Donnerstag, 25. April 2024

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Erdbebensicheres Bauen in Italien
"Es hat bei den Vorschriften Fehler gegeben"

Bei dem Erdbeben in Mittelitalien seien viele Gebäude aufgrund falscher Vorschriften für erdbebensicheres Bauen eingestürzt, sagte DLF-Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich. Manche alten Häuser sollten besser gar nicht mehr als Wohnraum genutzt werden.

Dagmar Röhrlich im Gespräch mit Ralf Krauter | 31.10.2016
    Ein Foto der italienischen Feuerwehr zeigt das vom Erdbeben getroffene Dorf Castelluccio di Norcia in Umbrien am 31. Oktober 2016.
    Tausende Menschen sind nach dem Erdbeben in Mittelitalien obdachlos. Öffentliche Gebäude, Wohnhäuser und historische Stätten erdbebensicher zu machen, sei eine Mammutaufgabe, die Milliarden verschlingen werde, sagte Dagmar Röhrlich im DLF. (ANSA / Italian Fire Department / dpa picture alliance)
    Ralf Krauter: Bei mir im Studio ist die Wissenschaftsjournalistin, studierte Geologin und Erdbeben-Fachfrau Dagmar Röhrlich. Welche geologischen Kräfte sind das, die die Region um den Apennin immer wieder erzittern lassen?

    Dagmar Röhrlich:
    Wenn man so will, zerrt und drückt und reißt die Plattentektonik aus allen Richtungen an Italien. Geologisch und tektonisch ist das Land so kompliziert, wie man es sich nur denken kann. Das Beben am Sonntag ereignete sich wieder im Apennin, wo unterschiedliche Kräfte zusammentreffen:
    Da ist zum einen die Kollision zwischen der Afrikanischen und der Eurasischen Platte, die weiter im Norden die Alpen auffaltet. Der Apennin selbst verdankt seine Existenz einer anderen Plattenkollision, nämlich die zwischen der Adriatische Mikro-Platte und Eurasien.
    Er wird in diesem Spannungsfeld regelrecht auseinandergezogen, und dadurch sind zahlreiche Störungen entstanden. Das Beben vom 30. Oktober war das bislang stärkste einer Serie, die am 24. August mit dem Beben von Amatrice einsetzte.
    "Solche Bebenserien gibt es dort des Öfteren"
    Krauter: Sind solche Bebenserien in dieser Region selten?
    Röhrlich: Nein, solche Serien gibt es dort leider des Öfteren. Beispiel 1703 - damals erschütterten drei Beben innerhalb weniger Monate die Region, das stärkste mit einer Magnitude von etwa 6,9. Wenn wir in der jüngeren Vergangenheit bleiben: Zwischen September und November 1997 erschütterte eine Serie von acht Beben stärker als Magnitude 5 innerhalb von zwei Monaten den Zentralapennin.
    Elf Menschen starben, 80.000 wurden obdachlos. Bei einem dieser Beben wurde die Basilika das Franz von Assisi schwer beschädigt. Dann ist da das l‘Aquila Beben aus dem April 2009, bei dem mehr als 300 Menschen starben und 55.000 Menschen obdachlos wurden. Das Beben löste etliche Erdrutsche aus und ihm folgten fünf Nachbeben größer als 5.0.
    Das Amatrice-Beben aus dem August dieses Jahres hat sozusagen die Lücke zwischen dem von 1997 und 2009 gefüllt. Die vier Beben der vergangenen Woche konnten wahrscheinlich deshalb so stark werden, weil die Spannungsveränderungen im Untergrund nun eine andere Störung aktiviert haben, die bislang ruhig geblieben war.
    Krauter: Was schätzen die Seismologen - könnte es jetzt vorbei sein?
    Röhrlich: Das weiß man immer erst hinterher. Wir erleben gerade eine Serie von komplex miteinander zusammen hängenden Erdbeben. Es könnte durchaus gleich starke Ereignisse geben. Dass es noch stärkere gibt, halten die Geologen vom USGS für nicht sehr wahrscheinlich - aber ausschließen lässt sich das nicht. In Italien ereignete sich das bislang stärkste Beben 1980 im Süden des Landes. Es war ein 6.9-Beben in Irpinia.
    "Nicht Erdbeben töten Menschen, sondern es sind die Gebäude"
    Krauter: Warum sind die Beben dort immer so zerstörerisch?
    Röhrlich: Aufgrund der tektonischen Situation sind die Bebenherde in dieser Zone flach und damit auch besonders zerstörerisch: Flache Bebenherde erzeugen hohe Bodenbeschleunigungen, und die ist entscheidend, wenn es um die möglichen Schäden an Gebäuden geht. Außerdem kann die Oberfläche bei geringer Herdtiefe aufreißen, und es kommt leicht zu Erdrutschen, was weitere Schäden verursacht. Aber das ist nur die eine Seite. Da gibt es noch eine andere, sehr viel entscheidendere - die bauliche.
    Krauter: Norcia sollte ja durch Nachrüstungen gut gewappnet gewesen sein?
    Röhrlich: Drohnenaufnahmen zeigen, dass es funktioniert hat. Zwar sind auch verstärkte Gebäude beschädigt worden, aber sie sind nicht zusammengebrochen - und das ist das Ziel des erdbebensicheren Bauens: das Zusammenbrechen verhindern, damit die Bewohner nicht erschlagen werden. Denn es gilt der alte Geologensatz: Nicht Erdbeben töten Menschen, sondern es sind die Gebäude.
    Krauter: Wie lassen sich Gebäude verstärken?
    Röhrlich: Viele der bestehenden Gebäude in der Region sind zwei bis drei Stockwerke hoch und bestehen aus Ziegel oder Natursteinen. Eine klassische und recht preiswerte Methode, sie zu verstärken, sind Anker, die in der obersten Etage eingezogen werden. Die verhindern, dass sich die Wände bei einem Beben eigenständig in alle Richtungen bewegen. Sie verwandeln das Haus in so etwas wie eine Box, und damit ist das Gebäude schon einmal stabiler. Diese wurden bei vielen Gebäuden in Norcia angewandt.
    Eine andere besteht darin, dass man unter dem Dach einen Stahlbetonring um das Haus zieht und dann ein neues, leichtes Dach aufsetzt. Auch das führt zum Box-Verhalten. Eine moderne Methode setzt beispielsweise ein Hightech-Textilgeflecht aus Polypropylen- und Glasfasern ein. Die Folien werden rund um das Haus gezogen und dann verputzt oder mit einer Dämmung versehen. Auch dieses Verfahren hält das Gebäude zusammen.
    Und man muss auch einsehen, dass sich vielleicht nicht alles wird halten lassen können. Manche alten Häuser sollten einfach nicht mehr als Wohnraum genutzt werden, wenn sie zu gefährlich für ihre Bewohner sind.
    "Die besten Vorschriften nützen nichts, wenn sie nicht umgesetzt werden"
    Krauter: Hat Italien Vorschriften für erdbebensicheres Bauen?
    Röhrlich: Die gibt es, und die ältesten stammen aus dem Jahr 1974. Die Vorschriften wurden nach dem Molise-Beben 2002 verschärft, als bei einem 5,7er-Beben eine Schule zusammenbrach und mehr als zwanzig Kinder erschlug. Doch erstens nützen auch die besten Vorschriften nichts, wenn sie nicht umgesetzt werden. Das ist leider ein Problem.
    Und zweitens hat es bei den Vorschriften auch Fehler gegeben. So wurden Häuser in Italien klassischerweise mit leichten Dächern erbaut. Die Vorschriften von 1974 sahen jedoch Betondächer vor. Aber die sind schwer und drücken das Haus bei einem Beben regelrecht auseinander. Viele Kollapse neuerer Häuser sind auf diese falsche Vorschrift zurückzuführen.
    "Italien ist von Nord bis Süd ein Erdbebengebiet"
    Krauter: Nun sind historische Gebäude eingestürzt, die viele Erdbeben überstanden haben.
    Röhrlich: Dabei kommen gleich mehrere Faktoren ins Spiel. So hat es durchaus Versuche gegeben, die alten Gebäude zu verstärken. Alte und neue Materialien sind gemischt worden. Dabei hat es Fehler gegeben. Außerdem lässt sich nie genau vorhersagen, was im Ernstfall tatsächlich passiert. Außerdem müssen alle Gebäude ständig instandgehalten werden. Auch das ist nicht unbedingt passiert - und das kann sich rächen.
    Außerdem war dieses Beben flach und stark, das heißt, die Bodenbewegungen waren beträchtlich. Für ein vorgeschwächtes Gebäude, das im Lauf der Jahrhunderte etliche Beben mehr oder weniger gut überstanden hat, können die Wellen diesmal einfach zu stark gewesen sein.
    Krauter: Was müsste geschehen?
    Röhrlich: Derzeit passiert so viel, dass diese Beben vielleicht der Weckruf werden, den die Kalifornier 1994 mit dem Northridge-Beben erhalten haben. Italien ist von Nord bis Süd ein Erdbebengebiet - eines mit alter und auch historisch wertvoller Bausubstanz und einer empfindlichen Infrastruktur.
    Am dringlichsten müssen Gebäude wie Krankenhäuser, Schulen oder Brücken erdbebenfest gemacht werden - einmal wegen der Opfer und zum anderen, damit im Ernstfall Hilfsmaßnahmen schnell und gezielt anlaufen können. Dann sollte man sich den historischen Gebäuden zuwenden und den Wohnhäusern.
    Es ist eine Mammutaufgabe, die Milliarden verschlingt, aber wenn man nichts macht, werden die schrecklichen Bilder wohl immer wieder einlaufen. In Kalifornien ist nach dem Northridge-Beben sehr viel passiert. Das heißt nicht, dass es beim Big One keine Zerstörungen geben wird, aber man wird sehr viel besser durch die Katastrophe kommen als zuvor.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.