Donnerstag, 28. März 2024

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"Er hat das Abenteuer gesucht"

Helmuth Kiesel, Herausgeber der Kriegstagebücher von Ernst Jünger, erkennt in Jüngers Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg die Absicht, im Krieg "ein abenteuerliches Leben" zu führen. Die bürgerliche Welt sei Jünger viel zu langweilig gewesen, weshalb er auch ein Jahr vorher bereits in die Fremdenlegion ausgerückt sei.

Helmut Kiesel im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 24.09.2010
    Tobias Armbrüster: "In Stahlgewittern" hieß ein Buch, mit dem ein junger Autor vor 90 Jahren deutschlandweit bekannt wurde: Ernst Jünger. In dem Buch schildert Jünger seine Erlebnisse in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs in Frankreich. Es blieb immer ein problematisches Buch - nicht nur, weil Jünger den Krieg darin vor allem als eine Art Abenteuer und als Bewährungsprobe für Männer beschreibt, sondern auch, weil die Nazis seine Sicht auf diesen Krieg sehr gerne für sich benutzten. Grundlage für die Stahlgewitter waren Jüngers Original-Tagebücher; er hat sie mitten im Krieg geführt, quasi am Rande der Schlachtfelder. In dieser Woche sind sie nun zum ersten Mal als Buch erschienen; wir hören einen kurzen Auszug.

    "4.1.1915 - heute Nachmittag fand ich in der Nähe der Latrine von der Festung Altenburg zwei noch zusammenhängende Finger und Mittelhandknochen. Ich hob sie auf und hatte den geschmackvollen Plan, sie zu einer Zigarrenspitze umarbeiten zu lassen. Jedoch es klebte, genau wie an der Leiche im Stacheldrahtverhau bei Combres, noch grünlich weiß verwestes Fleisch zwischen den Gelenken. Deshalb stand ich von meinem Vorhaben ab.

    21.3.1918 - Wütend schritt ich voran."


    So weit ein kurzer Auszug aus den Kriegstagebüchern von Ernst Jünger. - Am Telefon ist jetzt der Herausgeber und Jünger-Biograf, Professor Helmuth Kiesel von der Universität Heidelberg. Schönen guten Morgen, Herr Kiesel.

    Helmuth Kiesel: Guten Morgen, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Herr Kiesel, war Ernst Jünger tatsächlich so grausam, wie wir es da gerade im Auszug aus seinem Tagebuch gehört haben?

    Kiesel: Nein! Das ist zwar keine ganz singuläre Stelle, die Sie vorgelesen haben; es gibt immer wieder Stellen, an denen er sich dem Grauenhaften, was er zu erleben hat, auf eine solche Weise nähert. Aber in der Mehrzahl der Fälle ist das doch nicht der Fall, sondern er wendet sich allen diesen Dingen mit Entsetzen, mit Teilnahme auch zu, mit Bereitschaft, die Schrecken, die damit verbunden sind, und das Unglück, was für die betroffenen Verwundeten oder Toten damit verbunden war, zu akzeptieren. Wenn man diese Stelle liest, wenn man diese Stelle hört, muss man bitte auch berücksichtigen, in welcher Zeit Jünger schreibt. Das ist 1915/16, da liegt hinter uns die Zeit oder ist noch nicht hinter uns, es ist die Zeit des Dandyismus, in der man sich nicht genugtun kann, auf literarischer Ebene sich auch in Posen zu zeigen, die erschreckend oder abstoßend sind, auf allen Gebieten des Lebens, auch in Friedenszeiten. Also diese Stelle darf man nicht als unmittelbaren Ausdruck nur einer Gefühlshaltung betrachten, sondern auch als den Versuch, sich in einer Pose, in einer Haltung zu üben, die etwas Artistisches gewissermaßen hat und die auf der anderen Seite natürlich auch eine gewisse Schutzfunktion hat. Um das auszuhalten, was Jünger und seine Kameraden mitmachen mussten, musste man vielleicht auch mit den Schreckenserfahrungen auf eine derart frivole Weise umgehen. Das ist aber wie gesagt nicht typisch, oder jedenfalls nicht generalisierbar für Jüngers Haltung.

    Armbrüster: Hat Jünger dann also aufgeschrieben, was viele Soldaten im Ersten Weltkrieg gedacht haben?

    Kiesel: Ja, sicher. Auch solche Dinge sind nicht singulär, sondern er notiert das immer wieder auch, notiert auch Scherzworte, die andere Kameraden bei ähnlichen Gelegenheiten gesagt haben und die man im Übrigen aus vieler anderer Literatur auch kennt, äußert sich dann auch durchaus gelegentlich kritisch dazu, oder in der Weise, dass er sagt, da beginnt nun doch eine Verrohung, die problematisch ist und von der man nicht weiß, wie man die jemals wieder abstreifen soll.

    Armbrüster: Nun gehen einem beim Ersten Weltkrieg, wenn man darüber nachdenkt, Bilder von Schützengräben durch den Kopf und Vorstellungen von einer ständigen, ständig permanenten Todesangst. Wie konnte Ernst Jünger in dieser Zeit ausgerechnet ans Tagebuchschreiben denken?

    Kiesel: Er ging in den Krieg mit einem kleinen Notizheft in der Brusttasche und mit der Absicht, das was ihm passiert zu notieren. Jünger hat sich, wie Sie wissen, freiwillig in den Krieg gemeldet, wie viele jungen Männer damals, wie die meisten, die wehrfähig waren. Er hat das Abenteuer gesucht. Es war ein Erfahrungshunger, der ihn in den Krieg getrieben hat. Die bürgerliche Welt mit ihrer Schulordnung, mit ihrer Sekurität, mit ihrer Wohlausgestattetheit, das war alles viel zu langweilig. Er ist ja ein Jahr vorher auch in die Fremdenlegion ausgerückt, weil er es in dieser Welt nicht mehr aushielt.

    Nun geht er in den Krieg mit der Absicht, den Krieg als einen Erfahrungsraum zu nutzen, ein abenteuerliches Leben dort zu führen und das zu notieren, wohl auch schon in der Absicht, das irgendwie einmal literarisch zu verarbeiten. Deswegen beginnt er sofort mit dem Tagebuchschreiben, notiert alles, was ihm passiert, was ihm widerfährt, was er beobachten kann, sehr minutiös, angefangen von den Geräuschen, die die Geschosse machen, bis zu dem, was im Mannschaftsbereich vorgeht oder bei ersten kleinen Kampfhandlungen, in die er dann verwickelt wurde.

    Armbrüster: Sie haben nun viel mit diesen Heften gearbeitet. Wie sehen die denn aus rein äußerlich?

    Kiesel: Es sind insgesamt 15 Hefte. Man kann einfach sagen, brusttaschengroß, also wie Taschenkalender, unterschiedlich dick, unterschiedliches Material, manchmal nur ein Pappeinband, manchmal auch ein Einband aus Leinwand mit Lederrücken und so weiter, und im Innern sind sie unterschiedlich beschrieben, mit Tintenstift. Man hat ja damals diese Blei-Tinten-Mischung, die man so leicht anfeuchten konnte, die dann eine haltbare Schrift hinterließen, aber doch auch eine oft sehr schwer lesbare. Daneben gibt es Hefte, die in mustergültiger deutscher Kurrentschrift geschrieben sind. Das sind dann die Aufzeichnungen, die Jünger in Unterständen gemacht hat, die einigermaßen sicher waren, oder nach Verwundungen im Lazarett. Immer wieder aber auch Stellen, in denen man sieht, dass er unter großer Angst auch geschrieben hat, oder unter Todesgefahr geschrieben hat, im Gefühl, dass er nicht weiß, ob er den Satz vollenden kann.