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Epidemien
Flugrouten als Modell für Seuchenausbreitung

Die Pest im 14. Jahrhundert breitete sie sich wie eine Welle jeden Tag um vier bis fünf Kilometer aus. Heutige Epidemien überspringen hingegen ganze Kontinente, sie sind schwer zu prognostizieren. Ein neuer Blick auf die Infektionsdaten könnte das nun ändern.

Von Volkart Wildermuth | 13.12.2013
    Die Ausbreitung moderner Seuchen beschreiben komplexe Computermodelle. Eingespeist wird alles Mögliche: von den Eigenschaften der Viren oder Bakterien über Kontaktmuster zwischen Berufsgruppen bis hin zu Flugplänen. Diese Daten lassen sich ganz unterschiedlich aufbereiten. Auf einer Konferenz ist Dirk Brockmann aufgefallen, dass sich die Ergebnisse der verschiedenen Ansätze aber ähneln.
    "Da habe ich dann gedacht, hier muss irgendetwas Fundamentales versteckt sein, was wir einfach noch nicht sehen."
    Dirk Brockmann arbeitet am Berliner Robert Koch Institut und an der Humboldt Universität. Er ist aber weder Arzt noch Epidemiologie, er ist Professor für Theoretische Physik. Als solcher sucht er nach den Strukturen hinter den Daten.
    "Die Idee, die wir hatten, ist, dass wir einfach unser Verständnis von Distanz verändern müssen. Je mehr Leute reisen zwischen zwei Orten, desto näher sind sie effektiv beieinander."
    Effektiv aus der Sicht eines Erregers. Dessen konkreten Eigenschaften bestimmen zwar die lokale Ausbreitung. Global dominiert aber die Geometrie der effektiven Entfernungen. Dirk Brockmann hat 4096 Flughäfen mit über 25.000 Direktverbindungen analysiert. Auf dieser Basis erstellt der Computer Karten, die nichts mit konventionellen Weltkarten zu tun haben. Im Mittelpunkt sitzt der Ausbruchsort der Epidemie, vielleicht Mexiko City. Drumherum reihen sich wie in einem Strahlenkranz alle anderen Städte. Und zwar nach ihren effektiven Entfernungen, also der Stärke der Reiseströme, die sie mit dem zentralen Ort verbinden. Da kann New York direkt neben Honkong liegen, Chicago aber ganz woanders. Dirk Brockmann hat die Ausbreitung der SARS-Epidemie 2003 und der Schweingrippe 2009 auf klassischen Weltkarten und seiner neuen Version eingezeichnet.
    "Wenn wir jetzt die gleichen Ausbreitungsmuster anschauen in dieser neuen Perspektive, dann wird aus den Mustern die konventionell sehr komplex aussehen, werden einfache ringförmige Wellenmuster, ähnlich wie bei der Pest im 14. Jahrhundert. Das heißt für uns, dass der Mechanismus, sozusagen das Grundlegende an diesen Ausbreitungsphänomenen, nicht anders ist als früher."
    Die Ausbreitung verläuft im Grunde noch immer ringförmig vom Ursprungsort nach außen. Dieses einfache Muster wird nur durch die modernen Reiseströme verzerrt. Eine Verzerrung, die die neuen Karten herausrechnen. Damit werden verlässlichere Prognosen möglich, hofft der Infektionsspezialist Dr. Lars Schaade, Vizepräsident des Robert Koch Institutes.
    "Also, ich halte dieses Modell für sehr hilfreich, weil wir uns ja gerade bei der großräumigen, globalen Ausbreitung von Infektionskrankheiten immer die Frage stellen, was wird der Ort sein, wo dieses Virus zunächst auftaucht und vor allen Dingen, auch in welcher Zeitspanne wird dieses Virus auftauchen?"
    Die regelmäßigen kreisförmigen Infektionswellen zeigen sich aber nur, wenn man tatsächlich den Ursprungsort des Ausbruchs in den Mittelpunkt der Karte setzt. Diese Eigenschaft lässt sich nutzen, wenn die Quelle einer Epidemie unbekannt ist. Dazu errechnet man effektive Entfernungskarten für ganz verschiedene Städte. Nur bei einer dieser Karten werden die Infektionen tatsächlich einen Kreis ergeben.
    "Wenn man weiß, der Erreger verbreitet sich zum Beispiel über Lebensmittel, und die Transportwege der Lebensmittel kennt, kann man an dem Ausbreitungsmuster unter Umständen dann eben zurückschließen, wo letztendlich die Quelle des Erregers liegen könnte, in welcher Fabrik zum Beispiel, in welcher Lieferkette oder möglicherweise auch in welchem Ort."
    Infektionsepidemiologen wie Lars Schaade können dann gezielt dort forschen. Am Robert Koch Institut entwickelt Dirk Brockmann seine Karten für den praktischen Einsatz weiter. Es kommt vor allem darauf an, vorab die relevanten Ausbreitungswege verschiedener Erregertypen zu erfassen, damit das Modell bereit ist, bei der nächsten Epidemie tatsächlich verlässliche Prognosen zu liefern.