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Erdogan-Gegner gründen Gezi-Partei

Fast ein halbes Jahr ist seit den Massenprotesten gegen die konservative Regierung Erdogans in der Türkei vergangen. Wer das Auftreten des Ministerpräsidenten jüngst verfolgte, der könnte meinen, die Demonstranten seien gescheitert. Dennoch: Gegner haben sich in der neu gegründete Gezi-Partei formiert.

Von Luise Sammann | 11.11.2013
    Vor fünf Monaten eskalierte die Gewalt in Instanbul: Die Polizei setzte Wasserwerfer gegen Demonstranten ein.
    Vor fünf Monaten eskalierte die Gewalt in Instanbul: Die Polizei setzte Wasserwerfer gegen Demonstranten ein. (picture alliance / dpa / EPA / Sedat Suna)
    "Was bei all dem hier herauskommen muss, ist eine vernünftige Opposition! Wenn es so eine Bewegung wie diese hier geben kann, dann muss daraus auch irgendwie etwas Langfristiges werden."

    Es war nicht mehr als ein Wunsch, den diese Istanbuler Demonstrantin im Juni 2013 stellvertretend für viele aussprach. Tagelang zog sie mit Tausenden anderen in den Gezi-Park, um gegen die Politik von Premier Recep Tayyip Erdogan zu demonstrieren.

    Fünf Monate später ist aus dem Wunsch Wirklichkeit geworden. Die Gezi-Partei will in Zukunft in Ankara mitbestimmen.

    "Alle haben darauf gewartet, aber es war niemand da, der die Erwartung erfüllen wollte. Da waren all diese Fragen: Wie sollen wir eine Partei gründen, in welchem Rahmen, auf welcher Basis?"

    Erklärt der Schauspieler Theoman Kumbaracibasi, einer der Gründer der Gezi-Partei.

    "Solche Diskussionen kann man ewig führen. Aber wir haben jetzt ein Dach gebaut und erwarten, dass alle, die den Geist von Gezi gespürt haben, sich darunter vereinen. Diese Partei wird erst durch ihre Mitglieder erfolgreich werden, genau wie der Gezi-Park im Sommer erst durch die Proteste der vielen Menschen zum Symbol wurde."

    Ein Rockmusiker und ein Schauspieler, Rentner und Studenten, Professoren und Handwerker: Schon das Gründungsteam der neuen Partei sagt viel über ihren Charakter aus. Ihre politische Laufbahn beginnt sie dabei ohne ein fertiges Parteiprogramm. Nicht etwa aus Ideenlosigkeit, sondern weil das Teil des Konzepts ist: Das Programm sollen die Mitglieder ausarbeiten. Immerhin: 30.500 Türken bekundeten bereits per Facebook ihre Begeisterung.

    Kritik an der Partei aus den eigenen Reihen
    Doch kaum ist die Partei gegründet, da hagelt es auch schon Kritik. "Im Gezi-Park haben wir die politischen Parteien bekämpft, Gezi stand über den Parteien", schreibt ein Kritiker im Internet. Und ein anderer meint gar: "Den Namen Gezi als Parteinamen zu missbrauchen, gleicht einem Dolchstoß in den Rücken der ganzen Bewegung."

    Nursun Gürbüz, Pressesprecherin der Partei, zuckt mit den Schultern. Damit haben wir gerechnet, sagt sie selbstbewusst:

    "Im Zentrum der Kritik steht meist, dass wir die Opposition gegen Erdogan spalten und damit schwächen, denn viele sehen unsere Rolle in der Opposition. Aber wir haben diese Partei gegründet, weil wir nicht gut regiert werden. Wir wollen nicht in die Opposition!"

    Schon in fünf Monaten wird sich zeigen, ob sich die Hoffnungen der Parteigründer erfüllen. Dann finden in der Türkei Kommunalwahlen statt.

    "Ich glaube nicht, dass die Gezi-Partei so kurzfristig eine Chance hat."

    Glaubt der Istanbuler Politikwissenschaftler Yüksel Taskin.

    "Aber sie könnte Menschen an die Politik heranführen und ihnen langfristig helfen, politische Erfahrungen zu sammeln."

    In einer Gesellschaft, in der sich das Demokratieverständnis von Regierung und Bevölkerung bisher allein auf den Urnengang beschränkt, und in der weniger als vier Prozent der jungen Menschen in einer Partei aktiv sind, wertet der Politikwissenschaftler das bereits als Erfolg. Auch, wenn Umfragen darauf hindeuten, dass die AK-Partei bei den Wahlen im März 2014 erneut haushoch gewinnen wird. Yüksel Taskin:

    "Ich gebe ihnen ein einfaches Beispiel: Nach 1968 wurde der vorher kritisierte Charles de Gaulle in Frankreich wieder gewählt. Mit überwältigender Mehrheit sogar. Kein Wandel also. Aber in den dann folgenden zehn Jahren bahnte sich dennoch eine neue politische Generation ihren Weg."


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