber, ob die Wissenschaft den Glauben an transzendente Wahrheiten endgültig entzaubern kann, geht es aber nicht allein um den Glauben an den christlichen Gott. Selbst in den westlichen Ländern hat sich die Natur des religiösen Denkens ja in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Auf der einen Seite steht der Glaubensverlust, auf der anderen die Suche nach anderen Formen der Spiritualität, wie sie z.B. im Buddhismus gepflegt werden. Hier geht es nicht mehr um den transzendenten Gott, sondern um einen Weg, durch meditative Praktiken die Beschränkungen des eigenen Selbst zu überwinden: man will eins werden mit dem Gesetz des Universums.

    Die Wirkung besteht eigentlich darin , dass jemand vorübergehend, für einen Moment in seinem Denken still wird. Diese Reise in die innere Stille ist dann eine Reise ohne Ende und der Eingang ist eben: sobald man still ist, begegnet man sich selbst.

    Der Schweizer Arzt Samuel Widmer hat als Psychotherapeut begonnen und sich dann immer mehr der spirituellen Erfahrung verschrieben. Heute nennt er sich "spiritueller Lehrer" und veranstaltet nicht gerade billige Seminare in einem kleinen Dorf bei Solothurn. Weiß gekleidet, braungebrannt und immerzu lächelnd erklärt er, dass es ihm um die Vermittlung höherer, überpersönlicher Erfahrungen geht. Spiritualität wird zum psychischen Abenteuer eines kosmisch entgrenzten Bewusstseins.

    Und wenn jemand nicht fort springt und sich damit auseinandersetzt, dann wird das mit der Zeit auch wirklich still. Und dann gerät man in tiefere Dimensionen. Das könnte man so beschreiben: also, ich bin da still in meinem Gehirn und mein Gehirn ist dadurch nicht eine Maschine, die gewohnheitsmäßig ständig etwas produziert wie ein Computer, sondern mein Gehirn ist ein Sinnesorgan, das empfängt, das sich ins Sein einfühlt und sich öffnet für das ganze Universum, wo eine direkt gefühlte Wahrnehmung da ist, dass da noch etwas ganz anderes ist als dieser kleine menschliche Bereich, sondern es ist dann schon so wie wenn: "Ich habe das ganze Universum in meinem Kopf" , und dann natürlich auch diese Erschütterung, die das macht und diese Ehrfurcht, die das auslöst. Wobei dann auch sehr schnell wieder ein Bereich erreicht werden kann, der einfach mit Worten überhaupt nicht mehr zu fassen ist, oder wenn man's versuchen würde, dann würde man verrückt wirken (lacht)

    Die religiöse Suche nach Gott und die spirituelle Suche nach kosmischer Erleuchtung, Sind beide nichts anderes als ein gezielt herbeigeführter veränderter Bewusstseinszustand, nahe an der pathologischen Entgleisung ? So radikal das klingt – selbst in den christlichen Religionen gibt es jahrhundertealte Techniken und Rituale, die Bewusstseinszustände erzeugen sollen, in denen man Gott näher ist: die Einsamkeit des Mönchs in der Zelle, das meditative Gebet, die mystische Versenkung. Östliche Sufi-Tänzer oder asiatische Yoga-und Mediationsmeister haben solche Reisen ins Unbekannte nur auf eine andere Art und Weise kultiviert. Die Einnahme von Drogen gehört dazu. Die Suche nach den natürlichen Bedingungen religiöser Bewusstseinszustände hat also durchaus ihren Sinn.

    Das Universitätsklinikum Zürich, psychiatrische Abteilung. In einem hellen, weiträumigen Büro hängen neben Aktenschränken und Buchregalen christliche und buddhistische Symbole an der Wand. Es ist das Dienstzimmer von Christian Scharfetter, emeritierter Professor für Psychopathologie. Der ruhige, in sich gekehrt wirkende ältere Herr hat sich zusammen mit anderen Züricher Wissenschaftlern vor nahezu zwanzig Jahren in ein wissenschaftliches Abenteuer gestürzt: der langfristigen Aufklärung veränderter Bewusstseinszustände mit den Mitteln des Experiments und der Satistik. Christian Scharfetter arbeitete zu diesem Zweck die These aus, dass das menschliche Bewusstsein von sich stark voneinander unterschiedene Zustände annehmen kann. Außergewöhnliche, etwa religiöse Erlebnisse sind für ihn daher nicht unbedingt etwas Irreales.

    Dass man nicht einfach sagt: Hier ist das Alltagsbewusstsein und hier ist das Außer-Alltagsbewusstsein, sondern ich sehe das als zwei Pole eines Kontinuums, wo wir uns eigentlich in gewissem Sinne ständig flukturierend bewegen. Es gibt nicht das starre Gebilde "Alltagsbewusstsein" .

    Christian Scharfetter, der sei nahezu dreissig Jahren meditiert, hat dabei an sich selbst erfahren, wie veränderbar der innere Bewusstseinsraum ist.

    Atmend, und zwar bewusst atmend bin ich in einem andern Bewusstseinszustand. Noch deutlicher ist das, wenn ich eben rein aufnehmend, z.B. Musik hörend bin, oder wenn ich in einer Leistung bin, wenn ich etwas leisten muss, dann bin ich in einem ganz anderen, viel mehr auf Aktivitäten gerichteten Bewusstseinszustand. Und wenn ich von hier mit der Tram zum Hauptbahnhof muss, dann muss ich auf so viele externe Dinge achten, dass ich dann natürlich wieder in einem anderen Bewusstseinszustand bin, der mich einbindet in dass Hier und Jetzt der Nah-Umgebung, und das verhindert z.B. , dass ich allzu tief in mein Inneres wandern kann.

    Diese Veränderungen im Raum des Bewusstseins lassen sich nach Christian Scharfetter auf einer Skala nach festen Kriterien abbilden. Auf der einen Seite der Skala liegen die traumhaft-halluzinativen Zustände, die mit reduzierter Wachheit, Aufmerksamkeit und Ich-Kontrolle verbunden sind. Auf der andern Seite stößt man auf hellwache, hoch konzentrierte und aufmerksamkeitsfokussierte Zustände, die etwa dann auftreten, wenn gezielt Probleme zu lösen sind. Dazwischen liegen viele Mischformen: zum Beispiel das halb-versunkene, routinierte Autofahren auf einer altbekannten Strecke.

    Wie entstehen aus diesen Möglichkeiten des Alltagsbewusstseins außergewöhnliche geistige Erlebnisse? Um das herauszubekommen, gingen Christian Scharfetter und seine Projektkollegen systematisch daran , die Methoden und Hilfsmittel zu untersuchen, mit denen sich dramatisch veränderte Bewusstseinszustände erzeugen lassen.

    Solche Hilfsmittel können halluzinogene Substanzen wie LSD, Meskalin und Cannabis sein. Oder auch so genannte "Halluzinogene 2. Ordnung" wie Lachgas und Ketamin , die etwas seltener Halluzinationen hervorrufen. Eine dritte Gruppe von Auslösern bewusstseinsveränderter Zustände sind die "psychologischen Auslöser": darunter fallen Konzentrationstechniken wie Hypnose oder Meditation; auch dauerhafter Reizentzug oder Schlafentzug kann genauso wie permanente Reizüberflutung zu inneren Imaginationen führen. Zu den sogenannten physiologischen Auslösern von Bewusstseinsveränderungen zählen schließlich: Langes Fasten, Schwitzen oder Frieren, Hyperventilation, Ausdauersport oder rhythmischer Tanz.

    Egal, welches Reisemittel man verwendet in den inneren ´Raum - man landet mehr oder weniger immer wieder im gleichen Raum, wobei man je nach Art der Reisemittel in diesen Raum mehr oder weniger tief eindringen kann.

    Adolf Dittrich ist Psychologieprofessor in Zürich. Der Statistik-Spezialist , der wie ein Alt- achtundsechziger aussieht und ständig eine Zigarette in den Fingern hält, hat die Ideen von Christian Scharfetter empirisch umgesetzt. Er verabreichte in jahrelangen kontrollierten Experimenten einer ersten Gruppe von Testpersonen halluzinogene Substanzen. Eine zweite Gruppe überflutete er mit Reizen und eine dritte setzte er in einen reizverschluckenden Dunkelraum. Danach befragte er die Testpersonen systematisch nach ihren Erlebnissen und verglich die Ergebnisse mit einer Kontrollgruppe.

    Die statistische Auswertung ergab ein verblüffendes Resultat: völlig unabhängig davon, welche Methoden und Hilfsmittel eingesetzt wurden - die Probanden erlebten immer wieder drei klar voneinander unterscheidbare so genannte Kerndimensionen des veränderten Bewusstseins. Adolf Dittrich bezeichnet diese Dimensionen daher als die Hauptkoordinaten des inneren oder erweiterten Bewusstseinsraums.

    Die erste "Dimension" ,die habe ich getauft "Ozeanische Selbstentgrenzung" . Ich komme zu diesem Begriff, weil sich dort Merkmale zeigen, die vielleicht der Kern von mystischen Erlebnissen jenseits von Kultur und Zeit sind. Merkmale wie - bei extremer Ausprägung,-: absolute Glückseligkeit; eine Verschwimmung, Verschmelzung von Subjekt-Objekt-Schranken . Im normalen Wachbewusstsein ist die Umwelt von uns irgendwie getrennt , hier verschmilzt man, ja, vielleicht auch nur mit der Natur, oder, wenn man so will, mit einem wie auch immer gearteteten Urgrund. Als weiteres kommt hinzu eine Transzendenz von Raum und Zeit, d.h. die Zeit rast entweder oder steht still oder man ist in einem Zustand der Zeitlosigkeit.

    In ähnlicher Weise wird das normale Raumgefühl überwunden, d.h. die Testpersonen glauben, sich gleichzeitig überall zu befinden. Außerdem meinen sie im Zustand der Ozeanischen Selbstentgrenzung körperlos zu sein, oder sie haben das Gefühl, im Raum zu schweben oder zu fliegen. Dittrich nennt diese Dimension daher auch: den "Himmel".

    Zum Himmel gehört immer die Hölle, und die zweite Dimension, die mit der ersten zusammenhängt, statistisch gesprochen ziemlich hoch korreliert, ist die Hölle: Diese habe ich getauft "Angstvolle Ich-Auflösung".

    Im Zustand der angstvollen Ich-Auflösung wird der Betroffene von fürchterlichen Angstzuständen überwältigt: sein Ich zersplittert, die Gedanken reißen ab, zwischen ihm und der Umwelt existiert eine unüberwindbare Wand, es scheint keinen Halt mehr zu geben. Es ist, als stehe der Weltuntergang bevor. Im Drogenrausch kennt man diese Erlebnisse als "Horrortrip".
    Im Unterschied zur Ozeanischen Selbstentgrenzung und der Angstvollen Ichauflösung, die beide eine Veränderung des Ich-Bewusstseins bewirken, bezieht sich die dritte Kerndimension veränderten Bewusstseins auf eine Transformation der wahrgenommenen Umwelt . Dittrich taufte sie "Visionäre Umstrukturierung":

    Diese besteht aus Merkmalen wie ganz einfachen Halluzinationen oder Pseudohalluzinationen, dass man etwa mit geschlossenen Augen Helligkeiten, Lichtblitze , dass man Farben sieht, die sich dann zu Mustern strukturieren können. Also man sieht häufig Tunnel, kaleidoskopartige Muster, man sieht Spiralen, und aus dieser Zwischenstufe können sich dann ganze Szenen entwickeln, die wie ein Film ablaufen. Dazu kommen Synästhesien, d.h. Phänomene , dass sich Geräusche in Farben und Muster umsetzen und dass, etwa bei der Musik, diese Synästhesien dem Rhythmus der Musik folgen.

    Daneben hat Dittrich noch zwei Nebendimensionen außergewöhnlicher Bewusstseinszustände ausgemacht, die zwar auch sehr häufig , aber nicht immer auftreten. Die eine besteht darin, dass der Grad der Wachheit abnimmt, die Betroffenen also immer müder werden. Die zweite betrifft das Auftreten akustischer Halluzinationen: die Testpersonen hören Meeresrauschen oder Stimmen.


    Diese Züricher These von den drei Kern- und zwei Nebendimensionen veränderten Bewusstseins wurde inzwischen nicht nur in einer internationalen Fragebogenstudie mit über tausend Probanden in sechs Ländern bestätigt. Sie bewährte sich auch bei einem neurowissenschaftlichen Experiment. Der Züricher Neurobiologe Franz X. .Vollenweider untersuchte die Hirnaktivitäten von 56 Testpersonen in verändertem Bewusstseinszustand mit Hilfe eines bildgebenden Verfahrens . Dabei zeigten sich unterschiedliche neuronale Aktivitätsmuster, die nach Christian Scharfetter den drei Kerndimensionen zugeordnet werden können.

    Nämlich in der "Visionären Umstrukturierung der Umgebung" werden bestimmte für die Wahrnehmung wichtigen Hirnrindenareale zusammen mit dem Stirnhirn aktiviert. Während nach seinen Forschungen Hinweise dafür da sind, dass bei der "Ozeanischen Selbstentgrenzung" sowohl das Stirnhirn überaktiv stimuliert wird, aber diese Hirnareale, die für die Perzeption da sind, eigentlich nicht, erstens. Und zweitens die so genannten Stammhinregionen, das ist also vor allem der Thalamus, das Striatum, dass die eher unteraktiviert sind. Das ist also merkwürdig, wie das auseinander fällt, vor allem auch im Kontrast, wenn man dann die andere Dimension, nämlich die "negative Ich-Auflösung " noch dazu untersucht. Da ist das Stirnhirn unteraktiv, es verliert also sozusagen seine übergeordnete Kontrolle und die Stammganglien sind überaktiv.

    Das Stirnhirn ist der Sitz planender und ordnender Integrationsleistungen des menschlichen Geistes. Diese verlieren offenbar bei der negativen oder angstvollen Ich-Auflösung ihre stabilisierende Kraft: der Betroffene stürzt in ein inneres Chaos . Die Ozeanische Selbstentgrenzung dagegen weist ein Überaktivität des Stirnhirns auf. Das lässt sich nach Christian Scharfetter in Beziehung bringen zum ozeanischen Gefühl der Erhabenheit und Erhobenheit über die normalen Wahrnehmungsreize aus der Umwelt: der Betroffene überwindet die Grenzen der normalen Wahrnehmung und erzeugt völlig neue Einheiten des Erlebens. Die Visionäre Umstrukturierung schließlich weist zusätzlich eine Überaktivierung der Wahrnehmungsregionen des Gehirns auf: tatsächlich werden in dieser Erlebnisdimension ja auch Umweltwahrnehmungen halluzinativ umgeformt.

    Die Züricher Untersuchungen zeigten aber auch, dass die Zustände der "angstvollen Ichauflösung" hirnphysiologisch eng mit akuten schizophrenen Episoden verwandt sind. Eine Persönlichkeitsstudie sollte daher klären, unter welchen Bedingungen veränderte Bewusstseinszustände in eine positive oder negative Richtung gehen. Die Untersuchung von 135 Testpersonen ergab folgendes Bild:

    Menschen, die eine Werthaltung haben, die im weitesten Sinn einer Religiosität unabhängig von Kirchen entspricht, haben eher eine "Ozeanische Selbstentgrenzung". Und Menschen, die eher Ästhetik im weitesten Sinne, sei es Musik, sei es Kunst - bei denen diese Wertehaltung eine große Rolle spielt, haben auch eher kosmisch-mystische Erlebnisse.

    Das ist ein weiterer Beleg für die These, dass veränderte Bewusstseinszustände nur solche Inhalte gesteigert zum Ausdruck bringen, die im Alltagsbewusstsein bereits angelegt sind. Aber dieses Ergebnis ist zweischneidig: denn das Alltagsbewusstsein wird sowohl von langfristigen als auch von kurzfristigen Faktoren beeinflusst.

    Kosmisch-mystische Erlebnisse kann man durch Vorerfahrung lernen, die Unterdrückung eines angstvollen Zustandes hängt eher von situativen Faktoren ab. Nämlich: was war in der letzten Zeit los mit mir, war das sehr belastend, was ich erlebt habe, habe ich eine Kündigung bekommen, habe ich Krach mit meiner Frau oder meinem Mann oder andere Probleme, Partnerbeziehungen und und und. Das kommt dann in dem Moment wieder hoch, und dann nützt es überhaupt nichts, wenn man das vorher schon X mal erlebt hat . Das heißt: aufgrund der Vorerfahrung mit veränderten Bewusstseinzuständen kann man nicht voraussagen bzw. die haben keinerlei Zusammenhang mit dem, was man in Bezug auf diese Dimension erlebt.

    Das bedeutet: man kann zwar zum Beispiel durch jahrelange Übung in der Meditation immer besser die Fähigkeit erlernen, in positive Zustände der ozeanischen Selbstentgrenzung zu kommen. Aber man ist trotzdem nie davor gefeit, beim nächsten mal aufgrund negativer persönlicher Begleitumstände nicht doch in eine Art Horrortrip zu geraten.
    Das wirft erneut die Frage auf, inwieweit religionsähnliche Bewusstseinszustände mit pathologischen Prozessen im Gehirn zu tun haben.

    Ein Büro im Universitätsklinikum Bonn. Vor einem Tisch, der mit Büchern, Papieren und Notizzetteln nur so übersät ist, sitzt im weißen Medizinerkittel ein Mann mit Bart und Brille, der tief in sich versunken scheint. Detlef Linke ist auf vielen Gebieten aktiv. Als Professor für Neurorehabilitation in Bonn widmet er sich medizinischen Fragen und als Publizist diskutiert er Probleme der Philosophie und Psychologie. Sei einiger Zeit gehört er auch zu einer Gruppe von Wissenschaftlern, die sich um das Centre for Theology and Natural Science in Berkeley scharen. Ihr Ziel: einen offenen Dialog zwischen Naturwissenschaftlern und Vertretern verschiedener Religionen in Gang zu bringen.

    Es finden alle ein, zwei, Monate Tagungen statt, in Nigeria, Bangladesh und wo immer in der ganzen Welt, sodass sich da die verschiedensten Religionszugehörigen treffen, und das ist sehr kreativ, ich habe da mit den Leuten über Computermodelle gesprochen, Fragen der Informationsverarbeitung und dergleichen mehr.

    Informationverarbeitung und Informationserzeugung – das gilt als normale Aufgabe des Gehirns. Was aber geschieht, wenn religiöse Vorstellungen und Bilder erzeugt werden, fragt Detlef Linke, welche Art von Information tritt dann auf?

    Definiert man die Informationsverarbeitung des Gehirn sehr eng, kommt man schnell zu einer Sicht der Dinge, wie sie der Soziobiologe Edgar O. Wilson proklamiert. Religiosität wird dann als eine anormale Informationsverarbeitung des Gehirns, als pathologische Störung interpretiert. Tatsächlich gibt es zahlreiche Befunde von Hirnforschern, die Religiosität mit epileptischen Anfällen in Verbindung bringen.

    Der kanadische Psychologe Michael Persinger reizte Testpersonen im Schläfenlappengebiet mit magnetischen Impulsen. Die dabei verursachte Übererregung in den Nervenzellen gleicht epileptischen Anfällen. Bei den meisten Testpersonen führte das zu religiösen Phantasien. Manche erzählten hinterher: ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Gott gesehen

    Schon vor über zwanzig Jahren hat der Bostoner Neurowissenschaftler Norman Geschwind erstmals festgestellt, dass Epileptiker vermehrt zu religiösen Anwandlungen neigen. Vor allem dann, wenn sie Temporrallappenepileptiker sind, wenn ihre Anfälle also im rechten Schläfenlappen auftreten. Die Patienten tendieren dann häufig dazu, zu konvertieren, weil sie plötzlich von einer neuen religiösen Einsicht besessen sind. Merkwürdigerweise treten bei ihnen aber auch noch zwei weitere Phänomene auf: ein übersteigertes Sexualverhalten und Hypergraphie, unstillbare Schreibwut.

    Vilaynur Ramachandran, Neurowissenschaftler an der University of California in San Diego unterzog Patienten, die an einer solchen Temporallappenepilepsie leiden, folgendem Experiment. Er zeigte ihnen Wörter und Bilder mit ganz normalem, mit gewalttätigem und mit sexuellem Inhalt. Dabei maß er jeweils ihre galvanische Hautreaktion. Normalerweise zeigen Testpersonen die stärksten Hautreaktionen bei sexuellen Inhalten und Gewaltszenen. Die Temporallappenepileptiker jedoch reagierten auf diese ungewohnt gedämpft - bei religiösen Wörtern und Bildern dagegen schoss ihre Reaktion nach oben.

    Seitdem wird ernsthaft über die Frage diskutiert, ob nicht epilepsieartige Erregungen der rechten Schläfenseite des Gehirns die eigentliche Wurzel religiöser Empfindungen sind. Allerdings machen den Wissenschaftlern dabei zwei Probleme zu schaffen. Erstens: warum treten bei den Temporallappenepileptikern nicht nur religiöse Vorstellungen und Konversionen auf, sondern auch ein übersteigertes Sexual- und Schreibverhalten.? Zweitens: warum haben nicht alle Epileptiker solche religiösen Anwandlungen?

    Für Detlef Linke spielt hier die Kultur eine wesentliche Rolle.

    Die Epilepsie-Forschung in Deutschland hat nicht so viele Fälle dieser Art beobachten können und dann kommt natürlich die Frage auf, inwieweit ein Kulturfaktor dabei eine Rolle spielt. Die Amerikaner sind sicher religiöser als die Deutschen und wenn man nach Konversionen sucht, dann wird man bei Amerikanern natürlich mehr finden, weil Religion dort eine größere Rolle spielt und auch der Wechsel zwischen Religionen häufiger vorkommt. Das heißt : Untersuchungen bei Deutschen würden das nicht widerlegen, wenn wir das weniger finden. Vielleicht findet man da andere Dinge: Wechsel der Weltanschauung, der politischen Position oder was immer, was dem entsprechen könnte. Aber es wäre dann nicht ein Beleg dafür, dass hier das Konvertieren als solches nicht mit dem Schläfenlappen zu tun hätte.

    Das würde aber dennoch bedeuten, dass das religiöse Konvertieren keine notwendige Folge, sondern nur eine mögliche Reaktion auf epilepsieartigen Nervenerregungen ist. Für Detlef Linke ist daher ein Erregungs-Reaktionsmodell die plausibelste Erklärung für die Erscheinungen, die mit der Temporallappenepilepsie verbunden sind.

    Sicherlich konvergieren im rechten Schläfenlappen Wahrnehmungen der Personen auf emotionaler Ebene und wenn da Turbulenzen ablaufen, ist es verständlich, wenn darüber berichtet wird und der Betreffende das genau beschreiben will. Und dann kann es zur Hypergraphie, also zum Vielschreiben kommen und zur Hypersexualität, die würde dann den Turbulenzen entsprechen. Und wenn diese Turbulenzen da sind, dann wird vielleicht nach verschiedenen Haltestrukturen gesucht und dann tritt die Konversion häufiger auf, was dann in Deutschland dem entsprechen könnte , müsste man noch erforschen .

    Der Beziehung zwischen der pathologischen, epileptischen Erregung und dem religiösen Empfinden ist also keineswegs eindeutig und zwingend. Wie unterschiedlich religiöse Praktiken insgesamt mit der Aktivität von Hirnregionen in Verbindung gebracht werden können, zeigen auch Untersuchungen des Radiologen Andrew Newberg an der University of Pennsylvania. Er beobachtete mit bildgebenden Verfahren, was im Gehirn von andächtig betenden Fransikanerinnen und meditierenden Zen-Mönchen geschieht.

    Newberg hat eben bei seinen Untersuchungen gefunden, dass besonders im Scheitellappen ein Gebiet besonders wenig aktiviert ist, wenn meditiert wird, so ein Gebiet, das sich mit der Körperwahrnehmung und der Situierung des Körpers im Raum auch befasst. Ich denke , dass das nicht unbedingt religionsspezifisch sein muss, d.h. es ist die Frage, ob diese Newbergschen Untersuchungen überhaupt etwas religionsspezifisches sind oder nicht nur Ausdruck der Tatsache, dass da jemand beruhigt sitzt und nicht das Gefühl hat, gestört zu werden.

    Ist der religiöse Glaube an eine transzendente Wirklichkeit mit den neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen also tatsächlich vollständig entzaubert? Die Ergebnisse sind zumindest zwiespältig. Zum einen ist unbestreitbar, dass religiöse Erfahrungen auf natürliche Bewusstseinszustände und Hirnaktivitäten zurückführbar sind. Das bedeutet: ihr Erlebniszauber verbürgt keinerlei übernatürliche Wirklichkeit.

    Damit bekräftigen die Neurowissenschaftler aber nur eine religionskritische These, die schon seit langer Zeit in Umlauf ist. Für Adolf Dittrich folgt daraus nicht, dass der Wahrheitsgehalt religiöser Vorstellungen damit nun endgültig widerlegt ist.

    Ich bin der Ansicht, dass darüber für mich als empirischen Wissenschaftler keinerlei Aussage möglich sind.

    Die neurowissenschaftliche Herangehensweise kann eben nur zeigen, wie Hirnaktivitäten und religiöse Gefühle miteinander gekoppelt sind. Sie kann aber nicht über deren Wahrheitsgehalt richten - sonst wären die Naturwissenschaftler selber gottähnliche Gestalten.

    Und sie können, wie Detlef Linke unterstreicht ,auch nichts darüber sagen, welche inhaltliche Bedeutung die Religion für das menschliche Leben in den verschiedenen Kulturen besitzt.

    Ich glaube, dass die Hirnforschung noch sehr weit von den eigentlichen religiösen Geschehnissen entfernt ist. Diese bildgebenden Verfahren erfassen ja oft nur sehr grobe kognitive Vorgänge oder emotionale Vorgänge, aber welche Bedeutung diesen Vorgängen zukommt, das ist noch einmal eine ganz andere Dimension und diese Dimension, diese symbolische Dimension wird bei der Messung ja nicht erfasst.