Peter Kapern: Mitte der 80er-Jahre, da war Peter Müller Assistent am Lehrstuhl für Jura an der Universität in Saarbrücken. Eine Kommilitonin hat sich dieser Tage an diese Zeit erinnert; ihr hat sich vor allem eines ins Gedächtnis eingegraben, nämlich dass der Jungjurist Müller damals immer wieder durch durchaus überkritische Fragen aufgefallen sei. Das qualifiziert ihn natürlich für höhere Aufgaben und vielleicht nicht nur allein dies, und deshalb hat der Bundesrat heute den Ex-Ministerpräsidenten Peter Müller zum Bundesverfassungsrichter gewählt.
Mitgehört hat Heribert Prantl, früher Richter und Staatsanwalt und heute Leiter der Innenpolitik bei der "Süddeutschen Zeitung". Guten Tag, Herr Prantl.
Heribert Prantl: Guten Tag, Herr Kapern.
Kapern: Herr Prantl, wenn ein Richter und Staatsanwalt Journalist werden kann, dann kann doch auch ein Ministerpräsident Verfassungsrichter werden. In beiden Fällen geht es doch um Glaubwürdigkeit, oder?
Prantl: Es geht um Glaubwürdigkeit, das ist richtig. Aber die "Süddeutsche Zeitung" ist etwas anderes als das Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht ist das höchste Gericht im Lande. Und dieses Gericht ist zwar ein politischer Ort, der darüber entscheidet, was Politik machen darf und was nicht. Er macht Politik, also ist quasi ein politisches Gericht. Aber ein solches Gericht darf nicht prägnant parteipolitisch werden. Und die große Gefahr einer solchen Berufung ist, dass das Publikum, für das ja das Gericht glaubwürdig sein soll, hier einen Repräsentanten von Parteipolitik erkennt. Und das würde dem Gericht ganz enorm schaden. Dieses Gericht hat unglaublichen Respekt und ich denke, eine solche Berufung – über die Details kann man reden – könnte diesen Respekt vor dem Gericht gefährden.
Kapern: Aber, Herr Prantl, das scheint mir doch eine utopische Vorstellung zu sein, dass in einer Parteiendemokratie ein Gericht politisch sein kann, ohne parteipolitisch zu sein.
Prantl: Natürlich kann es das sein. Ich entscheide nicht nach parteipolitischen Positionen, sondern ich entscheide über verfassungsrechtliche Grundfragen. Verfassungsrechtliche Grundfragen sind Politik. Sie sind aber nicht Parteipolitik. Wenn ich als Parteipolitiker mich auf Parteipositionen festlegen lasse, dann habe ich im Verfassungsgericht nichts zu suchen.
Nun will ich das dem Herrn Müller nicht unterstellen, aber ein gewisser Anfangsverdacht besteht und er muss diesem Anfangsverdacht entgegenarbeiten. Und solange er ihm entgegenarbeiten muss, ist er als Richter in irgendeiner Weise befangen. Die Besorgnis der Befangenheit, heißt es in anderen Gerichtsverfahren, besteht. Und bei Spitzenpolitikern – ich habe gar nichts gegen Politiker beim Verfassungsgericht, weil Politiker Gaben mitbringen, die auch für ein Verfassungsgericht wichtig sind. Im Verfassungsgericht sitzen viele Rechtsprofessoren, aber Karlsruhe ist ja kein juristischer Elfenbeinturm und kein Asyl für weltvergessene Gelehrte. Es ist auch mehr als eine Goldschmiedewerkstatt für Paragrafen. Dort geht es auch in einem solchen Senat, in dem acht Richter sitzen, um Diplomatie. Verschiedenste Rechtspositionen ringen miteinander. Da ist das Geschick eines Politikers, der Kompromisse gelernt hat, durchaus dienlich.
Kapern: Ja, dann muss man doch dankbar sein, dass Müller kommt.
Prantl: Muss es denn wirklich ein Spitzenpolitiker sein, also einer, der in Partei- und Wahlkämpfen bekannt geworden ist, einer, bei dem die Bürger zu allererst an Parteipolitik denken, einer, der zwölf Jahre lang Ministerpräsident war, einer, bei dem sie zumindest den Verdacht haben müssen, dass er parteienparteiisch ist? – Es ist sicherlich so, dass viele, viele Richter in Karlsruhe, Verfassungsrichter gezeigt haben, als sie im Amt waren, dass sie gar nicht im Sinn der Partei votiert haben, die sie benannt hat. Das Wahlverfahren ist ja höchst dubios. Es benennen die Parteien und sie schnüren Pakete mit Leuten, die ihnen zur Nase stehen. Auch Peter Müller war Teil eines solchen großen Personalpaketes. Und viele dieser Richter, die von Parteien nominiert wurden und von denen man dachte, mein Gott, ob die wirklich so unabhängig sind, haben dann in Karlsruhe quasi den Geist der Unabhängigkeit inhaliert. Aber ein Ex-Spitzenpolitiker, jemand, der noch bis vor Kurzem Ministerpräsident war und in ganz Deutschland als Parteipolitiker bekannt war, der muss schon sehr lange inhalieren, diesen Geist der Unabhängigkeit, und urteilen, bis die Bürger ihr naheliegendes Vorurteil gegen ihn ablegen.
Kapern: Mussten denn Leute wie Jutta Limbach, Roman Herzog, Ernst Benda weniger lange inhalieren? Das waren ja auch Spitzenpolitiker, wenn auch nicht Regierungschefs, aber doch immerhin Kabinettsmitglieder.
Prantl: Ernst Benda ist ein Beispiel, das man hier mit Fug und Recht entgegenhalten kann. Ernst Benda war immerhin Bundesinnenminister. Es lag ein bisschen längere Zeit zwischen dem politischen Spitzenamt und dem Amtsantritt in Karlsruhe. Jutta Limbach war nicht so hochrangig angesiedelt als Politikerin wie Peter Müller, sie war nicht Ministerpräsidentin, sie war Justizsenatorin. Es ist schon ein Sonderfall bei Peter Müller. Ich kenne keinen anderen Spitzenpolitiker, der nach Karlsruhe ging und solange in einem politischen Spitzenamt tätig war.
Kapern: Heißt das, Herr Prantl, es wäre hilfreich gewesen, wenn Peter Müller noch etwas länger im politischen Abklingbecken verschwunden geblieben wäre?
Prantl: Ich denke, ja.
Kapern: Wie lange?
Prantl: Eine gewisse Distanz von drei, vier, fünf Jahren, sich aus der Parteipolitik herauszuziehen, aus den aktuellen Auseinandersetzungen herauszuhalten, dann zu sagen, möglicherweise sich auch wissenschaftlich wieder ein bisschen zu profilieren. Man kann schon auch die Frage stellen, hat er denn wirklich juristisch die Substanz, die man in Karlsruhe braucht. Er ist als Politiker hervorgetreten, daraus als Spitzenpolitiker, daraus rühren meine Skepsis und meine Zurückhaltung. Dass jemand vier Jahre lang Amtsrichter war vor langer, langer Zeit, ist keine juristische Qualifikation, die für das Bundesverfassungsgericht qualifiziert.
Ich sage es noch mal: Ein Politiker, der ja auch Rechtsthemen bearbeiten musste, ist per se nicht ungeeignet. Ein Spitzenpolitiker sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, dem Verdacht, den ich hege, dem Verdacht, den auch, glaube ich, ein großes Publikum hegt, er ist nicht unbefangen genug. Und die Besorgnis der Befangenheit, um dieses juristische Wort noch einmal zu sagen, reicht ja in einem normalen Gerichtsverfahren. Die Besorgnis der Befangenheit, die zur Ablehnung eines Richters reicht, im Zivilprozess und im Strafprozess, soll schon den Anschein der Voreingenommenheit vermeiden. Bei einem Spitzenpolitiker besteht dieser Anschein aber anhaltend.
Kapern: Aber es gibt doch auch einen Mechanismus dafür, wenn Peter Müller tatsächlich mal in die Situation kommen würde, über etwas urteilen zu müssen, an dem er selbst als Politiker beteiligt war. Es gibt doch ein Verfahren dafür, wie man mit solchen Befangenheitsverdächtigungen umgeht, nämlich dass sich dann ein Richter in einem konkreten Fall zurückzieht. Das heißt also, das ist doch gewissermaßen ein vorgesehenes Verfahren im juristischen Betrieb.
Prantl: Im konkreten Fall natürlich ja. Wenn er tatsächlich als Politiker mit einer ganz bestimmten Frage befasst war, die er dann entscheiden muss, ist ja völlig klar, dass er ausscheidet. Beim Spitzenpolitiker geht es mir um etwas anderes. Die Besorgnis der Befangenheit ist anhaltend gegeben, weil einer halt als Spitzenpolitiker in allen möglichen Angelegenheiten sich als Parteipolitiker profiliert hat. Und da ist zwischen dem unabhängigen Amt in Karlsruhe und dem Amt eines Ministerpräsidenten eine Distanz, ein Abklingbecken, in dem man einige Zeit sich befunden haben muss, notwendig, um schlichtweg den Verdacht, auch wenn er unberechtigt sein mag, abklingen zu lassen, hier Parteipolitik nach Karlsruhe zu tragen. Ich denke, dieses Gericht ist als oberste Instanz, als oberste Rechtsinstanz dieses Landes so wichtig, dass man sie dem Eindruck der Voreingenommenheit eines Verfassungsrichters nicht aussetzen darf.
Kapern: Sie haben eben davon gesprochen, dass Karlsruhe ein politischer Ort sei. Und gerade die letzten Urteile zur EU und zur Währungsunion haben ja viel Kritik auf sich gezogen. Da hat es dann geheißen, die Richter hätten eigentlich die politische Realität, die politischen existierenden Verfahren gar nicht genau genug im Blick gehabt. Muss Karlsruhe dann nicht viel mehr Politiker haben?
Prantl: Ich denke, jeder Richter ist Kraft seines Amtes letztendlich Politiker. Wenn ich über die Verfassung entscheide und frage, welches Gewicht haben Verfassungsprinzipien, welches Gewicht haben Grundrechte, treffe ich eine politische Entscheidung. Es geht ja nicht um mechanistische Rechtsregeln; es geht darum, dass ich Verfassungsgrundsätze ausfülle mit Leben, dass ich sie auf aktuelle politische Sachverhalte anwende. Es ist Politik, aber es darf nicht Parteipolitik sein in dem Sinne, dass ich die Position vertrete, die gerade die SPD, die CDU oder die FDP vertritt. Wenn ich die Entscheidung treffe auf der Basis der Verfassung, ob deutsche Soldaten in Afghanistan tätig sein dürfen. Und zur Grundlage meiner Entscheidung die deutsche Verfassung mache und das als Verfassungsrichter machen muss, treffe ich jetzt letztendlich eine politische Entscheidung auf der Basis der Verfassung, weil das natürlich politische Auswirkungen eminenter Art hat. Ob ich jetzt sage, stopp, das geht nicht, oder es darf so sein, ich bereite sozusagen der Politik die Bahn, um da zu sagen, darf die Politik diesen Weg gehen, oder darf sie ihn nicht gehen. Dieses Ja oder Nein zu sagen, ist natürlich Politik. Aber um es noch mal zu sagen: Ich habe etwas dagegen, wenn Parteipolitik da hingetragen wird, wenn das Publikum sagen muss, der Peter Müller vertritt ja diese Ansicht nur deswegen, weil die CDU diese Linie über viele Jahre hin geprägt hat. Und selbst wenn er die andere Meinung vertritt, die nicht CDU-Meinung ist, dann heißt es womöglich, er vertritt die andere Meinung nur deswegen, weil er zeigen muss, dass er unabhängig ist. Ich habe Schwierigkeiten damit.
Kapern: Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" heute Mittag hier im Deutschlandfunk. Herr Prantl, danke für das Interview und auf Wiederhören.
Prantl: Bitte schön. Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mitgehört hat Heribert Prantl, früher Richter und Staatsanwalt und heute Leiter der Innenpolitik bei der "Süddeutschen Zeitung". Guten Tag, Herr Prantl.
Heribert Prantl: Guten Tag, Herr Kapern.
Kapern: Herr Prantl, wenn ein Richter und Staatsanwalt Journalist werden kann, dann kann doch auch ein Ministerpräsident Verfassungsrichter werden. In beiden Fällen geht es doch um Glaubwürdigkeit, oder?
Prantl: Es geht um Glaubwürdigkeit, das ist richtig. Aber die "Süddeutsche Zeitung" ist etwas anderes als das Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht ist das höchste Gericht im Lande. Und dieses Gericht ist zwar ein politischer Ort, der darüber entscheidet, was Politik machen darf und was nicht. Er macht Politik, also ist quasi ein politisches Gericht. Aber ein solches Gericht darf nicht prägnant parteipolitisch werden. Und die große Gefahr einer solchen Berufung ist, dass das Publikum, für das ja das Gericht glaubwürdig sein soll, hier einen Repräsentanten von Parteipolitik erkennt. Und das würde dem Gericht ganz enorm schaden. Dieses Gericht hat unglaublichen Respekt und ich denke, eine solche Berufung – über die Details kann man reden – könnte diesen Respekt vor dem Gericht gefährden.
Kapern: Aber, Herr Prantl, das scheint mir doch eine utopische Vorstellung zu sein, dass in einer Parteiendemokratie ein Gericht politisch sein kann, ohne parteipolitisch zu sein.
Prantl: Natürlich kann es das sein. Ich entscheide nicht nach parteipolitischen Positionen, sondern ich entscheide über verfassungsrechtliche Grundfragen. Verfassungsrechtliche Grundfragen sind Politik. Sie sind aber nicht Parteipolitik. Wenn ich als Parteipolitiker mich auf Parteipositionen festlegen lasse, dann habe ich im Verfassungsgericht nichts zu suchen.
Nun will ich das dem Herrn Müller nicht unterstellen, aber ein gewisser Anfangsverdacht besteht und er muss diesem Anfangsverdacht entgegenarbeiten. Und solange er ihm entgegenarbeiten muss, ist er als Richter in irgendeiner Weise befangen. Die Besorgnis der Befangenheit, heißt es in anderen Gerichtsverfahren, besteht. Und bei Spitzenpolitikern – ich habe gar nichts gegen Politiker beim Verfassungsgericht, weil Politiker Gaben mitbringen, die auch für ein Verfassungsgericht wichtig sind. Im Verfassungsgericht sitzen viele Rechtsprofessoren, aber Karlsruhe ist ja kein juristischer Elfenbeinturm und kein Asyl für weltvergessene Gelehrte. Es ist auch mehr als eine Goldschmiedewerkstatt für Paragrafen. Dort geht es auch in einem solchen Senat, in dem acht Richter sitzen, um Diplomatie. Verschiedenste Rechtspositionen ringen miteinander. Da ist das Geschick eines Politikers, der Kompromisse gelernt hat, durchaus dienlich.
Kapern: Ja, dann muss man doch dankbar sein, dass Müller kommt.
Prantl: Muss es denn wirklich ein Spitzenpolitiker sein, also einer, der in Partei- und Wahlkämpfen bekannt geworden ist, einer, bei dem die Bürger zu allererst an Parteipolitik denken, einer, der zwölf Jahre lang Ministerpräsident war, einer, bei dem sie zumindest den Verdacht haben müssen, dass er parteienparteiisch ist? – Es ist sicherlich so, dass viele, viele Richter in Karlsruhe, Verfassungsrichter gezeigt haben, als sie im Amt waren, dass sie gar nicht im Sinn der Partei votiert haben, die sie benannt hat. Das Wahlverfahren ist ja höchst dubios. Es benennen die Parteien und sie schnüren Pakete mit Leuten, die ihnen zur Nase stehen. Auch Peter Müller war Teil eines solchen großen Personalpaketes. Und viele dieser Richter, die von Parteien nominiert wurden und von denen man dachte, mein Gott, ob die wirklich so unabhängig sind, haben dann in Karlsruhe quasi den Geist der Unabhängigkeit inhaliert. Aber ein Ex-Spitzenpolitiker, jemand, der noch bis vor Kurzem Ministerpräsident war und in ganz Deutschland als Parteipolitiker bekannt war, der muss schon sehr lange inhalieren, diesen Geist der Unabhängigkeit, und urteilen, bis die Bürger ihr naheliegendes Vorurteil gegen ihn ablegen.
Kapern: Mussten denn Leute wie Jutta Limbach, Roman Herzog, Ernst Benda weniger lange inhalieren? Das waren ja auch Spitzenpolitiker, wenn auch nicht Regierungschefs, aber doch immerhin Kabinettsmitglieder.
Prantl: Ernst Benda ist ein Beispiel, das man hier mit Fug und Recht entgegenhalten kann. Ernst Benda war immerhin Bundesinnenminister. Es lag ein bisschen längere Zeit zwischen dem politischen Spitzenamt und dem Amtsantritt in Karlsruhe. Jutta Limbach war nicht so hochrangig angesiedelt als Politikerin wie Peter Müller, sie war nicht Ministerpräsidentin, sie war Justizsenatorin. Es ist schon ein Sonderfall bei Peter Müller. Ich kenne keinen anderen Spitzenpolitiker, der nach Karlsruhe ging und solange in einem politischen Spitzenamt tätig war.
Kapern: Heißt das, Herr Prantl, es wäre hilfreich gewesen, wenn Peter Müller noch etwas länger im politischen Abklingbecken verschwunden geblieben wäre?
Prantl: Ich denke, ja.
Kapern: Wie lange?
Prantl: Eine gewisse Distanz von drei, vier, fünf Jahren, sich aus der Parteipolitik herauszuziehen, aus den aktuellen Auseinandersetzungen herauszuhalten, dann zu sagen, möglicherweise sich auch wissenschaftlich wieder ein bisschen zu profilieren. Man kann schon auch die Frage stellen, hat er denn wirklich juristisch die Substanz, die man in Karlsruhe braucht. Er ist als Politiker hervorgetreten, daraus als Spitzenpolitiker, daraus rühren meine Skepsis und meine Zurückhaltung. Dass jemand vier Jahre lang Amtsrichter war vor langer, langer Zeit, ist keine juristische Qualifikation, die für das Bundesverfassungsgericht qualifiziert.
Ich sage es noch mal: Ein Politiker, der ja auch Rechtsthemen bearbeiten musste, ist per se nicht ungeeignet. Ein Spitzenpolitiker sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, dem Verdacht, den ich hege, dem Verdacht, den auch, glaube ich, ein großes Publikum hegt, er ist nicht unbefangen genug. Und die Besorgnis der Befangenheit, um dieses juristische Wort noch einmal zu sagen, reicht ja in einem normalen Gerichtsverfahren. Die Besorgnis der Befangenheit, die zur Ablehnung eines Richters reicht, im Zivilprozess und im Strafprozess, soll schon den Anschein der Voreingenommenheit vermeiden. Bei einem Spitzenpolitiker besteht dieser Anschein aber anhaltend.
Kapern: Aber es gibt doch auch einen Mechanismus dafür, wenn Peter Müller tatsächlich mal in die Situation kommen würde, über etwas urteilen zu müssen, an dem er selbst als Politiker beteiligt war. Es gibt doch ein Verfahren dafür, wie man mit solchen Befangenheitsverdächtigungen umgeht, nämlich dass sich dann ein Richter in einem konkreten Fall zurückzieht. Das heißt also, das ist doch gewissermaßen ein vorgesehenes Verfahren im juristischen Betrieb.
Prantl: Im konkreten Fall natürlich ja. Wenn er tatsächlich als Politiker mit einer ganz bestimmten Frage befasst war, die er dann entscheiden muss, ist ja völlig klar, dass er ausscheidet. Beim Spitzenpolitiker geht es mir um etwas anderes. Die Besorgnis der Befangenheit ist anhaltend gegeben, weil einer halt als Spitzenpolitiker in allen möglichen Angelegenheiten sich als Parteipolitiker profiliert hat. Und da ist zwischen dem unabhängigen Amt in Karlsruhe und dem Amt eines Ministerpräsidenten eine Distanz, ein Abklingbecken, in dem man einige Zeit sich befunden haben muss, notwendig, um schlichtweg den Verdacht, auch wenn er unberechtigt sein mag, abklingen zu lassen, hier Parteipolitik nach Karlsruhe zu tragen. Ich denke, dieses Gericht ist als oberste Instanz, als oberste Rechtsinstanz dieses Landes so wichtig, dass man sie dem Eindruck der Voreingenommenheit eines Verfassungsrichters nicht aussetzen darf.
Kapern: Sie haben eben davon gesprochen, dass Karlsruhe ein politischer Ort sei. Und gerade die letzten Urteile zur EU und zur Währungsunion haben ja viel Kritik auf sich gezogen. Da hat es dann geheißen, die Richter hätten eigentlich die politische Realität, die politischen existierenden Verfahren gar nicht genau genug im Blick gehabt. Muss Karlsruhe dann nicht viel mehr Politiker haben?
Prantl: Ich denke, jeder Richter ist Kraft seines Amtes letztendlich Politiker. Wenn ich über die Verfassung entscheide und frage, welches Gewicht haben Verfassungsprinzipien, welches Gewicht haben Grundrechte, treffe ich eine politische Entscheidung. Es geht ja nicht um mechanistische Rechtsregeln; es geht darum, dass ich Verfassungsgrundsätze ausfülle mit Leben, dass ich sie auf aktuelle politische Sachverhalte anwende. Es ist Politik, aber es darf nicht Parteipolitik sein in dem Sinne, dass ich die Position vertrete, die gerade die SPD, die CDU oder die FDP vertritt. Wenn ich die Entscheidung treffe auf der Basis der Verfassung, ob deutsche Soldaten in Afghanistan tätig sein dürfen. Und zur Grundlage meiner Entscheidung die deutsche Verfassung mache und das als Verfassungsrichter machen muss, treffe ich jetzt letztendlich eine politische Entscheidung auf der Basis der Verfassung, weil das natürlich politische Auswirkungen eminenter Art hat. Ob ich jetzt sage, stopp, das geht nicht, oder es darf so sein, ich bereite sozusagen der Politik die Bahn, um da zu sagen, darf die Politik diesen Weg gehen, oder darf sie ihn nicht gehen. Dieses Ja oder Nein zu sagen, ist natürlich Politik. Aber um es noch mal zu sagen: Ich habe etwas dagegen, wenn Parteipolitik da hingetragen wird, wenn das Publikum sagen muss, der Peter Müller vertritt ja diese Ansicht nur deswegen, weil die CDU diese Linie über viele Jahre hin geprägt hat. Und selbst wenn er die andere Meinung vertritt, die nicht CDU-Meinung ist, dann heißt es womöglich, er vertritt die andere Meinung nur deswegen, weil er zeigen muss, dass er unabhängig ist. Ich habe Schwierigkeiten damit.
Kapern: Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" heute Mittag hier im Deutschlandfunk. Herr Prantl, danke für das Interview und auf Wiederhören.
Prantl: Bitte schön. Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.